Weihnachten 2017

Das erfreulichste Ereignis des nun ablaufenden Jahres war ohne Zweifel die Goldene Hochzeit meiner Eltern, die wir im Mai feiern durften. Dieser sonnige und warme Frühlingstag wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Mein Vater, der in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag erlebt hat, war lange Zeit skeptisch, wenn er auf seinen 50. Hochzeitstag angesprochen wurde. Doch nun war es soweit, und es war ein glücklicher Tag. Dazu trug auch bei, dass meine Neffen dabei waren, nach etlichen Jahren ohne Kontakt. Die beiden, im Alter genau zwischen unseren beiden Söhnen, sind inzwischen zu jungen Männern herangewachsen, die schon ihre ersten Schritte ins Berufsleben gesetzt haben.

Für mich sind in diesem Jahr die Chancen, einmal in ferner Zukunft meine Goldene Hochzeit feiern zu können, drastisch gesunken. Am 2. Januar teilte mir meine Frau mit, dass sie nicht mehr mit mir zusammenleben will. Nach dem ersten Schock habe ich schnell beschlossen, das Beste aus der neuen Lage zu machen, den Schaden zu begrenzen und eine mögliche Katastrophe abzuwenden. Und das ist uns bis jetzt auch ganz gut gelungen.

Es ist etwa so wie im Gefangenendilemma: Das Beste ist es, wenn beide Partner miteinander kooperieren. Verhält sich einer unkooperativ, dann verlieren beide. So geschieht es häufig bei Trennungen. Der Spieltheorie zufolge lässt sich das nur vermeiden, wenn das Spiel offen bleibt – wenn die Zahl der Runden nicht begrenzt ist. Es muss also darum gehen, das Spiel offen zu halten. Uns hat bis jetzt wohl ein gewisser Pragmatismus geholfen, die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Es wäre schön, wenn das so bliebe. Ich bin einigermaßen optimistisch.

Zu Anfang des Jahres steckten wir noch mitten in der Sanierung unserer Häuser, die neuen Mieter zogen dann zum Februar und März ein. Da war noch etliches zu regeln, und meine Sorge war zudem, unsere finanziellen Verhältnisse zu stabilisieren und auf die neue Situation anzupassen. Am Ende dieses Jahres scheint das erreicht. Die neuen Zinsvereinbarungen sind unterschrieben, die Häuser sollten bis 2028 schuldenfrei sein.

Meine Frau ist Anfang Februar in eine neue Wohnung gezogen, nicht weit von hier. Meine Söhne haben viel darüber gelernt, was in Haus und Garten zu tun ist. Im August ging unser Großer dann aus dem Haus, um sein Studium aufzunehmen. Seitdem habe ich ihn nur noch zweimal gesehen, als wir das 60-jährige Ordensjubiläum meiner Tante und den Geburtstag meiner Mutter gefeiert haben. Erst zu Weihnachten wird er wieder für ein paar Tage hier sein.

Seit Ende August leben also unser Jüngster und ich zu zweit in diesem schönen, großen Haus, das wir gemietet haben. Es gab also in diesem Jahr doch einiges, an das wir uns erst gewöhnen mussten. Den Dänemark-Urlaub haben wir diesmal in zwei Etappen verbracht: in der ersten Woche meine Söhne und ich, in der zweiten Woche unser Jüngster und meine Frau. Eigentlich wollte unser ältester Sohn auch zwei Wochen in Aarhus bleiben, aber dann bekam er kurzfristig eine Zusage für seinen Studienplatz und musste deshalb vorzeitig abreisen, um die Formalitäten zu regeln. Aarhus war in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas und auch unabhängig davon eine Reise wert. Wir hatten dort ein wunderbares Ferienhaus, in dem wir uns sehr wohl gefühlt haben.

Unser Jüngster hat im Sommer nach der 10. Klasse seinen ersten Schulabschluss gefeiert, mit einer Abschlussfeier in der Schule und einer Party für Schüler und Eltern. Es war schon fast wie eine Abifeier, die meisten Mädchen trugen lange Kleider, die Jungen Anzüge oder Sakko. Nach den Sommerferien haben nun für ihn die drei Jahre Oberstufe begonnen, in einer neu zusammengesetzten Klasse.

Beruflich lief in diesem Jahr alles rund. Ich habe eine Reihe von Büchern auf den Markt gebracht und zu diesem Zweck für meinen Arbeitgeber einen kleinen Verlag gegründet. Ich schreibe auch selbst regelmäßig und habe viel Freude daran. Die Firma, für die ich arbeite, ist Anfang des Jahres an einen großen IT-Konzern verkauft worden. Es ist klar, dass sich daraus in den nächsten Jahren diverse Veränderungen ergeben werden.

Nimmt man die letzten Jahre zusammen, so zeigt sich, dass kaum ein Lebensbereich ohne große Veränderungen geblieben ist. Es fühlt sich wie ein Neustart an, mit allen Konsequenzen. Unter dem Strich haben die verschiedenen Neuanfänge jede Menge Energie freigesetzt, die zuvor gebunden war. Auch schmerzhafte Veränderungen haben ihre guten Seiten, obwohl das nicht immer leicht zu erkennen ist. Um es mit einem Song von Mark Forster zu sagen: „Egal was kommt, es wird gut, sowieso. Immer geht ne neue Tür auf, irgendwo. Auch wenn’s grad nicht so läuft, wie gewohnt. Egal, es wird gut, sowieso.”

Paulus schreibt im 1. Brief an die Korinther (13,13): „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.“ Und Papst Benedikt notierte vor zwölf Jahren in seiner Enzyklika „Deus caritas est“:

Die Hoffnung artikuliert sich praktisch in der Tugend der Geduld, die im Guten auch in der scheinbaren Erfolglosigkeit nicht nachläßt, und in der Tugend der Demut, die Gottes Geheimnis annimmt und ihm auch im Dunklen traut. […] Der Glaube, das Innewerden der Liebe Gottes, die sich im durchbohrten Herzen Jesu am Kreuz offenbart hat, erzeugt seinerseits die Liebe. Sie ist das Licht — letztlich das einzige –, das eine dunkle Welt immer wieder erhellt und uns den Mut zum Leben und zum Handeln gibt.

Frohe, gesegnete Weihnachten und ein glückliches Jahr 2018!

Lieben durch das Scheitern hindurch

Ansprache zur Goldenen Hochzeit

Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Wer kennt diesen Spruch nicht? Er enthält einen wahren Gedanken: Auch wenn es schrecklich sein mag, etwas zu beenden, so ist es immer noch nicht so schrecklich wie damit weiterzumachen.

Das Scheitern kann befreiend sein, auch wenn es schrecklich ist. Der einmalige Schmerz des Scheiterns ist nicht so groß wie der dauerhafte Schmerz des Weitermachens. Schwer ist nur, das Scheitern zu erkennen und sich einzugestehen, gescheitert zu sein.

Denn sich das Scheitern einzugestehen ist schmerzhaft. Wir neigen deshalb dazu, uns das Scheitern nicht einzugestehen und auch unter Schmerzen so lange weiterzumachen, bis es gar nicht mehr geht – bis der Schmerz des Weitermachens größer wird als der Schmerz des Scheiterns.

Das Scheitern hat keinen besonders guten Ruf. Wer gescheitert ist, dem ist das irgendwie unangenehm. Er spricht nicht gerne darüber. Es stellt sich sofort die Frage nach der Schuld. Was habe ich falsch gemacht? Was hätte ich besser machen müssen? Wie hätte ich das Scheitern vermeiden können?

Ich möchte heute über die positiven Seiten des Scheiterns sprechen. Scheitern setzt Energie und Zeit frei, die bis jetzt gebunden war. Es hat etwas Befreiendes, nicht länger ein totes Pferd zu reiten, sondern abzusteigen und sich nach neuen Transportmitteln umzusehen.

Scheitern ist geradezu die Voraussetzung für Veränderung. Scheitern schafft Raum für Neues. Im Scheitern kommt Gott ins Spiel. Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark, sagt Paulus im zweiten Korintherbrief (2 Kor 12,10). Erst wenn wir gescheitert sind, kann Gott rettend eingreifen.

Gottes Gnade erweist ihre Kraft in der Schwachheit (2 Kor 12,9). Unsere Schwachheit schafft Platz für die Kraft Christi (2 Kor 12,9). Durch unser Scheitern sind wir zurückgeworfen auf uns selbst und auf Gott. Scheitern macht uns frei dafür, von Neuem auf Gottes Wort zu hören und nach dem Willen Gottes zu fragen.

Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann scheitern wir dauernd in unserem Leben. Im Kleinen wie im Großen. Wie oft seid Ihr in den 50 Jahren Eurer Ehe gescheitert! Wie vieles ist misslungen, lief nicht nach Plan, kam ganz anders als gewünscht und gedacht!

Und doch sitzt Ihr heute hier, habt Euer Eheversprechen erneuert und könnt heute diesen großen Tag mit uns feiern. Ihr habt es bis hierhin geschafft, weil in jedem Scheitern ein Neubeginn steckt, weil Ihr immer wieder von vorn begonnen habt.

Schon die Feier Eurer Hochzeit vor 50 Jahren war überschattet vom Tod des Brautvaters nur wenige Tage zuvor. Die Feier Eurer Silberhochzeit vor 25 Jahren musste um drei Monate verschoben werden, weil der Silberbräutigam ins Krankenhaus musste.

Vor zehn Jahren starb Eure Tochter, unsere Schwester an den Folgen ihrer Krebserkrankung. Der Tod ist das ultimative Scheitern unseres Lebens. Der Tod ist endgültig und nicht umkehrbar. Schauen wir auf das Kreuz. Jesus Christus ist am Kreuz gescheitert. Nach den Maßstäben der Welt ist er gescheitert.

Und doch glauben wir, dass er am Kreuz gesiegt hat. Er hat am Kreuz unser Scheitern besiegt. Und er hat in seiner Auferstehung den Tod besiegt. Dieses Paradox bringt Psalm 118 auf den Punkt: Der Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden. (Ps 118,22)

Die Bauleute in diesem Bild, das sind handfeste Leute, Maurer. Sie würden niemals einen Stein vermauern, der nicht ganz in Ordnung ist. Solche Steine werfen sie weg. Wie kann solch ein Stein, den kein Maurer verarbeiten würde, plötzlich zum Eckstein werden?

Psalm 118 liefert die Erklärung: Das hat der Herr vollbracht, vor unseren Augen geschah dieses Wunder. (Ps 118,23) Es ist ein Wunder. Es geschah vor unseren Augen. Und es war Gott der Herr, der an Jesus Christus dieses Wunder vollbracht hat. Er verwandelt das Scheitern in einen Sieg. Der weggeworfene Stein wird zum Eckstein, und damit auch zum Stein des Anstoßes für jene, die nicht glauben (1 Petr 2,7-8).

Das ist Ostern. Das ist die Auferstehung. Das ist der Kern des Glaubens. Das ist der Schlüssel zur Deutung der Schrift. In der Lesung, die wir gerade gehört haben, hieß es: Mit ganzem Herzen vertrau auf den Herrn, bau nicht auf eigene Klugheit; such ihn zu erkennen auf all deinen Wegen, dann ebnet er selbst deine Pfade. (Spr 3,5-6)

Wenn wir auf Jesus Christus vertrauen, statt auf unsere eigene Klugheit zu bauen, wenn wir ihn zu erkennen suchen, dann macht er den Weg frei. Dann verwandelt er unser Scheitern in Gelingen. Nie sollen Liebe und Treue dich verlassen, so hieß es in der Lesung (Spr 3,3). Liebe und Treue sind nicht begrenzt, weder zeitlich noch inhaltlich.

Die Liebe der Eheleute zueinander und die Liebe der Eltern zu den Kindern ist ein Bild der Liebe Gottes zu den Menschen. Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe, hören wir im Johannesevangelium (Joh 15,12). Liebe und Treue sind dauerhaft und an keine Bedingungen geknüpft. Sie sind bedingungslos.

Wo wir schwach sind, wo wir scheitern, da kommt Gott uns zu Hilfe. Die Liebe knüpft an unserer Schwachheit an. Wo Eheleute scheitern, da gilt es mutig voranzuschreiten – nicht dem Scheitern nachtrauern, sondern es in die Hände Gottes legen und neue Wege gehen.

Bleibt in meiner Liebe! So sagt es uns das Johannesevangelium (Joh 15,9). In der Liebe bleiben, auch im Scheitern und in der Schwachheit. Lieben durch das Scheitern hindurch. Das Scheitern und die Schwachheit in Liebe ertragen, und die durch das Scheitern freigewordene Kraft und Zeit in Liebe verwandeln.

Wir müssen also unsere Schwachheit, unser Versagen und unser Scheitern annehmen, damit Gott uns zu Hilfe kommen kann. Und dann bleiben wir nicht bei unserer Schwachheit, unserem Versagen und unserem Scheitern stehen, sondern Gott schenkt uns neue Kraft.

Der Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden. Das hat der Herr vollbracht, vor unseren Augen geschah dieses Wunder. Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; wir wollen jubeln und uns an ihm freuen. (Ps 118,22-24)

Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und eure Gedanken in der Gemeinschaft mit Christus Jesus bewahren. (Phil 4,7)

Amen.

Weihnachten 2016

Das nun zu Ende gehende Jahr hat uns große Veränderungen gebracht. Die wohl größte Veränderung war unser Umzug in den Nachbarort. Seit September wohnen wir in Hollern-Twielenfleth – etwas weiter weg von Hamburg, dafür etwas näher an Stade. Die Kinder können nun mit dem Fahrrad zur Schule und zur Arbeit fahren.

Wir hatten schon länger an einen Umzug gedacht. In diesem Jahr haben wir endlich Nägel mit Köpfen gemacht, nachdem wir ein ungewöhnliches Haus in ruhiger Lage gefunden haben, das uns sofort gefallen hat. Nach 18 Jahren im eigenen Haus in Steinkirchen wohnen wir jetzt wieder zur Miete. Unsere beiden Häuser dort werden gerade saniert und sind ab Februar/März bereits vermietet.

Unser Großer hat in diesem Jahr sein Abitur gemacht (Note 1,6) und im August seinen Bundesfreiwilligendienst im Lebenshilfe-Kindergarten angetreten. Er bleibt uns also auf jeden Fall noch bis zum nächsten Sommer erhalten. Unser Jüngster hat sein erstes Jahr in der neuen Schule mit Erfolg beendet und strebt nun in der zehnten Klasse seinen erweiterten Realschulabschluss an, um anschließend in der Oberstufe das Abitur ansteuern zu können.

Im Juli, einen Tag nach ihrem 95. Geburtstag, ist Oma Emmi gestorben, die Großmutter meiner Frau. Sie hatte zuletzt im Altenheim in Bad Lauterberg gelebt, wo sie nun auch begraben liegt. Es war ein regnerischer Sommertag, an dem wir sie im kleinsten Kreis beerdigt haben.

Am 1. Januar 2016 hatte ich den Vorsatz gefasst, in diesem Jahr mehr zu schreiben und mehr zu lesen. Das hat auch so einigermaßen funktioniert, vor allem was den ersten Teil angeht. Denn im Sommer konnte ich nach zehn Jahren die Verantwortung für die jährlich stattfindende Konferenz abgeben, für die ich bis dahin zuständig war. In meiner neuen Rolle gehört Schreiben wieder zu meinen Haupttätigkeiten. Das macht mir viel Freude.

Im Sommer waren wir alle gemeinsam zwei Wochen auf Mallorca, zum ersten Mal überhaupt. Uns hat die Insel sehr begeistert, und wir ahnen, warum sie so ein außergewöhnlich beliebtes Urlaubsziel ist. Dabei hat uns Nordlichtern die mediterrane Sonne und die Sommerhitze auch einigermaßen zu schaffen gemacht. Wahrscheinlich sind Frühjahr oder Herbst für uns die besseren Jahreszeiten.

Für 2017 planen wir nun erstmals seit langem keinen Familienurlaub mehr. Meine Frau und ich wollen nach genau zwanzig Jahren wieder einmal einen Sommerurlaub zu zweit verbringen. Damals waren wir auf Korsika, genau genommen allerdings waren wir damals schon zweieinhalb. Wohin im nächsten Jahr die Reise gehen soll, wissen wir noch nicht.

Die Veränderungen, die ich oben so lapidar beschrieben habe, haben uns sicher einige Kraft gekostet. 2016 war ein anstrengendes Jahr, vor allem die zweite Hälfte nach dem Urlaub. Wir haben uns auch öfter gefragt, ob das wohl alles gutgehen wird. Doch vom Ende her gesehen fühlt sich alles gut an.

Wir fühlen uns hier im neuen Haus sehr wohl, das meiste ist inzwischen eingerichtet, und das Projekt Sanierung und Vermietung ist auch auf einem guten Weg. Wenn Anfang des neuen Jahres die Bauarbeiten abgeschlossen und die Mieter eingezogen sind, dann können wir das Thema wohl erst einmal abhaken.

Die Weihnachtspause fällt in diesem Jahr recht kurz aus. Meine Frau muss auch zwischen Weihnachten und Silvester arbeiten, unser Großer und ich haben nur etwas mehr als eine Woche frei. Nur der Jüngste kann zweieinhalb Wochen Weihnachtsferien genießen.

„Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mit uns.“ So gibt Matthäus (1,23) die Verheißung des Propheten Jesaja (7,14) wieder. Die Christen haben dieses Wort immer auf Jesus Christus bezogen. Er ist das Zeichen, das der Prophet angekündigt hat.

Und der Name „Gott ist mit uns“ ist Programm. In Jesus Christus kommt Gott selbst zu uns, wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich. Etwas Größeres als dies kann kein Mensch feiern, mit einer Ausnahme nur – nämlich Leiden, Tod und Auferstehung Jesu, was wir zu Ostern feiern.

„Diese beiden Punkte sind ein Skandal für den modernen Geist“, bemerkt Joseph Ratzinger im Prolog zu „Jesus von Nazareth“. Es ist im Grunde erstaunlich, dass Weihnachten heute so eine große Bedeutung auch für Menschen hat, die gar nicht an das Weihnachtsereignis glauben. Konsequent wäre ja dann, Weihnachten nicht zu feiern.

Doch wäre die Welt ohne Gott, der in einem kleinen Kind zu uns kommt, nicht ein trauriger und trostloser Ort? Gerade zu Weihnachten ist diese Leere nicht leicht auszuhalten, und umgekehrt: Die Fülle des Mensch gewordenen Gottes ist der wahre Grund der Weihnachtsfreude. Möge jeder, der nun Weihnachten feiert, dies spüren.

Frohe, gesegnete Weihnachten und ein glückliches Jahr 2017!

Weihnachten 2015

Im Sommer 1989 war ich mit drei Freunden, Zelt und Rucksack in Ungarn unterwegs. An diese Reise musste ich in diesem Jahr mehr als einmal denken. Zuerst, als wir uns kurz nach Ostern von einem dieser Freunde verabschieden mussten, der an Krebs gestorben war. Die Trauerfeier war sehr von Dankbarkeit geprägt für alles Gute, das war. Ein großer Trost, so erschien es mir.

Und dann, als im Spätsommer die Bilder von Flüchtlingen zu sehen waren, die über Ungarn nach Deutschland kamen. Das ungarische Loch im Eisernen Vorhang war 1989 der Anfang vom Ende der DDR. Diesmal liegen die Dinge komplizierter. Der Unterschied entspricht etwa dem zwischen einem Deichbruch im Binnenland und einem an der Nordsee. Im Binnenland ist die nachfließende Wassermenge begrenzt, an der Nordsee quasi unbegrenzt.

„Keen nich will dieken, de mutt wieken“, sagt man hier im Norden. Wer nicht will deichen, der muss weichen. Mit der Mauer gab die DDR im November 1989 ihre Staatlichkeit auf. Hoffen wir, dass der Zusammenbruch der europäischen Grenzen in diesem Jahr sich wie damals zum Guten wenden lässt.

Dabei ist unsere christliche Berufung, den Menschen, die zu uns kommen, mit Barmherzigkeit zu begegnen und alles zu tun, was in unserer Macht steht, um ihre Not zu lindern. Dies scheint mir, wie so vieles, ein echter Kraftakt zu werden.

Was sollen wir also tun? Diese Frage stellen die Leute an Johannes den Täufer. „Er antwortete ihnen: Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines davon dem, der keines hat, und wer zu essen hat, der handle ebenso.“ (Lk 3, 11)

Nächstenliebe ist immer konkret. Sie richtet sich an genau einen Nächsten, nicht an eine mehr oder weniger große Gruppe. Papst Franziskus hat in diesem Jahr alle katholischen Gemeinden und Gemeinschaften dazu aufgerufen, jeweils genau eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen. Das ist ein gutes Beispiel für eine sehr konkrete und zugleich relativ einfach umsetzbare Hilfe. Würden alle, die er damit angesprochen hat, dieser Aufforderung folgen, dann wäre schon viel gewonnen.

Viel Kraft hat uns auch in diesem Jahr die Sorge um meine Schwiegermutter gekostet. Es ist nicht leicht, ihr dabei zusehen zu müssen, wie sie die nötige Hilfe anzunehmen verweigert. So schränkt sie ihr Leben unnötigerweise immer weiter ein. Dabei steht so vieles bereit, was helfen könnte. Eine Depression ist eine teuflische Krankheit. Uns als Angehörigen bleibt nichts anderes übrig als uns abzugrenzen, um nicht selbst Schaden zu nehmen.

Unser Jüngster hat in diesem Sommer die Schule gewechselt. Sein Ziel bleibt das Abitur. Nach der dritten Frühjahrskrise in Folge hat er zwar wieder die Versetzung geschafft und ist nun in der neunten Klasse. Doch waren wir uns einig, dass eine Veränderung nötig war. Er hat einen guten Start in der neuen Schule erwischt, allerdings sind mit dem Wechsel auch nicht alle Schulprobleme auf einen Schlag gelöst.

Unser Großer geht mit großen Schritten auf sein Abitur zu, das er im kommenden Jahr ablegen wird. Die ersten sechsstündigen Klausuren hat er bereits geschrieben. Derzeit bewirbt er sich um ein Freiwilliges Soziales Jahr für die Zeit nach dem Abi. Im Januar bereits hatte er seine Führerscheinprüfung bestanden und durfte seitdem in Begleitung seiner Eltern fahren. Seit seinem 18. Geburtstag im Oktober fährt er nun auch alleine.

Beruflich hat mich in diesem Jahr die Neuausrichtung meines Aufgabengebietes beschäftigt. Dieser Prozess war eine echte Herausforderung, blieb aber nicht ohne Erfolg, was mich nun einigermaßen positiv in die Zukunft blicken lässt – auch wenn es momentan gerade mal wieder nicht so rund läuft.

Im Sommer waren wir zum zweiten Mal hintereinander in Südtirol, in der gleichen Ferienwohnung wie vor einem Jahr. Diesmal war ein Freund unseres Ältesten dabei, was die Gruppendynamik etwas belebt hat. Südtirol hat uns wieder sehr begeistert. Es war sicher nicht der letzte Urlaub dort, auch wenn wir für nächstes Jahr ein anderes Reiseziel suchen.

Im Oktober durfte ich bei der Diakonenweihe meines ehemaligen Kurses das Kreuz in den Hildesheimer Dom tragen. Ein großes Zeichen – es ist Christus am Kreuz, um den es hier geht. Der Diakon wendet sich Christus zu, den er besonders in den Armen und Hilfsbedürftigen erkennt. Es war ein goldener Herbsttag, der mich mit großer Freude erfüllt hat. Als fast alle beteiligten Personen rund um den Altar im Dom standen, war für mich auch noch einmal klar zu sehen, dass es in dieser Konstellation keinen gangbaren Weg gab.

Im November haben wir den 75. Geburtstag meiner Mutter gefeiert. Wir können froh und dankbar sein, dass es ihr und auch meinem Vater, bei allen altersbedingten Einschränkungen, nach wie vor gut geht.

Zu Weihnachten werden wir nun wieder zu meinen Eltern fahren und ein paar Tage dort sein. Am zweiten Weihnachtstag trifft sich die Familie.

Frohe, gesegnete Weihnachten und ein glückliches Jahr 2016!

Über Ehe und Familie

In der Debatte um aktuelle Fehlentwicklungen des Eherechts – Stichwort Irland – werden zwei Aspekte stark vernachlässigt. Da wäre zum einen die Tatsache, dass es sich hier nur um den vorläufigen Schlusspunkt eines mindestens seit Jahrzehnten andauernden Prozesses handelt, der soziologisch als Individualisierung und empirisch als Auflösung von Ehe und Familie beschrieben werden kann. Und zum anderen die einfache Kennziffer für die Performance unserer Familienpolitik – die Geburtenrate.

1. Die meisten westlichen Gesellschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten das Konzept Ehe und Familie schrittweise aufgelöst. Statt ehelicher und familiärer Bande erhielt nun das Individuum den höheren Rang.

Ein wichtiger politischer Schritt dazu war die Adenauersche Rentenreform, die es erstmals breiten Gesellschaftsschichten wirtschaftlich ermöglichte, auf eigenen Nachwuchs zu verzichten und trotzdem im Alter abgesichert zu sein. Das Rentensystem sorgt seitdem zuverlässig für eine Umverteilung zulasten der Familien und zugunsten der Kinderlosen, die sich nicht an der Versorgung der heranwachsenden Generation beteiligen, selbst aber im Alter von den Kindern anderer Leute versorgt werden.

In die gleiche Zeit fällt die nahezu flächendeckende Verbreitung künstlicher Verhütungsmittel, die den Verzicht auf Nachwuchs auch praktisch erheblich erleichterte. Und nicht zu vergessen die faktische Freigabe der Abtreibung, der schwarzen Schwester der künstlichen Empfängnisverhütung. Seit Jahrzehnten wird ein signifikanter Teil der in einem Jahr gezeugten Kinder schon im Mutterleib getötet – illegal, aber straffrei.

Mit diesen Reformschritten war der Zusammenhang zwischen Ehe und Nachkommenschaft aufgeweicht und die frühere Ausnahme der Kinderlosigkeit auf dem besten Wege zum Normalfall. Das Akronym DINK war entstanden: double income, no kids, und im Alter eine höhere Rente als die Familienväter und -mütter sie bekommen, bezahlt von deren Kindern. Absurd, aber seit Jahrzehnten Realität.

Der nächste Schritt – nach der Schwächung der Generationenfolge – war die Lockerung des Ehebandes durch die Einführung und Erleichterung der Ehescheidung. Wirtschaftlich gesehen wurde dadurch die Versorgungsgemeinschaft einer Ehe zunehmend in Frage gestellt und tendenziell prekär. Die Ehe besteht nun nicht mehr bis zum Tod, sondern nur noch unter Vorbehalt der jederzeit möglichen Auflösung.

Kinder, einst Reichtum und Garant eines sorgenfreien Ruhestands, sind heute zum Armutsrisiko geworden und versorgen als Erwachsene über ihre Steuern und Rentenbeiträge statt ihrer eigenen Eltern vorrangig deren kinderlose Generationsgenossen. „Alleinerziehend“ ist zum Synonym für „von Armut bedroht“ geworden.

Denn geblieben ist, mit relativ geringen Einschränkungen, die lebenslange Versorgungspflicht zwischen Eltern und Kindern. Aber nur deshalb, weil der nimmersatte Sozialstaat sich bis jetzt nicht in der Lage sah, auch noch die Lasten zu tragen, die diese Versorgungsgemeinschaften immer schon selbstverständlich schulterten.

Das aktuelle Scheidungsrecht in Deutschland entlässt den zu versorgenden Teil einer früheren Ehe mittlerweile brutalst schnell ins wirtschaftlich Bodenlose, was einer weiteren Bestrafung für jeglichen Aufwand zur Versorgung und Betreuung der eigenen Kinder gleichkommt. Wer Kinder hat und sich um sie kümmert, wer dafür die Erwerbstätigkeit reduziert, der hat verloren. Das betrifft immer noch überwiegend Frauen – wäre aber auch nicht besser, wenn es umgekehrt wäre.

Geblieben ist auch noch das Ehegattensplitting, also die steuerliche Berücksichtigung der simplen Tatsache, dass von einem Familieneinkommen zwei Eheleute leben müssen. Deshalb werden sie so besteuert wie zwei Alleinstehende, die jeweils die Hälfte des Familieneinkommens erzielen. Einkommensunterschiede zwischen Ehepartnern führen somit nicht zu einer höheren Besteuerung. Der aufmerksame Leser sieht bereits, dass es sich nicht um einen Vorteil, gar eine Subvention handelt, sondern nur um die Vermeidung ungerechtfertigter Nachteile. Bereits seit 2013 gilt diese Regelung auch für eingetragene Partnerschaften.

2. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Geburtenrate wie ein Stein fiel und auf niedrigstem Niveau verharrt. Die Geburtenziffer in Deutschland schwankt seit Jahrzehnten um den Wert 1,4. Über dem Schwellenwert von 2,1 lag sie zuletzt 1970, also vor 45 Jahren.

Warum ist der Wert von 2,1 so wichtig? Eine Geburtenziffer von 2,1 beschreibt eine stabile Bevölkerungsentwicklung. Die Bevölkerung wächst nicht, aber sie schrumpft auch nicht. Die Alterspyramide, also der Bevölkerungsaufbau nach Altersgruppen, bleibt intakt. Es gibt genug junge Menschen, die an der Zukunft interessiert sind und die Alten versorgen können. Für ein äußerst wohlhabendes Land wie das unsere wäre das eine komfortable Situation.

Stattdessen fehlt uns seit 45 Jahren jeweils ein Drittel eines Jahrgangs. Die übrigen zwei Drittel müssen also die entsprechenden Lasten zusätzlich schultern. Und da die in den siebziger und achtziger Jahren nicht geborenen Kinder auch als Eltern ausfallen, befindet sich dieser Schrumpfungsprozess inzwischen in der zweiten Generation. Das ganze wird nur abgemildert durch die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge, die noch im Erwerbsleben stehen, und durch Einwanderung. Kann aber Einwanderung die Lösung sein? Nur zum Teil.

De facto wandern ja nicht die fehlenden Neugeborenen eines Jahrgangs zu, sondern überwiegend erwachsene Menschen. Sie füllen so quasi nachträglich die leeren Ränge ihrer Jahrgänge auf. Dadurch haben wir praktisch einen erheblichen Teil unserer generativen Leistung ins Ausland ausgelagert.

Wir importieren neben Rohstoffen nun auch Menschen, die anderswo geboren, aufgezogen und ausgebildet wurden. Gibt es dafür einen angemessenen Ausgleich oder ist das eine Form des Neo-Kolonialismus? Müssten wir nicht Geld in die Herkunftsländer der Einwanderer überweisen, um die dort entstandenen Aufwände abzugelten? Die Einwanderer selbst tun dies häufig, um ihre im Heimatland verbliebenen Familien zu unterstützen.

Neben solchen Fragen bleibt festhalten, dass die Überalterung der hiesigen Bevölkerung durch Zuwanderung nur abgemildert, aber keineswegs ausgeglichen wird. Zugleich muss die Frage erlaubt sein, was aus einer Gesellschaft wird, die sich selbst nicht mehr reproduzieren kann und stattdessen auf Menschenimporte angewiesen ist.

Man kann all diese Veränderungen unterschiedlich bewerten. Es gibt ja durchaus die von einem manischen Selbsthass getriebene Position, die ein langfristiges Aussterben der deutschen Bevölkerung für wünschenswert hält. Ähnlich werden auch Familie und Ehe als rückständig und zu überwindende Relikte früherer Zeiten betrachtet. Und Kinder als zu vermeidendes Armutsrisiko. Nach mir die Sintflut, scheint mir das dazu passende Motto zu sein.

Papst Benedikt hat in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag von der Ökologie des Menschen gesprochen. Die Familie gehört zur Natur des Menschen, und an der Geburtenziffer lässt sich ablesen, wie es darum bestellt ist. Die Geburtenziffer ist der KPI unserer Gesellschaft, wie das Bruttoinlandsprodukt der KPI unserer Wirtschaft ist.

All jene oben beschriebenen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte hätten also beweisen müssen, dass sie die Geburtenziffer nicht negativ, sondern positiv beeinflussen. Das Gegenteil ist der Fall. Was folgt nun daraus? Für die Verfechter dieser Art von Fortschritt bleibt nicht viel mehr als die Hoffnung, dass sich dieses seit 45 Jahren im freien Fall befindliche System irgendwann wieder stabilisieren wird. Nun, das wird es in jedem Fall. Die Frage ist nur, wie hart der Aufschlag sein wird und ob es noch rechtzeitig gelingt, die Reißleine zu ziehen und den Fallschirm zu öffnen – wenn es ihn denn gibt.

3. Vor diesem Hintergrund lässt sich die sogenannte Öffnung der Ehe für Menschen, die bis jetzt nicht die Ehevoraussetzungen erfüllen, auf den ersten Blick als Gegenbewegung zur Individualisierung lesen. Und tatsächlich ist die gegenseitige Übernahme von Verantwortung sicher zu begrüßen.

Schon bei der Einführung der eingetragenen Partnerschaft indes gab es auch Stimmen aus dem sich selbst für progressiv haltenden Lager, die alles Eheähnliche als reaktionär verdammen und daher ablehnen. Deren Ziel ist die Abschaffung von Ehe und Familie, und tatsächlich ist, wie wir bis jetzt gesehen haben, dieses Ziel schon zu gewissen Teilen erreicht.

Wenn Ehe nicht mehr mit Fortpflanzung verbunden ist, dann ist nicht mehr so leicht einzusehen, warum sie genau einem Mann und genau einer Frau vorbehalten sein soll. Und wenn diese Ehevoraussetzung erst einmal entfallen ist, steht sicher demnächst eine Debatte über Polygamie an.

Doch zunächst soll uns die Frage beschäftigen, was gegen diese neuerliche Änderung des Ehebegriffs spricht. Der Katechismus der Katholischen Kirche schreibt über homosexuell veranlagte Menschen:

Man hüte sich, sie in irgend einer Weise ungerecht zurückzusetzen. [KKK 2358]

Ist es also eine ungerechte Zurücksetzung, wenn Homosexuelle keine Ehe schließen können? Nun, wenn das Konzept Ehe bereits so weit aufgeweicht ist, dass Fortpflanzung nicht mehr zu einer Ehe gehört, nicht einmal potentiell oder gedanklich, dann könnte man das meinen.

Insofern haben eigentlich Adenauers Rentenreform, die Einführung künstlicher Verhütung und die Freigabe der Abtreibung die Voraussetzung dafür geschaffen, dass diese Frage überhaupt gestellt werden kann. Noch vor sechzig Jahren hätte man wahrscheinlich über das Ansinnen gelacht und zurückgefragt: Und wie wollt ihr Kinder bekommen?

Nun, auch dieses Problem ist durch Instrumente wie Leihmutterschaft (die in Deutschland verboten ist), künstliche Befruchtung oder Adoption inzwischen gelöst – allerdings nicht zum Wohle der Kinder, um das es in dieser ganzen Debatte ohnehin überhaupt noch nicht ging. Was dient eigentlich dem Wohl der Kinder?

Im Grunde ist unbestritten, dass es im Allgemeinen dem Wohl des Kindes dient, bei seinen biologischen Eltern aufzuwachsen. Bestritten wird dies nur von familienfeindlichen Ideologen, deren Zahl allerdings wächst. Aus dem Kindeswohl ergibt sich auch eine starke Pflicht für Eltern, eine Trennung nach Möglichkeit zu vermeiden.

Man wird kaum sagen können, dass die geforderte Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare das Kindeswohl befördert. Bestenfalls kann es eine Art zweitbeste Lösung sein, dass Kinder getrennt von mindestens einem Elternteil aufwachsen, wie es in solchen Konstellationen der Fall wäre. Und zwar dann, wenn ein Elternteil oder beide Eltern ihrer Pflicht gegenüber den eigenen Nachkommen aus guten Gründen nicht nachkommen können.

4. Lässt sich aus solchen Ausnahmen ein allgemeines Gesetz ableiten? An sich nicht. Jedoch ist genau dies bei allen oben beschriebenen gesellschaftlichen und familienpolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte geschehen.

Mit dem berühmten Satz „Kinder bekommen die Leute immer“ soll Konrad Adenauer den Einwand gegen seine Rentenreform beiseitegewischt haben, dass dadurch zwar die Versorgung der jeweiligen Rentnergeneration vergesellschaftet werde, die Versorgung der Kinder jedoch Privatsache bleibe, was Familien benachteilige und somit zu einem Rückgang der Geburtenzahlen führen würde. Adenauer nahm an, dass die Familie mit Kindern die Norm und Kinderlosigkeit die Ausnahme bleiben würde. Er konnte oder wollte nicht voraussehen, dass sich die Norm durch die veränderten Rahmenbedingungen verschieben und die Ausnahme immer mehr zur Regel werden würde.

Mit einer ähnlichen Denkfigur wurde die Freigabe der Abtreibung begründet. Aus relativ seltenen, extremen Ausnahmen wie der Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung oder der Gefährdung des Lebens der Mutter konstruierten die Befürworter ein allgemeines Gesetz. Dass die Extremfälle nur einen verschwindend geringen Anteil aller Abtreibungen ausmachen, fiel dabei unter den Tisch. Die Ausnahme wurde zur Norm, und heute haben wir gesellschaftlich fast schon so etwas wie eine Pflicht zur Tötung ungeborenen Lebens.

Die Eltern behinderter Kinder müssen sich heute fragen lassen, ob das nicht vermeidbar gewesen wäre – i.e. das Kind nicht vor der Geburt hätte getötet werden können oder müssen. Ganzen Bevölkerungsgruppen wird auf diese Weise praktisch das Lebensrecht abgesprochen, und es ist nur konsequent, auch über die Tötung „auf Verlangen“ alter oder kranker Menschen zu diskutieren, wie es gerade wieder geschieht. Eine Gesellschaft, die das menschliche Leben nicht konsequent schützt, ist zutiefst inhuman.

Und nach dem gleichen Strickmuster war die Argumentation für die Einführung der Ehescheidung gestrickt. Aus der Ausnahme einer nicht mehr tragfähigen Ehe, die keinen anderen Ausweg als die Trennung lässt, ist heute ein allgemeines Gesetz geworden. Die Schwelle zur Scheidung ist drastisch gesunken. Die Ehe, die nicht geschieden wird, ist auf dem besten Weg zur Ausnahme.

In allen drei Fällen wurde die Norm verändert, mit enormen Auswirkungen auf die Mehrheit, die ja angeblich gar nicht von der Änderung betroffen war. Die gleiche Argumentationsfigur begegnet uns auch jetzt wieder allenthalben, gekleidet in die Behauptung, dass sich durch die angestrebte Öffnung für bestehende Ehen oder künftige heterosexuelle Eheschließungen nichts ändern würde.

Dieses Argument ist selbstverständlich falsch, denn eine Änderung der Norm hat immer Auswirkungen auf alle, für die eine Norm gilt. In diesem Fall würde das ohnehin schon geschwächte und aufgeweichte Verständnis der Ehe weiter geschwächt und aufgeweicht. Dagegen lässt sich höchstens sagen, dass es darauf nun auch nicht mehr ankäme.

Gewichtiger allerdings ist ein zweites Argument, das auf der Frage beruht, was die angestrebte Änderung eigentlich für die Geburtenziffer bedeuten würde, den zentralen KPI jeder Gesellschaft. Die Antwort: Im besten Falle nichts. Das läge dann daran, dass die familienpolitischen Maßnahmen der vergangenen Jahrzehnte überwiegend wirkungslos oder gar schädlich wären, jedenfalls nichts zur Erhöhung der Geburtenziffer beigetragen hätten. In diesem Fall wäre es dann auch egal, wenn eine weitere Gruppe in den Genuss allerlei zweifelhafter Regelungen käme, die ihren eigentlichen Zweck – die Familienförderung – ohnehin verfehlen.

Sollten aber wirksame Maßnahmen darunter sein, deren Wirkung nur durch andere, stärkere Gegentrends neutralisiert würde, dann könnte ein ähnlicher Effekt eintreten, wie ihn die Adenauersche Rentenreform hatte. Wenn neben den immer zahlreicher werdenden kinderlosen Ehepaaren noch eine weitere Gruppe von familienpolitischen Fördermaßnahmen profitieren würde, ohne einen eigenen Beitrag zur Reproduktion zu leisten, dann ginge das wieder einmal zu Lasten der Familien mit Kindern.

Schließlich kann das Geld nur einmal ausgegeben werden. Hier liegt ein klassischer Verteilungskampf vor, bei dem eine Gruppe ihren Anteil vom Kuchen fordert, die bis jetzt nicht in diesen Genuss kam. Käme sie zum Zuge, würde der verbleibende Rest des Kuchens kleiner. Man sieht also leicht, dass das oben zitierte Argument, es würde sich ja für Normalbürger nichts ändern, schlicht falsch ist.

Es verwundert eher, warum ein einfach zu durchschauender Propagandatrick so große Verbreitung in einer sich kritisch dünkenden Öffentlichkeit findet. Man könnte sich an Orwell und 1984 erinnert fühlen. Meine Erklärung dafür ist simpel: Wunschdenken dominiert heute die meisten Diskurse. Wir leben in einer Pippi-Langstrumpf-Welt.

Zweimal drei macht vier –
widdewiddewitt und drei macht Neune!
Ich mach‘ mir die Welt –
widdewidde wie sie mir gefällt.

5. Herr Kästner, wo bleibt das Positive? Nun, mittelfristig werden sich Gesellschaften durchsetzen, deren KPI – die Geburtenziffer – bei mindestens 2,1 liegt. Bevölkerungsgruppen, die mehr Kinder hervorbringen, verdrängen die Kinderarmen und Kinderlosen. Insofern ist das Konzept Ehe und Familie immer stärker und wird sich schließlich durchsetzen.

Jedes Kind versteht, dass zweimal drei nicht vier ist, während es mit Pippi Langstrumpf von einer Welt träumt, die Kindern gefällt. Eine Welt, die Kinder schätzt und liebt, ist die beste aller Welten.

6. Nachdem dieser Beitrag ohnehin schon viel zu lang ist, will ich abschließend noch kurz einige zu erwartende Einwände gegen die hier formulierte Argumentation behandeln.

Biologismus: Entspricht nicht meiner Intention. Wohl aber argumentiere ich auf Basis eines Verständnisses von Naturrecht, von dem ich zwar weiß, dass es nicht allgemein geteilt wird, das ich aber weiterhin für eine mit guten Gründen vertretbare Position halte. Insbesondere den Grünen wäre dringend anzuraten, ihre weltanschaulichen Grundlagen auf dieser Basis zu reflektieren und die inneren Widersprüche ihres Denkens zu überwinden.

Nationalismus: Ist ebenfalls nicht intendiert. Die Geburtenrate bezieht sich auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland, ohne Berücksichtigung des Passes oder der Herkunft. Der nichtdeutsche Teil der Bevölkerung trägt heute schon überproportional zur Geburtenrate bei, auch wenn mir dazu keine gesicherten Zahlen bekannt sind, weil die entsprechenden Statistiken nicht geführt werden.

Konservatismus: Ist kein sinnvolles Argument, weder positiv noch negativ. Fortschritt ist kein Wert an sich, ebenso wenig wie sein Gegenteil. Beides kann nur von einer normativen Basis aus bewertet werden. Nur dann lässt sich wirklicher menschlicher Fortschritt vom zivilisatorischen Rückschritt unterscheiden. Hier habe ich im Prinzip von der Wertebasis unseres Grundgesetzes aus argumentiert.

Katholizismus: Kommt hier nur relativ sparsam vor. Im Gegenteil könnte man diesem Text eher eine soziologische oder politikwissenschaftliche Argumentation vorwerfen und gerade das katholische Element vermissen. Das war aber durchaus intendiert, ging es mir doch nur darum, zwei in der gegenwärtigen Debatte vernachlässigte Aspekte herauszustellen. Eine vollständige Abhandlung zum Thema vorzulegen entsprach nicht meiner Absicht.

Von dümmlichen Vorwürfen mit -phobie bitte ich abzusehen.

Nachtrag: Ähnliche Überlegungen stellt Roland Tichy an.

Als Katholik in der Diaspora

Als Katholik in der Diaspora konnte ich mich an das Gefühl gewöhnen, Angehöriger einer Minderheit zu sein. Und wie das so ist mit Minderheiten – sie werden wohl in den meisten Gesellschaften benachteiligt. Um es vorsichtig auszudrücken. Wir Katholiken können und sollten uns schon einmal darauf einstellen, dass es uns auch in Deutschland so ergehen wird.

Und ist das Futur überhaupt noch angebracht? Katholische Positionen offen zu vertreten kann im Deutschland des Jahres 2015 bereits den Job kosten. Das hat das Westfalen-Blatt erst in den vergangenen Tagen unter Beweis gestellt.

In diesem Fall ging es nur um eine verunglückte Kolumne, nicht einmal um eine pointiert katholische Position. Hätte die Kolumnistin zum Beispiel geschrieben, dass sie sich durch die Inszenierung einer homosexuellen Partnerschaft als Eheschließung verhöhnt fühle – ich weiß nicht, was geschehen wäre.

Die meisten westlichen Gesellschaften haben das über Jahrtausende bewährte Konzept einer christlichen Ehe in nur wenigen Jahrzehnten fast vollständig ausgehöhlt und nahezu alle Elemente eliminiert, die eine Ehe ausmachen. Aus dem Bund fürs Leben wurde ein Bündnis auf Zeit, der Bezug auf Nachkommenschaft und damit der Bund zwischen den Generationen wurde praktisch aufgelöst, Sexualität hat nur noch wenig mit Nachkommenschaft zu tun, hat daher ihren Platz nicht länger nur in der Ehe und ist allgegenwärtig geworden. Zivilisatorisch ein klarer Rückschritt.

Selbstverständlich ist eine Ehe im klassischen, christlichen Verständnis ein Ideal und niemals eine Beschreibung eines flächendeckend verwirklichten Zustands gewesen. Aber was ist das, was heute wahrscheinlich eine Mehrheit in Deutschland als Ehe bezeichnet, anderes als eine Änderung im Personenstandsregister? Wozu eigentlich heiraten, wenn keines der konstitutiven Elemente einer Ehe mehr gegeben ist? Wegen der Steuervorteile?

Und warum an der Ehe als Bund zwischen Mann und Frau festhalten, wenn Nachkommenschaft nicht mehr zur Ehe gehört? So gesehen ist die Entscheidung in Irland konsequent. Irland hört damit auf, ein katholisches Land zu sein. Auch in Irland werden Katholiken nun zur Minderheit, die entsprechende Nachteile zu erwarten hat.

Ich bin sicher, dass es Leute gibt, die darauf höhnen werden: Geschieht euch recht, so seht ihr einmal, was ihr anderen angetan habt. Partiell ist das sicher wahr (wenn auch nicht gut und schon gar nicht schön). Doch schwerer wiegt der Verlust der Unterscheidungsfähigkeit, der jede Ungleichbehandlung pauschal zu einer Ungerechtigkeit erklärt. Dabei ist es nicht gerecht, Ungleiches gleich zu behandeln, sondern Gleiches. Wo Unterscheidungen angebracht sind, muss unterschieden werden, um der Gerechtigkeit willen. Das hat mit Diskriminierung nichts zu tun.

In gewisser Weise kehrt das europäische Christentum mit dem Schrumpfen zur Minderheit an seinen Ausgangspunkt vor der Konstantinischen Wende zurück. Wir Christen werden uns wieder auf Verfolgungen einstellen müssen. Das ist nicht weiter schlimm und in vielen Teilen der Welt längst Normalität.

Aber bevor es ans Leben geht, ist noch etwas Zeit. Vorerst sollten wir nur damit rechnen, unsere Arbeit und unsere Freiheit zu verlieren. Der kürzlich verstorbene Kardinal und emeritierte Erzbischof von Chicago Francis Eugene George sagte 2010 in einer Ansprache:

„I expect to die in bed, my successor will die in prison and his successor will die a martyr in the public square. His successor will pick up the shards of a ruined society and slowly help rebuild civilization, as the church has done so often in human history.“

Das ist unser Job als Katholiken. Willkommen in der Diaspora.

Humanae Vitae

Am morgigen Sonntag wird Papst Paul VI. seliggesprochen. Aus diesem Anlass sei an seine letzte Enzyklika namens Humanae Vitae erinnert, ein tatsächlich prophetisches Rundschreiben.

Die Veränderungen sind wirklich bedeutsam und verschiedenartig. Zunächst handelt es sich um die rasche Bevölkerungszunahme: viele fürchten, daß die Weltbevölkerung schneller zunimmt, als die zur Verfügung stehende Nahrung erlaubt. Dadurch wächst die Not in vielen Familien und in den Entwicklungsländern. Das kann staatliche Regierungen leicht dazu drängen, diese Gefahr mit radikalen Maßnahmen zu bekämpfen. Dazu erschweren nicht nur Arbeits- und Wohnverhältnisse, sondern auch gesteigerte Ansprüche wirtschaftlicher Art und im Hinblick auf die Erziehung und den Unterricht der Jugend den angemessenen Unterhalt einer größeren Zahl von Kindern. Wir erleben auch einen gewissen Wandel in der Auffassung von der Persönlichkeit der Frau und ihrer Aufgabe in der menschlichen Gesellschaft; ebenso in der Auffassung vom Wert der Gattenliebe in der Ehe und in der Beurteilung des ehelichen Verkehrs im Hinblick auf diese Liebe. Schließlich ist vor allem der staunenswerte Fortschritt des Menschen in der Beherrschung der Naturkräfte und deren rationaler Auswertung in Betracht zu ziehen. Diese Herrschaft sucht nun der Mensch auf sein ganzes Leben auszudehnen: auf seinen Körper, seine seelischen Kräfte, auf das soziale Leben und selbst auf die Gesetze, die die Weitergabe des Lebens regeln. […]

Die Frage der Weitergabe menschlichen Lebens darf – wie jede andere Frage, die das menschliche Leben angeht – nicht nur unter biologischen, psychologischen, demographischen, soziologischen Gesichtspunkten gesehen werden; man muß vielmehr den ganzen Menschen im Auge behalten, die gesamte Aufgabe, zu der er berufen ist; nicht nur seine natürliche und irdische Existenz, sondern auch seine übernatürliche und ewige. […]

Auch muß man wohl befürchten: Männer, die sich an empfängnisverhütende Mittel gewöhnt haben, könnten die Ehrfurcht vor der Frau verlieren, und, ohne auf ihr körperliches Wohl und seelisches Gleichgewicht Rücksicht zu nehmen, sie zum bloßen Werkzeug ihrer Triebbefriedigung erniedrigen und nicht mehr als Partnerin ansehen, der man Achtung und Liebe schuldet. Schließlich ist sehr zu bedenken, welch gefährliche Macht man auf diese Weise jenen staatlichen Behörden in die Hand gäbe, die sich über sittliche Grundsätze hinwegsetzen. Wer könnte es Staatsregierungen verwehren, zur Überwindung der Schwierigkeiten ihrer Nationen für sich in Anspruch zu nehmen, was man Ehegatten als erlaubte Lösung ihrer Familienprobleme zugesteht? Wer könnte Regierungen hindern, empfängnisverhütende Methoden zu fördern, die ihnen am wirksamsten zu sein scheinen, ja sogar ihre Anwendung allgemein vorzuschreiben, wo immer es ihnen notwendig erscheint? Auf diese Weise könnte es geschehen, daß man, um Schwierigkeiten persönlicher, familiärer oder sozialer Art, die sich aus der Befolgung des göttlichen Gesetzes ergeben, zu vermeiden, es dem Ermessen staatlicher Behörden zugestände, sich in die ganz persönliche und intime Aufgabe der Eheleute einzumischen. Will man nicht den Dienst an der Weitergabe des Lebens menschlicher Willkür überlassen, dann muß man für die Verfügungsmacht des Menschen über den eigenen Körper und seine natürlichen Funktionen unüberschreitbare Grenzen anerkennen, die von niemand, sei es Privatperson oder öffentliche Autorität, verletzt werden dürfen. Diese Grenzen bestimmen sich einzig aus der Ehrfurcht, die dem menschlichen Leibe in seiner Ganzheit und seinen natürlichen Funktionen geschuldet wird. […]

Alle, denen der Fortschritt der menschlichen Kultur und der Schutz der wesentlichen Güter der Seele am Herzen liegt, müssen einstimmig verurteilen, was bei den modernen Massenmedien dazu beiträgt, die Sinne aufzupeitschen und Sittenverfall zu verbreiten, ebenso jede Form von Pornographie in Schrift, Wort und Darstellung. Man soll doch nicht versuchen, solche Entartung mit Berufung auf Kunst und Wissenschaft zu rechtfertigen oder mit dem Hinweis auf die Freiheit, die vielleicht in diesem Bereich die staatlichen Stellen gewähren.

Humanae Vitae erhält in der Rückschau noch zusätzliches Gewicht durch die Tatsache, dass es sich um die letzte Enzyklika des künftigen Seligen Papstes Paul VI. handelt. Und zwar nicht, weil er kurz danach verstorben wäre, sondern weil er in den letzten zehn Jahren seines Pontifikates kein solches Rundschreiben mehr veröffentlichte.

Zu notwendigen Reformen bei den Grünen

Klaus Kelle hat letzte Woche in seiner Kolumne „Politisch inkorrekt“ einen originellen Vorschlag gemacht:

Das „Handelsblatt“ gibt der Grünen-Vorsitzenden Claudia Roth breiten Raum für ihr gewohntes Sexualmoral-Zölibat-Frauenordination-Erneuerungs-Geweine. Mitglied der Kirche ist sie nicht. Ob die Zeitung nun wenigstens Kardinal Meisner mal etwas zu notwendigen Reformen bei den Grünen schreiben lässt?

Zwar bin ich nicht Kardinal Meisner. Als ehemaliger Stammwähler der Grünen drängt es mich dennoch, den Vorschlag aufzugreifen. Worin bestehen also die notwendigen Reformen? Es muss dabei um eine Überwindung der ökologischen Halbierung der Grünen gehen. Papst Benedikt gab dazu 2011 in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag den entscheidenden Hinweis:

Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muß und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.

Während die Grünen zwar die Umwelt des Menschen zum Bezugspunkt nehmen, ignorieren sie weitgehend seine eigene, die menschliche Natur. Die Familie ist der blinde Fleck der grünen Weltanschauung. Das hat mit der Gründungsgeschichte der Partei zu tun. Damals verschmolz die Umwelt- und Friedensbewegung mit den Überresten der marxistischen Revolte von 1968. Deren erklärtes Ziel war die Zerstörung der Familie, die als repressiv und reaktionär galt.

Da der Mensch nun aber seit Urzeiten in Familien lebt, da ohne Familie die Fortpflanzung und das Überleben des Menschen prekär wird, mit einem Wort: da die Familie zur Natur des Menschen gehört, liegt hier der Grundwiderspruch der Grünen. Nur wer diesen Widerspruch aushalten oder verdrängen kann, der kann sich vehement für bedrohte Tierarten einsetzen, aber das ungeborene Leben für nicht weiter schützenswert halten. Nur so können die gleichen Menschen zusammen mit der SPD an der weiteren Verstaatlichung der Kinderbetreuung arbeiten und gleichzeitig für artgerechte Tierhaltung kämpfen.

Dass die Partei angesichts dieser Widersprüche nicht zerbricht, liegt einzig und allein an den Zwängen der Macht. Die Aussicht auf Macht und die Teilhabe daran hält die Grünen zusammen. Der Druck der Machtverhältnisse zwingt logisch inkonsistente und selbstwidersprüchliche Positionen in ein Parteigehäuse.

Wird das auf Dauer so bleiben? Wahrscheinlich nicht. Irgendwann wird zerbrechen, was nicht zusammengehört. Es sei denn, die Grünen könnten sich zuvor zu notwendigen Reformen entschließen, i.e. sich von ihrem marxistischen Erbe trennen. Angesichts der breiten Mehrheitsfähigkeit ökologischer Themen wäre damit der Weg zur bürgerlichen Volkspartei frei. Und zur Koalition mit der CDU/CSU.

Für die Abschaffung der Zivilehe

In einem ansonsten weitgehend indiskutablen Blogeintrag las ich heute einen Satz, der zumindest eine Überlegung wert ist:

Ich finde die Position weit konsistenter, die Ehe als Rechtsinstitut abzuschaffen und dafür jene, die Kinder haben, steuerlich zu privilegieren – und dann sollen doch die Katholiken ihre vermeintlich heiligen Sakramente abfeiern, bis sie am Weihrauch ersticken. [Hervorhebung im Original]

Diesen Gefallen werden wir Katholiken sicher niemandem tun, aber die Zivilehe abschaffen – warum eigentlich nicht? In Deutschland kennen wir dieses Rechtsinstitut erst seit gut 200 Jahren, und zu verdanken haben wir es der französischen Besatzung. Der erste Anlauf hielt nicht lange, und erst 1874 wurde die Zivilehe in Preußen eingeführt. Ein Jahr später galt sie dann, wir schreiben die Zeit des Kulturkampfes, im ganzen Deutschen Reich.

Die Zivilehe war ein Instrument, mit dem der Staat die Kirche bekämpfte. Daran sollten wir Katholiken uns erinnern, wenn wir nun die Zivilehe gegen ihre endgültige Auflösung meinen verteidigen zu müssen. Denn darauf läuft ja die Entwicklung nicht erst seit gestern hinaus. Spätestens mit der Möglichkeit der Ehescheidung begann dieser Auflösungsprozess, der mit der absehbaren Einführung der gleichgeschlechtlichen Zivilehe noch nicht abgeschlossen sein wird.

Bereits seit 2009 ist in Deutschland wieder eine kirchliche Eheschließung möglich, ohne vorher beim Standesamt eine Zivilehe geschlossen zu haben. Die kirchlich geschlossene Ehe hat keine zivilen Rechtsfolgen. Wofür genau ist eine Zivilehe noch gut, einmal von den möglichen steuerlichen Vorteilen abgesehen? Die könnten durch eine Erweiterung des in der Sozialgesetzgebung bereits eingeführten Begriffes der Bedarfsgemeinschaft abgelöst werden.

Wäre das nicht die einfachste Lösung?

Beschneidung und Kindertaufe

Am Oktavtag von Weihnachten feiern wir, auch wenn das Fest heute nicht mehr so heißt, die Beschneidung des Herrn. Nach dem jüdischen Gesetz müssen männliche Neugeborene am achten Tag ihres Lebens beschnitten werden.

2012 war auch das Jahr, in dem die jahrtausendealte Praxis der Beschneidung in Deutschland in die politische und gesellschaftliche Debatte geriet. Am Ende steht eine gesetzliche Regelung, die Beschneidung unter bestimmten Bedingungen weiterhin erlaubt.

Mir fiel dabei auf, dass es vermutlich einen inneren Zusammenhang zwischen der jüdischen Praxis der Beschneidung und der christlichen Praxis der Kindertaufe gibt. Zwar wird letztere nicht zwingend am achten Tag vollzogen, doch ebenfalls in einem Alter, in dem das Kind noch nicht mündig ist.

Wie männliche Juden durch die Beschneidung in den Bund mit Gott eintreten, so treten Christen durch die Taufe in den mystischen Leib Christi ein, der die Kirche ist. Die aktive, willentliche Zustimmung zu diesem Akt ist nicht nötig.

Beschneidung wie Taufe gehören zu den ersten konkreten Akten der elterlichen Sorge für ihre Kinder und ihr Wohlergehen, hier insbesondere das geistliche Wohlergehen. Sie sorgen damit für eine geistliche Beheimatung ihrer Kinder, eine Einwurzelung in die Glaubenspraxis ihrer Väter und Mütter.

Beschneidung und Taufe sind nur die ersten Schritte, doch den Kindern diese zu verweigern, hat schwere Nachteile, werden diese dadurch schließlich geistlich heimatlos und entwurzelt. In der Abwägung mit dem ebenfalls hohen Gut der körperlichen Unversehrtheit, das durch die Beschneidung tangiert wird, erscheinen mir diese Nachteile sogar schwerer wiegend.