Über Ehe und Familie

In der Debatte um aktuelle Fehlentwicklungen des Eherechts – Stichwort Irland – werden zwei Aspekte stark vernachlässigt. Da wäre zum einen die Tatsache, dass es sich hier nur um den vorläufigen Schlusspunkt eines mindestens seit Jahrzehnten andauernden Prozesses handelt, der soziologisch als Individualisierung und empirisch als Auflösung von Ehe und Familie beschrieben werden kann. Und zum anderen die einfache Kennziffer für die Performance unserer Familienpolitik – die Geburtenrate.

1. Die meisten westlichen Gesellschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten das Konzept Ehe und Familie schrittweise aufgelöst. Statt ehelicher und familiärer Bande erhielt nun das Individuum den höheren Rang.

Ein wichtiger politischer Schritt dazu war die Adenauersche Rentenreform, die es erstmals breiten Gesellschaftsschichten wirtschaftlich ermöglichte, auf eigenen Nachwuchs zu verzichten und trotzdem im Alter abgesichert zu sein. Das Rentensystem sorgt seitdem zuverlässig für eine Umverteilung zulasten der Familien und zugunsten der Kinderlosen, die sich nicht an der Versorgung der heranwachsenden Generation beteiligen, selbst aber im Alter von den Kindern anderer Leute versorgt werden.

In die gleiche Zeit fällt die nahezu flächendeckende Verbreitung künstlicher Verhütungsmittel, die den Verzicht auf Nachwuchs auch praktisch erheblich erleichterte. Und nicht zu vergessen die faktische Freigabe der Abtreibung, der schwarzen Schwester der künstlichen Empfängnisverhütung. Seit Jahrzehnten wird ein signifikanter Teil der in einem Jahr gezeugten Kinder schon im Mutterleib getötet – illegal, aber straffrei.

Mit diesen Reformschritten war der Zusammenhang zwischen Ehe und Nachkommenschaft aufgeweicht und die frühere Ausnahme der Kinderlosigkeit auf dem besten Wege zum Normalfall. Das Akronym DINK war entstanden: double income, no kids, und im Alter eine höhere Rente als die Familienväter und -mütter sie bekommen, bezahlt von deren Kindern. Absurd, aber seit Jahrzehnten Realität.

Der nächste Schritt – nach der Schwächung der Generationenfolge – war die Lockerung des Ehebandes durch die Einführung und Erleichterung der Ehescheidung. Wirtschaftlich gesehen wurde dadurch die Versorgungsgemeinschaft einer Ehe zunehmend in Frage gestellt und tendenziell prekär. Die Ehe besteht nun nicht mehr bis zum Tod, sondern nur noch unter Vorbehalt der jederzeit möglichen Auflösung.

Kinder, einst Reichtum und Garant eines sorgenfreien Ruhestands, sind heute zum Armutsrisiko geworden und versorgen als Erwachsene über ihre Steuern und Rentenbeiträge statt ihrer eigenen Eltern vorrangig deren kinderlose Generationsgenossen. „Alleinerziehend“ ist zum Synonym für „von Armut bedroht“ geworden.

Denn geblieben ist, mit relativ geringen Einschränkungen, die lebenslange Versorgungspflicht zwischen Eltern und Kindern. Aber nur deshalb, weil der nimmersatte Sozialstaat sich bis jetzt nicht in der Lage sah, auch noch die Lasten zu tragen, die diese Versorgungsgemeinschaften immer schon selbstverständlich schulterten.

Das aktuelle Scheidungsrecht in Deutschland entlässt den zu versorgenden Teil einer früheren Ehe mittlerweile brutalst schnell ins wirtschaftlich Bodenlose, was einer weiteren Bestrafung für jeglichen Aufwand zur Versorgung und Betreuung der eigenen Kinder gleichkommt. Wer Kinder hat und sich um sie kümmert, wer dafür die Erwerbstätigkeit reduziert, der hat verloren. Das betrifft immer noch überwiegend Frauen – wäre aber auch nicht besser, wenn es umgekehrt wäre.

Geblieben ist auch noch das Ehegattensplitting, also die steuerliche Berücksichtigung der simplen Tatsache, dass von einem Familieneinkommen zwei Eheleute leben müssen. Deshalb werden sie so besteuert wie zwei Alleinstehende, die jeweils die Hälfte des Familieneinkommens erzielen. Einkommensunterschiede zwischen Ehepartnern führen somit nicht zu einer höheren Besteuerung. Der aufmerksame Leser sieht bereits, dass es sich nicht um einen Vorteil, gar eine Subvention handelt, sondern nur um die Vermeidung ungerechtfertigter Nachteile. Bereits seit 2013 gilt diese Regelung auch für eingetragene Partnerschaften.

2. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Geburtenrate wie ein Stein fiel und auf niedrigstem Niveau verharrt. Die Geburtenziffer in Deutschland schwankt seit Jahrzehnten um den Wert 1,4. Über dem Schwellenwert von 2,1 lag sie zuletzt 1970, also vor 45 Jahren.

Warum ist der Wert von 2,1 so wichtig? Eine Geburtenziffer von 2,1 beschreibt eine stabile Bevölkerungsentwicklung. Die Bevölkerung wächst nicht, aber sie schrumpft auch nicht. Die Alterspyramide, also der Bevölkerungsaufbau nach Altersgruppen, bleibt intakt. Es gibt genug junge Menschen, die an der Zukunft interessiert sind und die Alten versorgen können. Für ein äußerst wohlhabendes Land wie das unsere wäre das eine komfortable Situation.

Stattdessen fehlt uns seit 45 Jahren jeweils ein Drittel eines Jahrgangs. Die übrigen zwei Drittel müssen also die entsprechenden Lasten zusätzlich schultern. Und da die in den siebziger und achtziger Jahren nicht geborenen Kinder auch als Eltern ausfallen, befindet sich dieser Schrumpfungsprozess inzwischen in der zweiten Generation. Das ganze wird nur abgemildert durch die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge, die noch im Erwerbsleben stehen, und durch Einwanderung. Kann aber Einwanderung die Lösung sein? Nur zum Teil.

De facto wandern ja nicht die fehlenden Neugeborenen eines Jahrgangs zu, sondern überwiegend erwachsene Menschen. Sie füllen so quasi nachträglich die leeren Ränge ihrer Jahrgänge auf. Dadurch haben wir praktisch einen erheblichen Teil unserer generativen Leistung ins Ausland ausgelagert.

Wir importieren neben Rohstoffen nun auch Menschen, die anderswo geboren, aufgezogen und ausgebildet wurden. Gibt es dafür einen angemessenen Ausgleich oder ist das eine Form des Neo-Kolonialismus? Müssten wir nicht Geld in die Herkunftsländer der Einwanderer überweisen, um die dort entstandenen Aufwände abzugelten? Die Einwanderer selbst tun dies häufig, um ihre im Heimatland verbliebenen Familien zu unterstützen.

Neben solchen Fragen bleibt festhalten, dass die Überalterung der hiesigen Bevölkerung durch Zuwanderung nur abgemildert, aber keineswegs ausgeglichen wird. Zugleich muss die Frage erlaubt sein, was aus einer Gesellschaft wird, die sich selbst nicht mehr reproduzieren kann und stattdessen auf Menschenimporte angewiesen ist.

Man kann all diese Veränderungen unterschiedlich bewerten. Es gibt ja durchaus die von einem manischen Selbsthass getriebene Position, die ein langfristiges Aussterben der deutschen Bevölkerung für wünschenswert hält. Ähnlich werden auch Familie und Ehe als rückständig und zu überwindende Relikte früherer Zeiten betrachtet. Und Kinder als zu vermeidendes Armutsrisiko. Nach mir die Sintflut, scheint mir das dazu passende Motto zu sein.

Papst Benedikt hat in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag von der Ökologie des Menschen gesprochen. Die Familie gehört zur Natur des Menschen, und an der Geburtenziffer lässt sich ablesen, wie es darum bestellt ist. Die Geburtenziffer ist der KPI unserer Gesellschaft, wie das Bruttoinlandsprodukt der KPI unserer Wirtschaft ist.

All jene oben beschriebenen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte hätten also beweisen müssen, dass sie die Geburtenziffer nicht negativ, sondern positiv beeinflussen. Das Gegenteil ist der Fall. Was folgt nun daraus? Für die Verfechter dieser Art von Fortschritt bleibt nicht viel mehr als die Hoffnung, dass sich dieses seit 45 Jahren im freien Fall befindliche System irgendwann wieder stabilisieren wird. Nun, das wird es in jedem Fall. Die Frage ist nur, wie hart der Aufschlag sein wird und ob es noch rechtzeitig gelingt, die Reißleine zu ziehen und den Fallschirm zu öffnen – wenn es ihn denn gibt.

3. Vor diesem Hintergrund lässt sich die sogenannte Öffnung der Ehe für Menschen, die bis jetzt nicht die Ehevoraussetzungen erfüllen, auf den ersten Blick als Gegenbewegung zur Individualisierung lesen. Und tatsächlich ist die gegenseitige Übernahme von Verantwortung sicher zu begrüßen.

Schon bei der Einführung der eingetragenen Partnerschaft indes gab es auch Stimmen aus dem sich selbst für progressiv haltenden Lager, die alles Eheähnliche als reaktionär verdammen und daher ablehnen. Deren Ziel ist die Abschaffung von Ehe und Familie, und tatsächlich ist, wie wir bis jetzt gesehen haben, dieses Ziel schon zu gewissen Teilen erreicht.

Wenn Ehe nicht mehr mit Fortpflanzung verbunden ist, dann ist nicht mehr so leicht einzusehen, warum sie genau einem Mann und genau einer Frau vorbehalten sein soll. Und wenn diese Ehevoraussetzung erst einmal entfallen ist, steht sicher demnächst eine Debatte über Polygamie an.

Doch zunächst soll uns die Frage beschäftigen, was gegen diese neuerliche Änderung des Ehebegriffs spricht. Der Katechismus der Katholischen Kirche schreibt über homosexuell veranlagte Menschen:

Man hüte sich, sie in irgend einer Weise ungerecht zurückzusetzen. [KKK 2358]

Ist es also eine ungerechte Zurücksetzung, wenn Homosexuelle keine Ehe schließen können? Nun, wenn das Konzept Ehe bereits so weit aufgeweicht ist, dass Fortpflanzung nicht mehr zu einer Ehe gehört, nicht einmal potentiell oder gedanklich, dann könnte man das meinen.

Insofern haben eigentlich Adenauers Rentenreform, die Einführung künstlicher Verhütung und die Freigabe der Abtreibung die Voraussetzung dafür geschaffen, dass diese Frage überhaupt gestellt werden kann. Noch vor sechzig Jahren hätte man wahrscheinlich über das Ansinnen gelacht und zurückgefragt: Und wie wollt ihr Kinder bekommen?

Nun, auch dieses Problem ist durch Instrumente wie Leihmutterschaft (die in Deutschland verboten ist), künstliche Befruchtung oder Adoption inzwischen gelöst – allerdings nicht zum Wohle der Kinder, um das es in dieser ganzen Debatte ohnehin überhaupt noch nicht ging. Was dient eigentlich dem Wohl der Kinder?

Im Grunde ist unbestritten, dass es im Allgemeinen dem Wohl des Kindes dient, bei seinen biologischen Eltern aufzuwachsen. Bestritten wird dies nur von familienfeindlichen Ideologen, deren Zahl allerdings wächst. Aus dem Kindeswohl ergibt sich auch eine starke Pflicht für Eltern, eine Trennung nach Möglichkeit zu vermeiden.

Man wird kaum sagen können, dass die geforderte Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare das Kindeswohl befördert. Bestenfalls kann es eine Art zweitbeste Lösung sein, dass Kinder getrennt von mindestens einem Elternteil aufwachsen, wie es in solchen Konstellationen der Fall wäre. Und zwar dann, wenn ein Elternteil oder beide Eltern ihrer Pflicht gegenüber den eigenen Nachkommen aus guten Gründen nicht nachkommen können.

4. Lässt sich aus solchen Ausnahmen ein allgemeines Gesetz ableiten? An sich nicht. Jedoch ist genau dies bei allen oben beschriebenen gesellschaftlichen und familienpolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte geschehen.

Mit dem berühmten Satz „Kinder bekommen die Leute immer“ soll Konrad Adenauer den Einwand gegen seine Rentenreform beiseitegewischt haben, dass dadurch zwar die Versorgung der jeweiligen Rentnergeneration vergesellschaftet werde, die Versorgung der Kinder jedoch Privatsache bleibe, was Familien benachteilige und somit zu einem Rückgang der Geburtenzahlen führen würde. Adenauer nahm an, dass die Familie mit Kindern die Norm und Kinderlosigkeit die Ausnahme bleiben würde. Er konnte oder wollte nicht voraussehen, dass sich die Norm durch die veränderten Rahmenbedingungen verschieben und die Ausnahme immer mehr zur Regel werden würde.

Mit einer ähnlichen Denkfigur wurde die Freigabe der Abtreibung begründet. Aus relativ seltenen, extremen Ausnahmen wie der Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung oder der Gefährdung des Lebens der Mutter konstruierten die Befürworter ein allgemeines Gesetz. Dass die Extremfälle nur einen verschwindend geringen Anteil aller Abtreibungen ausmachen, fiel dabei unter den Tisch. Die Ausnahme wurde zur Norm, und heute haben wir gesellschaftlich fast schon so etwas wie eine Pflicht zur Tötung ungeborenen Lebens.

Die Eltern behinderter Kinder müssen sich heute fragen lassen, ob das nicht vermeidbar gewesen wäre – i.e. das Kind nicht vor der Geburt hätte getötet werden können oder müssen. Ganzen Bevölkerungsgruppen wird auf diese Weise praktisch das Lebensrecht abgesprochen, und es ist nur konsequent, auch über die Tötung „auf Verlangen“ alter oder kranker Menschen zu diskutieren, wie es gerade wieder geschieht. Eine Gesellschaft, die das menschliche Leben nicht konsequent schützt, ist zutiefst inhuman.

Und nach dem gleichen Strickmuster war die Argumentation für die Einführung der Ehescheidung gestrickt. Aus der Ausnahme einer nicht mehr tragfähigen Ehe, die keinen anderen Ausweg als die Trennung lässt, ist heute ein allgemeines Gesetz geworden. Die Schwelle zur Scheidung ist drastisch gesunken. Die Ehe, die nicht geschieden wird, ist auf dem besten Weg zur Ausnahme.

In allen drei Fällen wurde die Norm verändert, mit enormen Auswirkungen auf die Mehrheit, die ja angeblich gar nicht von der Änderung betroffen war. Die gleiche Argumentationsfigur begegnet uns auch jetzt wieder allenthalben, gekleidet in die Behauptung, dass sich durch die angestrebte Öffnung für bestehende Ehen oder künftige heterosexuelle Eheschließungen nichts ändern würde.

Dieses Argument ist selbstverständlich falsch, denn eine Änderung der Norm hat immer Auswirkungen auf alle, für die eine Norm gilt. In diesem Fall würde das ohnehin schon geschwächte und aufgeweichte Verständnis der Ehe weiter geschwächt und aufgeweicht. Dagegen lässt sich höchstens sagen, dass es darauf nun auch nicht mehr ankäme.

Gewichtiger allerdings ist ein zweites Argument, das auf der Frage beruht, was die angestrebte Änderung eigentlich für die Geburtenziffer bedeuten würde, den zentralen KPI jeder Gesellschaft. Die Antwort: Im besten Falle nichts. Das läge dann daran, dass die familienpolitischen Maßnahmen der vergangenen Jahrzehnte überwiegend wirkungslos oder gar schädlich wären, jedenfalls nichts zur Erhöhung der Geburtenziffer beigetragen hätten. In diesem Fall wäre es dann auch egal, wenn eine weitere Gruppe in den Genuss allerlei zweifelhafter Regelungen käme, die ihren eigentlichen Zweck – die Familienförderung – ohnehin verfehlen.

Sollten aber wirksame Maßnahmen darunter sein, deren Wirkung nur durch andere, stärkere Gegentrends neutralisiert würde, dann könnte ein ähnlicher Effekt eintreten, wie ihn die Adenauersche Rentenreform hatte. Wenn neben den immer zahlreicher werdenden kinderlosen Ehepaaren noch eine weitere Gruppe von familienpolitischen Fördermaßnahmen profitieren würde, ohne einen eigenen Beitrag zur Reproduktion zu leisten, dann ginge das wieder einmal zu Lasten der Familien mit Kindern.

Schließlich kann das Geld nur einmal ausgegeben werden. Hier liegt ein klassischer Verteilungskampf vor, bei dem eine Gruppe ihren Anteil vom Kuchen fordert, die bis jetzt nicht in diesen Genuss kam. Käme sie zum Zuge, würde der verbleibende Rest des Kuchens kleiner. Man sieht also leicht, dass das oben zitierte Argument, es würde sich ja für Normalbürger nichts ändern, schlicht falsch ist.

Es verwundert eher, warum ein einfach zu durchschauender Propagandatrick so große Verbreitung in einer sich kritisch dünkenden Öffentlichkeit findet. Man könnte sich an Orwell und 1984 erinnert fühlen. Meine Erklärung dafür ist simpel: Wunschdenken dominiert heute die meisten Diskurse. Wir leben in einer Pippi-Langstrumpf-Welt.

Zweimal drei macht vier –
widdewiddewitt und drei macht Neune!
Ich mach‘ mir die Welt –
widdewidde wie sie mir gefällt.

5. Herr Kästner, wo bleibt das Positive? Nun, mittelfristig werden sich Gesellschaften durchsetzen, deren KPI – die Geburtenziffer – bei mindestens 2,1 liegt. Bevölkerungsgruppen, die mehr Kinder hervorbringen, verdrängen die Kinderarmen und Kinderlosen. Insofern ist das Konzept Ehe und Familie immer stärker und wird sich schließlich durchsetzen.

Jedes Kind versteht, dass zweimal drei nicht vier ist, während es mit Pippi Langstrumpf von einer Welt träumt, die Kindern gefällt. Eine Welt, die Kinder schätzt und liebt, ist die beste aller Welten.

6. Nachdem dieser Beitrag ohnehin schon viel zu lang ist, will ich abschließend noch kurz einige zu erwartende Einwände gegen die hier formulierte Argumentation behandeln.

Biologismus: Entspricht nicht meiner Intention. Wohl aber argumentiere ich auf Basis eines Verständnisses von Naturrecht, von dem ich zwar weiß, dass es nicht allgemein geteilt wird, das ich aber weiterhin für eine mit guten Gründen vertretbare Position halte. Insbesondere den Grünen wäre dringend anzuraten, ihre weltanschaulichen Grundlagen auf dieser Basis zu reflektieren und die inneren Widersprüche ihres Denkens zu überwinden.

Nationalismus: Ist ebenfalls nicht intendiert. Die Geburtenrate bezieht sich auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland, ohne Berücksichtigung des Passes oder der Herkunft. Der nichtdeutsche Teil der Bevölkerung trägt heute schon überproportional zur Geburtenrate bei, auch wenn mir dazu keine gesicherten Zahlen bekannt sind, weil die entsprechenden Statistiken nicht geführt werden.

Konservatismus: Ist kein sinnvolles Argument, weder positiv noch negativ. Fortschritt ist kein Wert an sich, ebenso wenig wie sein Gegenteil. Beides kann nur von einer normativen Basis aus bewertet werden. Nur dann lässt sich wirklicher menschlicher Fortschritt vom zivilisatorischen Rückschritt unterscheiden. Hier habe ich im Prinzip von der Wertebasis unseres Grundgesetzes aus argumentiert.

Katholizismus: Kommt hier nur relativ sparsam vor. Im Gegenteil könnte man diesem Text eher eine soziologische oder politikwissenschaftliche Argumentation vorwerfen und gerade das katholische Element vermissen. Das war aber durchaus intendiert, ging es mir doch nur darum, zwei in der gegenwärtigen Debatte vernachlässigte Aspekte herauszustellen. Eine vollständige Abhandlung zum Thema vorzulegen entsprach nicht meiner Absicht.

Von dümmlichen Vorwürfen mit -phobie bitte ich abzusehen.

Nachtrag: Ähnliche Überlegungen stellt Roland Tichy an.

Sünder und Sünde

Die Sünde hassen und den Sünder lieben. Der Satz wird Aurelius Augustinus zugeschrieben. Er beschreibt trefflich die christliche Devise im Umgang mit der Sünde.

Die heutige Gesellschaft sieht das umgekehrt: Sie liebt die Sünde, aber hasst dafür den Sünder. Der Begriff Sünde ist so sehr verniedlicht, dass ihn die Werbung schon positiv verwendet. Eissorten heißen „7 Sünden“, die einstige Todsünde Geiz ist nun „geil“.

Der Sünder hingegen steht am Medienpranger, bis er öffentlich zu Kreuze kriecht, auf alle Ämter verzichtet und um Vergebung bittet. Die Beichtstühle stehen in Fernsehstudios, das Intimste wird ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt.

Und das soll ein Fortschritt sein?

Was ist normal?

„Was ist normal?“, fragt Miriam Meckel in einem Interview mit der FAZ. „Mit diesem Begriff habe ich nie etwas anfangen können. ‚Normal‘ ist ausgehandeltes Mittelmaß.“

Miriam Meckels Definition ist heute sicher mehrheitsfähig und sagt viel über ihre Persönlichkeit. Aber ist sie auch richtig? Schon die Wikipedia erscheint mir da treffender, wenn sie schreibt:

normal ist: […] in der Soziologie was als üblich betrachtet wird, siehe Soziale Norm

Und weiter heißt es dann:

Soziale Normen (Gesellschaftliche Normen, Soziale Skripte) sind konkrete Vorschriften, die das Sozialverhalten betreffen. Sie definieren mögliche Handlungsformen in einer sozialen Situation. Sie unterliegen immer dem sozialen Wandel, sind gesellschaftlich und kulturell bedingt und sind daher von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Normen sind (äußerliche) Erwartungen der Gesellschaft an das Verhalten von Individuen. Die Verbindlichkeit dieser Erwartungen variiert (siehe auch Tabu). Sie sind zu unterscheiden von (innerer) vernunftgemäßer Gewissensprüfung von Handlungen (siehe Moral, Ethik, kategorischer Imperativ).

Normal ist also, was den geltenden Normen entspricht. Normen postulieren ein Sollen, das dem empirischen Sein gegenübersteht. Sich als Einzelner nicht an Normen zu halten, heißt noch nicht, dass diese falsch wären oder nicht gelten würden.

Womit wir, und dieser Sprung sieht nur auf den ersten Blick gewagt aus, bei Charlotte Roche wären. Auch sie ist, wie Miriam Meckel, derzeit in eigener Sache unterwegs, um ihr jüngstes Buch zu bewerben. Bei einer Lesung in München fiel dabei einem Bericht der SZ zufolge der plakative Satz:

„Ich lieeeeebe Wissenschaft, weil sie das schlechte Gewissen weg macht.“

Unterliegt womöglich auch Charlotte Roche dem naturalistischen Fehlschluss? Das Gewissen kann sich ja nur auf Moral beziehen, also auf ein Sollen, während die Wissenschaft das Sein beschreibt. Wie könnte also Wissenschaft auf ein schlechtes Gewissen einwirken? Doch nur, indem Charlotte Roche vom Sein auf das Sollen schließt.

Johannes Paul II. und die Theologie des Leibes

Völlig entgangen war mir bisher, dass das epochale Werk Menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan von Johannes Paul II. schon seit fast zwei Jahren wieder lieferbar ist. Ich hatte seinerzeit das Buch Theologie des Leibes für Anfänger: Einführung in die sexuelle Revolution von Papst Johannes Paul II. von Christopher West mit Gewinn gelesen, dann aber vergeblich nach den Texten gesucht.

Rheinisch-katholisch hat übrigens schon im Februar angesichts der damals noch relativ frischen Missbrauchsdebatte auf die Theologie des Leibes und die beiden Bücher hingewiesen. Eine Einführung besonders für Jugendliche findet sich beim You-Magazin.

Das Klagegeschrei über Sodom und Gomorra

Das Klagegeschrei über Sodom und Gomorra, ja, das ist laut geworden, und ihre Sünde, ja, die ist schwer.
Gen 18, 20b

Ein Kommentar von Eva Herman schlägt in diesen Tagen jede Menge Wellen im Netz. Sie bezeichnet dort, passend zur ersten Lesung des vergangenen Sonntags, an dessen Vorabend die Katastrophe von Duisburg geschah, die Love Parade als „Sodom und Gomorrha“ und stellt eine provokante These in den Raum, an der vor allem sich der öffentliche Zorn entzündet:

Eventuell haben hier ja auch ganz andere Mächte mit eingegriffen, um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen.

Dass die Love Parade nicht erst seit Duisburg eine völlig verkommene Veranstaltung ist, diese Diagnose allein erklärt noch nicht die neuerliche Aufregung über Eva Herman. Aber mit ihrer These, es könnte sich bei der aktuellen Katastrophe um so etwas wie eine Strafe Gottes handeln, reizt sie die säkulare Mehrheitskultur bis aufs Blut. Dabei ist das tatsächlich ein interessanter Gedanke, nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Gen 18, 20-32, gestern als erste Lesung in jeder Messe zu hören, wenn örtliche Hochfeste, pastorale Gründe oder schlechte Gewohnheiten nicht dagegen sprachen.

Abraham verhandelt mit dem Herrn, der sich Sodom aus der Nähe ansehen möchte, wohl um es zu vernichten, wie Abraham fürchtet. Er fragt den Herrn, ob er Sodom verschonen würde, fänden sich dort nur fünfzig Gerechte. Als der Herr dies bejaht, handelt er ihn in mehreren Etappen auf schließlich nur zehn Gerechte herunter, die sich dort finden müssten. Abraham befürchtet die Vernichtung der Stadt zur Strafe für ihre Sünden und ringt um ihre Verschonung.

Der Salzburger Weihbischof Andreas Laun hat sich Anfang der 90er Jahre in einem lesenswerten Aufsatz* mit der Frage beschäftigt, ob AIDS eine Strafe Gottes sei. Er analysiert darin, warum sich der heutige Mensch so vehement gegen diesen Gedanken wehrt:

Denn wer von „Strafe“ redet, hat natürlich an Sünde gedacht und damit an ein Tabu der Zeit gerührt! Prophetisch hat ja schon Pius XII. gesagt, „daß die Sünde des Jahrhunderts der Verlust des Bewußtseins von Sünde ist“. Da aber weite Schichten unserer Gesellschaft den Gedanken, in ihrem Leben gebe es Sünde, kategorisch von sich weisen und darum auch dem Gedanken, Christus könnte sie von ihren Sünden erlöst haben, verständnislos gegenüberstehen, rührt die Rede von der Strafe an einen besonders empfindlichen Nerv:
In dem Begriff der Strafe steckt logisch die Behauptung von der Sündigkeit des Menschen, ein Stück Anklage also – und wer läßt sich das schon ohne weiteres gefallen!

Die Love Parade als sündige Veranstaltung zu bezeichnen, ist nicht so populär wie die Love Parade selbst, aber deshalb noch nicht falsch. Leid und Tod als Folge der Sünde zu deuten ist möglich, solange nicht ein linearer Zusammenhang zwischen der Schwere der Sünde und dem Ausmaß von Leiden und Tod konstruiert wird.

Aus Sünde folgen Leid und Tod, auch ohne dass es dazu des direkten Eingreifens Gottes bedürfte. Laun führt den auf den ersten Blick paradoxen Gedanken aus, dass eine Krankheit wie AIDS sich durchaus als Strafe Gottes verstehen (weil jedes Leid und jede Krankheit etwas mit der Sünde zu tun haben) und gleichzeitig nicht als Strafe Gottes verstehen lässt (weil es keine Entsprechung im Sinne einer „gerechten“ Strafe gibt).

Die Love Parade hielt der säkularen Mehrheitskultur über 20 Jahre den Spiegel vor, bis zum buchstäblich bitteren Ende. Auch deshalb ist das Erschrecken jetzt so groß, da wir in unsere eigene Fratze starren. Nun hat es Tote gegeben, und die Love Parade ist Geschichte. Ein viel zu hoher Preis.

In Sodom fanden sich am Ende wohl doch keine zehn Gerechten, sodass der Herr die Stadt durch Schwefel und Feuer vernichtete, die vom Himmel regneten (Gen 19, 24-25).

* In: Aktuelle Probleme der Moraltheologie. Wien 3.Aufl 1993, 157-176.

Sünde, Schuld, Vergebung und Versöhnung

Die Debatte um Kindesmissbrauch in katholischen wie auch in liberalen Einrichtungen offenbart vieles, nicht zuletzt aber ein zutiefst gestörtes Verhältnis zu Sünde, Schuld, Vergebung und Versöhnung. Die moderne Gesellschaft kann nicht akzeptieren, dass der Mensch ein Sünder ist und deshalb immer wieder damit zu rechnen ist, dass er seine eigenen Werte und Normen verletzt. Sie kennt keinen vernünftigen Umgang mit Schuld, sie kann dem Schuldigen nicht vergeben und findet keinen Weg zur Versöhnung.

Die moderne Gesellschaft nimmt den Menschen als seinen eigenen und alleinigen Maßstab, an dem sich Werte und Normen auszurichten haben. Aus der empirischen Tatsache, dass Mütter ihre ungeborenen Kinder töten, folgt die Legalisierung der Abtreibung. Aus der Beobachtung, dass Priester ihre schutzbefohlenen Kinder missbrauchen, folgt die Abschaffung des Zölibats und des Priestertums. Was folgt eigentlich aus Kindesmissbrauch in liberalen Reformschulen?

Weihnachten 2007

2007 war das bisher schwerste Jahr meines Lebens. Ich erinnere mich an den 7. Januar, einen schönen Wintersonntag, als unsere Familie auf dem Pferdeberg spazieren ging. Meine Schwester war guter Dinge, hatte Pläne für das Frühjahr, wollte eine Kur machen, um sich von den Strapazen ihrer dritten Krebsoperation im Herbst 2006 zu erholen.

Nach diesem Tag habe ich sie noch zweimal getroffen: am 25. März, als wir den 75. Geburtstag unseres Vaters feierten, und am 19. April. Da sah ich sie in der Göttinger Uniklinik wieder, mit aller Kraft um Atem ringend. Ich durfte in dieser Nacht an ihrem Bett wachen, bis sie kurz vor dem Morgen des 20. April zu atmen aufhörte.

Ihr Mann, den sie noch Anfang Februar geheiratet hatte, war in jener Nacht dabei, ebenso wie unsere Mutter und unsere Tante. Am Morgen standen wir mit den beiden Söhnen am Totenbett ihrer Mutter. Mein Schwager ist nun Witwer, meine Neffen sind Halbwaisen.

Die Krankheit, der Tod und die Trauer haben dieses Jahr stark geprägt. Sie setzen ein Nachdenken über viele grundlegende Fragen frei, die sonst im Alltag kaum eine Rolle spielen. Ich war im Juni für ein paar Tage in der Benediktinerabtei Gerleve im Münsterland zu Gast, um nachzudenken und zu beten.

Ende Juli kam unsere Familie zu einem großen Treffen zusammen. Den Anlass gab der Besuch einer Tante und drei ihrer vier Söhne mit ihren Familien. Sie waren zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder aus Schweden nach Deutschland gekommen.

Das Jahr 2007 hat mir gezeigt, wie wichtig meine Frau und meine Söhne sind, wie wichtig meine Eltern, meine Geschwister und meine Neffen sind, meine Schwiegereltern und meine Schwägerin, ja, die ganze Großfamilie. Der Beruf, so wichtig er ist, tritt dahinter zurück. Er dient der Familie, nicht umgekehrt.

Auch beruflich war dieses Jahr sehr anstrengend und herausfordernd. Nun aber unterbrechen wir die Arbeit und feiern die Geburt des Herrn. Dieses Fest ist ein neuer Anfang, wie auch das neue Jahr.

Weihnachten heißt: Gott wird Mensch. Das ist der Beginn einer neuen Zeit. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade.“ Die Ehre Gottes und der Friede auf Erden gehören zusammen. „Ihr müsst von Grund aus umdenken und umlernen“, schrieb der Soldat Ernst Rausch zu Weihnachten 1944.

Nicht Ihr seid der Mittelpunkt Eurer eigenen merkwürdigen Welt, sondern Gott. Stellt Euch wieder an den rechten Platz, der Euch zukommt und seid Menschen. Menschen, die verstehen können, die ein Herz haben, die das Leid dem andern tragen helfen, die die Wunden des furchtbaren Krieges zu heilen versuchen, die Güte bringen, wo Herzen bluten, die Freude bringen, wo man sich grämt, die Licht bringen, wo es finster geworden, die Liebe bringen, wo das Maß der Leiden überlief.

Das ist die eherne Sprache des starken Geheimnisses, das hinter aller Krippenlieblichkeit und hinter allem Lichterglanz steht. Das ist der Ruf, der an uns in dieser Nacht ergeht. Das ist der Beginn der erlösenden Tat. Daran ist geknüpft die große Verheißung der Christnacht.

Frohe und gesegnete Weihnachten und ein glückliches Jahr 2008!

Was war (3): Eva und die Wölfe

Was mich an der Aufregung der letzten Wochen über Eva Herman am meisten gestört hat, war die Geringschätzung, ja Verachtung der Mutterschaft, die in vielen Wortmeldungen zum Ausdruck kam. Mutter zu sein ist in Deutschland inzwischen etwas völlig Nachgeordnetes, das hinter allem Möglichen zurückstehen muss. Wer Mutter wird, hat offensichtlich nichts Besseres zu tun. Oder ist zu blöd zum Verhüten.

Eine zynische, menschen- und frauenverachtende Haltung scheint Allgemeingut geworden, jedenfalls in der veröffentlichten Meinung. Sie korrespondiert aufs Genaueste mit der jüngst veröffentlichten Abtreibungsstatistik und der Berichterstattung darüber. Angesichts von 42 Millionen Kindstötungen jährlich scheint die ganze Sorge den Zehntausenden Frauen zu gelten, die bei Abtreibungen ums Leben kommen.

Selbstverständlich ist das eine berechtigte Sorge, aber ist es nicht zynisch und menschenverachtend, die getöteten Kinder keines einzigen Gedankens zu würdigen? Und nimmt sich nicht die als Holocaust (Ganzopfer, Brandopfer) bezeichnete industrielle Ermordung der europäischen Juden im Vergleich zu 42 Millionen getöteten Kindern pro Jahr fast mickrig klein aus?

Eva Herman wird für ungeschickte Äußerungen zur nationalsozialistischen Familienideologie von mediokren Talkmastern öffentlich hingerichtet und in die Nähe zum Nationalsozialismus gerückt – während die Ideologie, gegen die sie sich wendet, Jahr für Jahr eine Zahl von Opfern fordert, die an die des Zweiten Weltkriegs heranreicht. Diese Ideologie ist die Geringschätzung des Lebens selbst und die Unterordnung des Lebens der nächsten Generation unter unsere Wünsche und Bedürfnisse.

Es ist in Deutschland fast schon rechtfertigungspflichtig geworden, Kinder aufzuziehen statt sie zu verhüten oder abzutreiben. Werte wie Liebe, Familie und Kinder waren einmal selbstverständlich und sind es in jeder gesunden Gesellschaft. In Deutschland nicht.

Lebenslügen

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – wie eine tibetanische Gebetsmühle klappern die Beschwörungen aus dem Munde von Politikern aller Parteien. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eine der großen Lebenslügen der meisten westlichen Gesellschaften.

Familie und Beruf sind unter den Bedingungen der spätkapitalistischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft eher ein Antagonismus als eine Symbiose. Sie sind nicht miteinander vereinbar. Berufstätigkeit geht auf Kosten der Familie und umgekehrt.

Daran kann auch verbesserte außerhäusliche Kinderbetreuung nichts ändern. Denn die steht genauso im Gegensatz zur Familie wie der Beruf. Sie macht Berufstätigkeit möglich, nicht Familie. Eine Familie ist nur dann auf zusätzliche Kinderbetreuung angewiesen, wenn alle Bezugspersonen gleichzeitig einem Beruf nachgehen oder aus anderen Gründen abwesend sind.

Es ist kein Zufall, dass seit Anfang der siebziger Jahre gleichzeitig die Geburtenrate gesunken ist und die Erwerbstätigkeit zugenommen hat. 1970 waren in Westdeutschland 26,589 Millionen Menschen erwerbstätig und leisteten durchschnittlich 1.966,4 Arbeitsstunden pro Jahr. Das entspricht bei 46 Arbeitswochen pro Jahr genau 42,75 Stunden pro Woche und Arbeitnehmer.

1991 leisteten 31,261 Millionen Erwerbstätige in Westdeutschland durchschnittlich 1.558,8 Stunden, also 33,9 Stunden pro Woche. Die Gesamtsumme der Arbeitsstunden sank von 52,285 (1970) auf 48,730 Milliarden (1991). Immer mehr Menschen leisten immer weniger Stunden. Im vierten Quartal 2006 waren in Deutschland 39,716 Millionen Menschen erwerbstätig, 1991 waren es 38,621.

Die zunehmende Erwerbstätigkeit wird seit den 70er Jahren von kontinuierlich angewachsener Arbeitslosigkeit begleitet. Arbeitslos ist, wer arbeitswillig ist, aber keine Stelle findet. Demnach würde in Deutschland sogar mehr als jeder zweite Bürger, vom Säugling bis zum Greis, einem Beruf nachgehen, wenn es dafür nur Beschäftigung genug gäbe.

Vor die freie Wahl zwischen Familie und Beruf gestellt, entscheiden sich also seit mehr als einer Generation immer mehr Menschen für den Beruf und damit gegen eine Familie. Tendenziell steigt so das Arbeitskräfteangebot auf dem Arbeitsmarkt, und sofern die Nachfrage dem nicht Schritt hält, sinkt tendenziell der Preis – die Reallöhne schrumpfen.

Die gesamte Lohnsumme, ein erheblicher Teil des Bruttosozialprodukts, wird zudem unter immer mehr Köpfen aufgeteilt. Der einzelne Arbeitnehmer erhält einen kleineren Teil der Lohnsumme als zuvor. Solange die Wirtschaft wächst und die Löhne steigen, fällt dieser Prozess der schleichenden Umverteilung nicht ins Gewicht.

Kritisch wird es, wenn die Wirtschaft stagniert und mit ihr die Löhne. Denn die Lebenshaltungskosten steigen weiter, mithin schrumpft das ohnehin geringe frei verfügbare (also nicht durch laufende Verpflichtungen und Fixkosten gebundene) Monatseinkommen der meisten Familien oder wird gar negativ – Schulden laufen auf.

Diese säkularen Trends verschlechtern die Situation der Familien. In immer mehr Fällen reicht ein Einkommen nicht aus, um davon eine Familie zu ernähren. Was als höhere Erwerbsneigung begann, wird zum Zwang zur Erwerbstätigkeit.

Auch im Berufsleben entstehen neue Ungleichheiten. Wer keine familiären Rücksichten nehmen muss, kann sich vollständig dem Beruf widmen. Ein neuer Typus des Arbeitnehmers tritt auf: der kinderlose, immer verfügbare Arbeitnehmer, der seine Erfüllung allein im Beruf findet.

Dieser Typus wird immer häufiger. Noch vor zwei Generationen gab es ihn so gut wie gar nicht. Evolutionär betrachtet ist er zwar ein Auslaufmodell, da er keine Nachkommen hat. Doch er beeinträchtigt die Karrierechancen für Eltern.

Gegen die DINKs, Doppelverdiener ohne Kinder, haben Familien wirtschaftlich keine Chance. Selbst wenn beide Eltern in Vollzeit arbeiten, fressen bei Normalverdienern die Kosten der Kinderbetreuung große Teile des zweiten Einkommens auf.

Daran würde sich nur dann etwas ändern, wenn die Kinderbetreuung komplett vom Staat finanziert würde. Doch auch dann müssten diese Kosten aus dem Bruttosozialprodukt bestritten werden, und es ist wenig wahrscheinlich, dass Familien dann keine höhere Steuern zahlen oder nicht auf andere staatliche Leistungen verzichten müssten.

Die höhere Erwerbsneigung untergräbt so die wirtschaftliche Basis der Familie. Familien geraten gegenüber der übrigen Bevölkerung ins Hintertreffen. Die freie Wahl zwischen Familie und Beruf mag frei sein für den, der sie ausübt – sie schafft Unfreiheit für andere.

Historisch gesehen ist diese freie Wahl zwischen Familie und Beruf für breite Bevölkerungsschichten ein neuartiges Phänomen. Erst die Adenauersche Rentenreform vor 50 Jahren hat die wirtschaftliche Abhängigkeit von eigenen Nachkommen gelockert – und damit die Möglichkeit geschaffen, auf Nachkommen zu verzichten.

Und erst die breite Verfügbarkeit von künstlichen Verhütungsmitteln seit den 60er Jahren hat es möglich gemacht, diesen Verzichtswunsch in die Tat umzusetzen und trotzdem nicht ehelos oder enthaltsam zu leben. Beides zusammen hat seit dem Pillenknick eine immer stärkere Unwucht in der Lastenverteilung zwischen den Generationen und innerhalb der einzelnen Generationen geschaffen.

Mit Rentenbeiträgen beteiligen sich alle Erwerbstätigen am Unterhalt für die Eltern- und Großelterngeneration. Der Unterhalt der Kinder bleibt hingegen allein den Eltern überlassen. Eltern verzichten dafür nicht nur auf Erwerbseinkommen, sondern auch auf Rentenansprüche.

Kinderlose erwerben in dieser Zeit Rentenansprüche, die später von den Kindern anderer Leute bedient werden müssen – die selbst meist geringere Rentenansprüche haben, obwohl sie die Kosten jener Kinder überwiegend allein getragen haben.

Dem wäre allenfalls durch massive Umverteilung von Kinderlosen zu Familien entgegenzuwirken. Das jedoch kehrte die heutige Lage vollständig um. Seit fünfzig Jahren wird massiv von Familien zu Kinderlosen umverteilt.

Mit der diskutierten Kürzung von Familienleistungen zugunsten der staatlichen Finanzierung von Kinderkrippen würde sich an diesem Ungleichgewicht überhaupt nichts ändern. Es würde im Gegenteil weiter verschärft.

Die Umverteilung von Familien zu Berufstätigen tritt damit in eine neue Phase: Genommen wird den Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen (und dafür auf Erwerbseinkommen verzichten), gegeben den Eltern, die Betreuungsleistungen in Anspruch nehmen, um Erwerbseinkommen zu erzielen.

Eine gerechte Lösung wäre zum Beispiel ein erheblich höheres Kindergeld, das die Kosten von Krippen, Kindergärten, Horten und Berufsausbildung ausgleichen könnte. Es wäre das fehlende Gegenstück zur Rente und müsste wie die Rente aus Sozialbeiträgen oder aus Steuermitteln finanziert werden. Die Höhe müsste sich am Ziel orientieren, die heutige Umverteilung von Familien zu Kinderlosen zu kompensieren.

Von solchen Zielen allerdings ist die gegenwärtige Familienpolitik weit entfernt. Sie suggeriert das Unmögliche – die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – und vergrößert die wirtschaftliche Benachteiligung von Familien, statt sie zu verringern.

Lakonisch referiert Rudolf Maresch in Telepolis einige Thesen von Norbert Bolz:

Während die Kluft zwischen dem Lebensstil von Eltern und dem von Kinderlosen stetig wächst, schreitet der Zerfallsprozess, den Funktionalisten beschreiben, munter voran. Sein Ende ist am Horizont schon zu beobachten. Ganz nüchtern müsse man daher feststellen, dass Kinderaufzucht und Erziehung nicht mit der modernen Wirtschaft kompatibel sind. Mit Kindern kann der moderne Kapitalismus, außer sie konsumieren, wenig anfangen. Eine Familie zu gründen, ist mittlerweile eine törichte Entscheidung mit ungewissem Ausgang. Wer sich dazu bekennt, handelt ökonomisch dumm, weil er sich unnötige Kosten aufbürdet, die er besser anderweitig ausgibt, aber auch kulturell fahrlässig, weil er sich freiwillig eigener Chancen und persönlicher Bewegungsfreiheit beraubt.

Kinder haben keinen Wert, in sie zu investieren, macht keinen Sinn, sie bleiben unkalkulierbare Fixkosten hinsichtlich Ausbildung, Sozialisation und Beruf. […] Der „Vorsorgestaat“ (Francois Ewald) oder „vorsorgende Sozialstaat“, wie es im SPD-Programm jetzt heißt, lügt sich in die Tasche, und mit ihm all jene Kohorten rotgrüner Besserverdiener, die glauben, den „Kinderschwund“ durch eine „Verstaatlichung der Kinder“ beikommen zu können. Sie in soziale Bewahranstalten zu sperren, wird kaum für Abhilfe sorgen. Sie bieten vielleicht Betreuung, aber keine Hingabe und liebevolle Zuwendung. Und sie bieten Kompensation, um das schlechte Gewissen und Schuldgefühle von Eltern zu betäuben. Was die Gesellschaft im innersten zusammenhält: Handlungen zu begehen ohne Gegenleistung zu erwarten, kann weder vom Markt noch vom Staat organisiert werden.

Dem ist wenig hinzuzufügen.

Wertfragen

Am Ende, wenn die Debattenmaschine einmal stillsteht, bleibt eine ganz einfache Frage: Was ist höher zu bewerten – Familie oder Beruf? Vermutlich ist es ein Zeichen für den sicheren Niedergang einer Gesellschaft, wenn sie Beruf höher bewertet als Familie. Denn nur die Familie kann ihren eigenen Fortbestand und damit den jeder Gesellschaft sichern.

Der Beruf kann der Familie gegenüber nur den zweiten Rang haben. Er trägt durch das damit erwirtschaftete Einkommen zum Fortbestand der Familie bei, aber mehr eben auch nicht. Kein Beruf bringt Kinder hervor. Jedes Berufsleben ist irgendwann zuende, eine Familie besteht fort. Berufliche Positionen können wechseln, Familie braucht Stabilität. Es ist kein Zufall, dass die Geburtenrate unter die Schwelle von 2,1 Kindern pro Frau sinkt, wenn der Beruf höher bewertet wird und die Familie nicht mehr stabil ist.

Die CDU/CSU steht am Scheideweg. Seit ihrer Gründung hatten die Unionsparteien eine klare Wertehierarchie: Die Familie ging vor. Davon ist nicht mehr viel übrig. Gleichen Rang können Familie und Beruf nicht gut haben. Denn Werte sind ja gerade dann wichtig, wenn eine freie, nicht durch Zwänge bestimmte Entscheidung ansteht. Wer zwischen zwei Alternativen wählen kann, wählt die höherwertige.

Insofern ist die Wahlfreiheit, die jetzt allenthalben beschworen wird, nicht viel mehr als ein Popanz. Denn die Doppelverdiener-Ehe mit (kleinen) Kindern ist ein fragiles Modell. Soll ein nennenswertes Familienleben übrigbleiben, dann ist sie allenfalls auf Teilzeitbasis möglich. Zwei Teilzeitjobs reichen indes in den seltensten Fällen aus, um eine Familie zu ernähren (und die höheren Kosten einer doppelten Berufstätigkeit zu bestreiten) – womit das Dilemma hinreichend beschrieben ist.

Es bleibt eine Wertentscheidung zwischen Familie und Beruf, und wer dem Beruf den Vorzug gibt, legt die Lunte an die Familie. Scheidungsquoten und Abtreibungszahlen schreien zum Himmel. Die Einverdiener-Ehe ist hingegen besser als ihr Ruf. Sie verteilt die Lasten zwar nicht gleich, aber jedenfalls nicht ungerecht. Sie ist unter den heutigen Bedingungen des Berufslebens praktikabel und überfordert niemanden. (Und nein, es ist nicht zwingend der Mann, der das Geld nach Hause bringt.)

Kinderkrippen sind ein Notbehelf für jenes Drittel junger Mütter (oder Väter), die schon in den ersten drei Lebensjahren ihrer Kinder zur Arbeit gezwungen sind oder sich frei dafür entscheiden, weil sie den Beruf höher bewerten als die Familie. Der aktuelle Streit, reduziert um allerlei ideologisch motiviertes Getöse, tobt um die Finanzierung dieser im Wesentlichen unumstrittenen gesellschaftlichen Aufgabe.

Bischof Mixa hat mit scharfen Worten die Pläne gegeißelt, zu dieser Finanzierung einseitig die Familien selbst heranzuziehen. Der Präzedenzfall dafür war das Elterngeld, das zu großen Teilen durch die Streichung des Erziehungsgeldes und die Kürzung der Kindergeldbezugsdauer finanziert wird. Die aktuellen Vorschläge der SPD für den Krippenausbau sehen genau das vor: Das Kindergeld soll nicht erhöht und die dadurch freiwerdenden Mittel umgeschichtet werden. Das lehnt Ministerin von der Leyen zwar ab, hat aber keine anderen Vorschläge.

Nun zahlen Normalverdienerfamilien das seit Jahren nicht mehr erhöhte Kindergeld ohnehin schon aus eigener Tasche. Der Fiskus nimmt uns das Geld zunächst über die Steuer weg, um es anschließend durch das Arbeitsamt wieder auszahlen zu lassen. Einfacher wäre es, gleich den Steuerabzug um die Höhe des Kindergeldes zu kürzen.

Aber statt die Familien tatsächlich nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu besteuern, nimmt der Staat mehr, als viele Familien entbehren können – nur um das Geld anschließend auf verschlungenen Wegen als Sozialleistung zurückzuzahlen.

Der Hort, den mein schulpflichtiger Sohn besucht, wird von einer Elterninitiative getragen und aus öffentlichen Kassen kaum unterstützt. Für den kirchlichen Kindergarten zahlen wir happige Beiträge. Wahrscheinlich reichen unsere Steuern auch noch, um damit die Schule und öffentliche Zuschüsse für den Kindergarten zu bestreiten.

Uns jetzt noch mehr Geld zu nehmen, um damit Kinderkrippen zu bezahlen, ist weder recht noch billig. Diese Aufgabe muss aus dem allgemeinen Steueraufkommen (plus Beiträgen der Eltern von Krippenkindern) bezahlt werden. Dann tragen auch wir gern unseren Anteil.

Es geht eben nicht um ein paar Grenzfälle, sondern um die gerechte Verteilung der Lasten. Und es geht um Werte (Familie oder Beruf?) und Normen: Ein- oder Doppelverdiener? Fremdbetreuung oder Familie?