Die Formulierung mag überraschen, aber es ist die Summe aus den Ereignissen der letzten Wochen. Das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland ist neu definiert worden. Das Christentum ist nun die Religion einer unterdrückten und in mehrere Gruppen gespaltenen Minderheit, während die Mehrheit sich eine Zivilreligion gegeben hat, deren oberste Sachwalterin zugleich Kanzlerin ist.
Wer wie Bischof Richard Williamson den Massenmord an den Juden oder jedenfalls die Existenz von Gaskammern leugnet, stellt damit nach Ansicht von Eckhard Fuhr den zentralen Bezugspunkt der westlichen Zivilreligion infrage. Diese ist auch nach Auffassung meines Altbischofs das Fundament der Europäischen Union.
Die Anerkennung des Holocaust ist nach Ansicht des emeritierten Hildesheimer Bischofs Josef Homeyer die Eintrittskarte nach Europa. Daher sei die Europäische Union (EU) auch eine Antwort auf die „tragische Geschichte dieses Kontinents“ so Homeyer bei einer Tagung in Potsdam „Europas zukünftige Identität“. Für Juden war noch 1825 die Taufe das „Entreebillet“ nach Europa, wie Heinrich Heine damals schrieb. Eine ironische Wendung der Geschichte habe aber dazu geführt, dass heute die Vernichtung der Juden die einschlägige europäische Bezugsgröße geworden sei, so Homeyer. Dass sich die Präsidenten von Polen und Rumänien zur Mitschuld ihrer Länder an der Judenvernichtung bekannten, habe deren Beitritt zur EU erleichtert.
Noch deutlicher wird Stephan Detjen in seinem Kommentar [via]:
Eine Bundeskanzlerin, die das Gedenken an den Holocaust zu einem Bestandteil deutscher Staatsräson erklärt, darf sich selbstverständlich dazu äußern, wenn der Papst einen notorischen Holocaust-Leugner und Antisemiten auf spektakuläre Weise in seine Kirche re-integriert. […]
Im Fall Williamson ergibt sich eine zusätzliche Verbindung zur deutschen Staatsgewalt, weil der reaktionäre Bischof seine jüngsten Äußerungen, in denen er den Holocaust leugnete, ausgerechnet auf deutschem Boden tat. Die Staatsanwaltschaft Regensburg ermittelt gegen ihn. Die Kanzlerin bewegt sich mit ihrer Papst-Kritik indes auf einer ganz anderen Ebene. Sie liegt jenseits von Recht und Politik. Es ist die Sphäre der Zivilreligion, zu der sich die Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden im Nachkriegsdeutschland ausgeprägt hat.
Merkels Redewendung vom Holocaust als Teil der Staatsräson ist der Versuch, die Kultivierung und Dogmatisierung historischer Erinnerung in die Sprache der Politik zu übersetzen. Im Strafrecht findet die zivilreligiöse Qualität des Holocaust-Gedenkens ihren Ausdruck in der einzigartigen Kriminalisierung einer historisch unwahren Tatsachenbehauptung. Über vieles lässt sich in unserem Land verhandeln: Die plurale und multiethnische Gesellschaft integriert Menschen aller Hautfarben, Weltanschauungen und Religionen. Antisemitismus und Versuche, nationalsozialistische Verbrecher zu rehabilitieren aber liegen jenseits einer absoluten Grenze. Hier haben Toleranz und Diskursbereitschaft ein Ende, hier steht das zur Disposition, was den Kern kollektiver Identität der Nachkriegsdeutschen ausmacht. Es geht deshalb in der Debatte um die Papst-Kritik Merkels nicht allein um rational begründbare Formen des Umgangs miteinander.
Genau das macht die Auseinandersetzung zwischen Benedikt und Merkel so pikant: Der absolutistische Herrscher der Kirche trifft auf die Hohepriesterin der Zivilreligion.
Hier wird die Grenzüberschreitung Merkels deutlich sichtbar, auch wenn Detjen dies gar nicht zu erkennen scheint. Die Kanzlerin hat sich in einer Glaubensfrage über den Papst gestellt und verdient deshalb die Bezeichnung Hohepriesterin völlig zu Recht.
Welche Folgen es für das Christentum hat, wenn Auschwitz zur Zivilreligion erhoben wird, bringt Claude Lanzmann auf den Punkt:
Wenn Auschwitz etwas anderes ist als ein Schrecken der Geschichte, wenn es sich der ‘Banalität des Bösen’ entzieht, dann erbebt das Christentum in seinen Grundfesten. Christus ist der Sohn Gottes, der bis zum Ende des Menschenmöglichen gegangen ist, wo er die entsetzlichen Leiden erduldet hat … Wenn Auschwitz wahr ist, gibt es ein menschliches Leiden, das sich mit jenem Christi überhaupt nicht auf eine Stufe stellen läßt … In diesem Fall ist Christus falsch, und nicht von ihm wird das Heil kommen. Fanatismus des Leidens! Wenn nun Auschwitz weitaus extremer als die Apokalypse ist, weitaus schreckerregender als das, was der Johannes in der Apokalypse erzählt (denn die Apokalypse ist beschreibbar und gemahnt sogar an ein großes, hollywoodähnliches Spektakel, während Auschwitz unaussprechbar und undarstellbar ist), dann ist das Buch der Apokalypse falsch, und das Evangelium desgleichen. Auschwitz ist die Widerlegung Christi.
(Aus: Claude Lanzmann, Les Temps modernes, Paris, Dez. 1993, Seite 132,133. – Zitiert nach: http://www.kreuzforum.net/showthread.php?tid=2383) [via]
Und was es heißt, den systematischen Völkermord der Nazis an den Juden “das entsetzlichste Menschheitsverbrechen” zu nennen, fragt Dr. Gunther Maria Michel in seinem Blog karmelblume:
Wenn Sie das Wort “entsetzlichst” elativisch verstehen im Sinne von extrem entsetzlich, dann verstehe ich diese Formulierung und stimmen Ihnen voll zu. Wenn Sie “entsetzlichst” aber superlativisch im Sinne von “entsetzlicher als alle anderen Menschheitsverbrechen” verstehen, dann verstehe ich Sie nicht. Ich vermute jedoch fast, dass Sie es im letzteren, heute allgemein verbreiteten Sinne meinen, so etwa wie das ARD den Holocaust als das “präzedenzlose Verbrechen” und “größte Verbrechen der Geschichte” beschrieben hat.
Ich frage: War der Völkermord an den Sinti und Roma durch die Nazis weniger entsetzlich als der an den Juden? War der Völkermord an den Armeniern und an den Suryoye im Osmanischen Reich in den Jahren 1915 bis 1917 weniger entsetzlich? War der Völkermord in Ruanda im Jahre 1994 weniger entsetzlich? Waren der Holodomor 1932-1933 (früher Hunger-Holocaust genannt) und der Völkermord der Zwangskollektivierung und Kulakenverfolgung durch Josef Stalin, deren Opferzahl von Wissenschaftlern auf 14,5 Millionen Menschen geschätzt wird, weniger entsetzlich? Wenn ja, in welcher Hinsicht?
Hochwürdigster Herr Bischof, bitte helfen Sie mir, Sie zu verstehen. In quantitativer Hinsicht kann das Verbrechen doch nicht entsetzlicher gewesen sein, wie aus der größeren Zahl der Opfer in der Sowjetunion ersichtlich ist. Inwiefern aber in qualitativer Hinsicht? War der Mord an den Juden grausamer als an andern Genozidopfern? Wer wagt es, das Leiden zu vergleichen? War die Absicht der Nazimörder niederträchtiger als die anderer Völkermörder? Wer ist imstande, die Gesinnungen zu beurteilen? Waren die Opfer der Schoah unschuldiger als andere Mordopfer?
Wäre dann nicht jeder Mord an einem ungeborenen Kind entsetzlicher als ein Völkermord, denn ein ungeborener Mensch ist zwar befleckt vom Makel der Erbsünde, aber frei von jeder persönlichen Schuld? Aber wie wir wissen, beträgt die Anzahl der unschuldig ermordeten Kinder weltweit nach offiziellen Schätzungen jährlich mehr als vierzig Millionen! Was also bedeutet Ihr Wort vom entsetzlichsten Menschheitsverbrechen?
Aber vielleicht wollten Sie damit keine geschichtliche, sondern eine metaphysische oder theologische Aussage machen? Sind die Juden allein aufgrund ihrer Geburt andere Menschen als die übrigen Menschen? Etwa nach dem Credo des Südafrikaners in dem Film “München” von Steven Spielberg: “Das einzige Blut, das für mich zählt, ist jüdisches Blut”?
Ich glaube nicht, dass Sie das meinen, hochwürdigster Herr Bischof. Aber was dann? Unter theologischem Aspekt komme ich als Christ nicht umhin, an die Ermordung unseres Herrn, wahren Gottes und Heilands Jesus Christus zu denken, den der Hohe Rat der Juden zum Tode verurteilt und an die Römer zur Hinrichtung ausgeliefert hat. Ist dieser Mord, mit den Augen des christlichen Glaubens betrachtet, nicht entsetzlicher als alle Morde der Menschheitsgeschichte, denn Er, Christus, war doch der einzige unschuldige Sohn Adams, der jemals über diese Erde gegangen ist? Und Er, das unschuldige Lamm Gottes, war, wie Sie und ich und wie auch die Bischöfe und Priester der Piusbruderschaft glauben, das einzige reine und makellose Opfer, das je Gott dargebracht wurde? Was ist dann nach christlichem Glauben präzedenzlos und singulär: Golgotha oder Auschwitz?
All das heißt, dass es hier letztlich um zwei konkurrierende Wahrheitsansprüche geht: Entweder ist der verabsolutierte und zum Götzen erhobene Holocaust wahr oder das Christentum. Man kann nicht zwei Herren dienen. Unterwerfen sich die deutschen Bischöfe etwa deshalb mehrheitlich der Merkelschen Holocaustvergötzung, weil sie Konkordate und Kirchensteuer nicht riskieren wollen?
Die protestantische Pfarrerstochter Merkel als Hohepriesterin einer antichristlichen Zivilreligion? Ein ungewohnter Gedanke. Aber womöglich werden wir uns daran gewöhnen müssen. An unserer neuen Staatsreligion werden wir jedenfalls noch viel Freude haben.