in Catholica, Diaconia

Das müssen in Zukunft Ehrenamtliche machen

Was bedeutet dieser Satz?

  • Das: Das, was bis dato Hauptamtliche gemacht haben? Das, was keiner mehr machen will? Von dem eigentlich auch keiner mehr will, dass es überhaupt noch gemacht wird? Das, was irgendwie oder unbedingt gemacht werden muss? Ja, was eigentlich?
  • müssen: Ehrenamtliche müssen gar nichts, oder jedenfalls nur das, was sie wollen oder selbst meinen zu müssen. Vor allem sind sie keine Lückenbüßer dort, wo die Profis nichts mehr reißen können.
  • in Zukunft: Was für eine Zukunft? Und wann tritt sie ein? Muss in dieser ominösen Zukunft überhaupt noch etwas gemacht werden? Alles unklar. Vieles erledigt sich von selbst.
  • Ehrenamtliche: Welche Ehre? Welches Amt? Zur größeren Ehre Gottes? Oder wessen? Und was für ein Amt? Sicher nicht das Lehramt, oder das Verwaltungsamt. Sicher nicht das Weiheamt, oder doch, wenn wir an Diakone im Zivilberuf oder gar Arbeiterpriester denken? Warum sprechen wir nicht von Dienen (Dienst -> Dienstleistung -> Service -> Ministry)? Vergesst den Begriff!
  • machen: Und warum überhaupt machen? Erst einmal geht es um das Sein. Wozu sind wir da? Da fängt das Fragen von vorne an.

Weihnachten 2017

Das erfreulichste Ereignis des nun ablaufenden Jahres war ohne Zweifel die Goldene Hochzeit meiner Eltern, die wir im Mai feiern durften. Dieser sonnige und warme Frühlingstag wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Mein Vater, der in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag erlebt hat, war lange Zeit skeptisch, wenn er auf seinen 50. Hochzeitstag angesprochen wurde. Doch nun war es soweit, und es war ein glücklicher Tag. Dazu trug auch bei, dass meine Neffen dabei waren, nach etlichen Jahren ohne Kontakt. Die beiden, im Alter genau zwischen unseren beiden Söhnen, sind inzwischen zu jungen Männern herangewachsen, die schon ihre ersten Schritte ins Berufsleben gesetzt haben.

Für mich sind in diesem Jahr die Chancen, einmal in ferner Zukunft meine Goldene Hochzeit feiern zu können, drastisch gesunken. Am 2. Januar teilte mir meine Frau mit, dass sie nicht mehr mit mir zusammenleben will. Nach dem ersten Schock habe ich schnell beschlossen, das Beste aus der neuen Lage zu machen, den Schaden zu begrenzen und eine mögliche Katastrophe abzuwenden. Und das ist uns bis jetzt auch ganz gut gelungen.

Es ist etwa so wie im Gefangenendilemma: Das Beste ist es, wenn beide Partner miteinander kooperieren. Verhält sich einer unkooperativ, dann verlieren beide. So geschieht es häufig bei Trennungen. Der Spieltheorie zufolge lässt sich das nur vermeiden, wenn das Spiel offen bleibt – wenn die Zahl der Runden nicht begrenzt ist. Es muss also darum gehen, das Spiel offen zu halten. Uns hat bis jetzt wohl ein gewisser Pragmatismus geholfen, die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Es wäre schön, wenn das so bliebe. Ich bin einigermaßen optimistisch.

Zu Anfang des Jahres steckten wir noch mitten in der Sanierung unserer Häuser, die neuen Mieter zogen dann zum Februar und März ein. Da war noch etliches zu regeln, und meine Sorge war zudem, unsere finanziellen Verhältnisse zu stabilisieren und auf die neue Situation anzupassen. Am Ende dieses Jahres scheint das erreicht. Die neuen Zinsvereinbarungen sind unterschrieben, die Häuser sollten bis 2028 schuldenfrei sein.

Meine Frau ist Anfang Februar in eine neue Wohnung gezogen, nicht weit von hier. Meine Söhne haben viel darüber gelernt, was in Haus und Garten zu tun ist. Im August ging unser Großer dann aus dem Haus, um sein Studium aufzunehmen. Seitdem habe ich ihn nur noch zweimal gesehen, als wir das 60-jährige Ordensjubiläum meiner Tante und den Geburtstag meiner Mutter gefeiert haben. Erst zu Weihnachten wird er wieder für ein paar Tage hier sein.

Seit Ende August leben also unser Jüngster und ich zu zweit in diesem schönen, großen Haus, das wir gemietet haben. Es gab also in diesem Jahr doch einiges, an das wir uns erst gewöhnen mussten. Den Dänemark-Urlaub haben wir diesmal in zwei Etappen verbracht: in der ersten Woche meine Söhne und ich, in der zweiten Woche unser Jüngster und meine Frau. Eigentlich wollte unser ältester Sohn auch zwei Wochen in Aarhus bleiben, aber dann bekam er kurzfristig eine Zusage für seinen Studienplatz und musste deshalb vorzeitig abreisen, um die Formalitäten zu regeln. Aarhus war in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas und auch unabhängig davon eine Reise wert. Wir hatten dort ein wunderbares Ferienhaus, in dem wir uns sehr wohl gefühlt haben.

Unser Jüngster hat im Sommer nach der 10. Klasse seinen ersten Schulabschluss gefeiert, mit einer Abschlussfeier in der Schule und einer Party für Schüler und Eltern. Es war schon fast wie eine Abifeier, die meisten Mädchen trugen lange Kleider, die Jungen Anzüge oder Sakko. Nach den Sommerferien haben nun für ihn die drei Jahre Oberstufe begonnen, in einer neu zusammengesetzten Klasse.

Beruflich lief in diesem Jahr alles rund. Ich habe eine Reihe von Büchern auf den Markt gebracht und zu diesem Zweck für meinen Arbeitgeber einen kleinen Verlag gegründet. Ich schreibe auch selbst regelmäßig und habe viel Freude daran. Die Firma, für die ich arbeite, ist Anfang des Jahres an einen großen IT-Konzern verkauft worden. Es ist klar, dass sich daraus in den nächsten Jahren diverse Veränderungen ergeben werden.

Nimmt man die letzten Jahre zusammen, so zeigt sich, dass kaum ein Lebensbereich ohne große Veränderungen geblieben ist. Es fühlt sich wie ein Neustart an, mit allen Konsequenzen. Unter dem Strich haben die verschiedenen Neuanfänge jede Menge Energie freigesetzt, die zuvor gebunden war. Auch schmerzhafte Veränderungen haben ihre guten Seiten, obwohl das nicht immer leicht zu erkennen ist. Um es mit einem Song von Mark Forster zu sagen: „Egal was kommt, es wird gut, sowieso. Immer geht ne neue Tür auf, irgendwo. Auch wenn’s grad nicht so läuft, wie gewohnt. Egal, es wird gut, sowieso.”

Paulus schreibt im 1. Brief an die Korinther (13,13): „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.“ Und Papst Benedikt notierte vor zwölf Jahren in seiner Enzyklika „Deus caritas est“:

Die Hoffnung artikuliert sich praktisch in der Tugend der Geduld, die im Guten auch in der scheinbaren Erfolglosigkeit nicht nachläßt, und in der Tugend der Demut, die Gottes Geheimnis annimmt und ihm auch im Dunklen traut. […] Der Glaube, das Innewerden der Liebe Gottes, die sich im durchbohrten Herzen Jesu am Kreuz offenbart hat, erzeugt seinerseits die Liebe. Sie ist das Licht — letztlich das einzige –, das eine dunkle Welt immer wieder erhellt und uns den Mut zum Leben und zum Handeln gibt.

Frohe, gesegnete Weihnachten und ein glückliches Jahr 2018!

Wundersames Wanderbuch

Dieses Buch ist nicht leicht zu rezensieren. Das liegt daran, dass es zur Positionierung zwingt. Der Leser muss sich irgendwie dazu verhalten. Neutral zu bleiben ist quasi unmöglich. Es wirft ein neues Licht auf die eigene Biografie, ein reflexiver Vorgang.

Aber auch aus anderen Gründen bin hier nicht neutral. Mittlerweile kenne ich die Herausgeberinnen und einige der Autoren, war auf zwei Veranstaltungen, eine davon war quasi das Event zum Buch. Deshalb ist hier keine mehr oder weniger objektive Rezension zu erwarten. Dafür sind schon zu viele Beziehungen entstanden. Genau dies leistet dieses Buch: Es stiftet Beziehungen.

Andererseits bin ich auch überhaupt nicht mit allem einverstanden, was in diesem Buch so steht. Zum Beispiel nerven mich sprachliche Desaster wie das mehrfach vorkommende Wortungetüm „Mitglieder_innen“. Das Mitglied ist bekanntlich sächlich, ein Neutrum. Welcher Lektor hat da gepennt? Auch Begriffe wie „Pfarrperson“ halte ich nicht gerade für den Höhepunkt der Sprachkultur. (Obwohl besser als Binnen-I oder penetrante Doppelnennungen.)

Die Schwächen in der Form sind gewissermaßen Programm. Hier ist nichts fertig, sondern alles im Fluss. Es ist kein theologischer Sammelband im engeren Sinne, sondern eher Dokument einer Theologie des Wanderns und Wunderns im Spannungsfeld zwischen Fremdheit und Dazugehörigkeit. Das Wort Theologie darf hier nicht akademisch verstanden werden wie gewohnt, sondern eher wortgetreu als die Rede von Gott.

Das Buch ist das Manifest einer Bewegung, ohne dass es diesen Anspruch erheben würde und ohne ein Manifest im klassischen Sinne zu sein. Es versammelt eher eine ganze Reihe verschiedener Perspektiven. Es spannt damit einen Raum auf, ohne ihn füllen zu können oder das überhaupt zu wollen. Es ist der Raum jener 95 Prozent der eingeschriebenen Kirchenmitglieder, die nicht mehr jeden Sonntag am Gemeindegottesdienst teilnehmen. Oder derer, die weder einer Kirche angehören noch ihren Fuß in eine Kirche setzen würden.

Wir sind nämlich längst eine Art virtueller Volkskirche geworden, die zwar auf dem Papier noch immer eine Mehrheit der Bevölkerung umfasst, sich aber in der Praxis weit vom Leben der meisten Mitglieder entfernt hat. Oder ist es umgekehrt? Haben sich die Mitglieder vom Leben der Kirche entfernt?

Wie auch immer. Es ist ein großer Raum der Fremdheit entstanden, in den hinein es zu wirken gilt. Dieses Wirken heißt gemeinhin Mission. Es ist und bleibt der Auftrag der Kirche, das Evangelium bis an die Enden der Erde zu tragen. Inzwischen kommt das Evangelium von den Enden der Erde wieder zurück zu uns – ein Prozess, der gewöhnlich als Neuevangelisierung beschrieben wird.

Im Kern geht es um die Frage, ob die 99 verlorenen Schafe ignoriert werden dürfen, damit es das verbliebene Schaf weiterhin schön kuschelig hat. Rhetorische Frage? Viele Gemeinden sehen das definitiv anders und kreisen in einer langsamen, aber stetigen Abwärtsspirale um sich selbst.

Dieses Buch handelt von der Fremdheit als Gabe und Aufgabe, und es beschreibt diese Fremdheit radikal subjektiv und ohne Anspruch auf Objektivität. Es ist insofern ein Augenöffner, weil es einen neuen Blick auf die jeweils eigenen Fremdheitserlebnisse erlaubt. Ich kann meine eigene Kirchen- und Glaubensbiografie anders lesen.

Warum bin ich schon in den späten achtziger Jahren aus dem Ministrantendienst meiner Heimatstadt geworfen worden, zusammen mit einigen anderen Mitstreitern? Warum habe ich dennoch weiterhin ministriert? Warum bin ich vor vier Jahren aus der Ausbildung zum Diakon geworfen worden? Warum habe ich dennoch seit 2013 an drei Weiheliturgien teilgenommen, zweimal ministriert und davon einmal dem Bischof das Buch gehalten, während er die Weihe eines meiner ehemaligen Kurskollegen vollzog?

Die erste Antwort heißt: Weil es geht. Eine typische Antwort der digitalen Generation. Das Internet und die Digitalisierung haben uns in die Lage versetzt, Dinge zu tun, die zuvor unmöglich waren. Wir sind es gewohnt, so etwas zu tun. Wir gehen an die Grenzen und darüber hinaus. Das ist im Kern ein missionaler Habitus. Wir können nicht anders. Wir sind fremd, aber loyal. Wir gehen dorthin, wo es womöglich wehtut.

Aber es tut nicht weh, sondern es macht glücklich, Grenzen zu überwinden. Ich bin aufgewachsen zwei Kilometer vor dem Eisernen Vorhang, allerdings auf der richtigen Seite. Für mich war die DDR-Grenze daher durchlässig, aber ich wusste, was sie bedeutet, weil sie auch meine Familie getrennt hat. Wir hatten Verwandte im Osten. Und ich habe den Fall der Mauer und der Grenzzäune im November 1989 miterlebt und gefeiert.

Ich gehörte zu den Sternsingern, die im Januar 1990 von Duderstadt nach Ecklingerode gingen. Am Tag der ersten und letzten freien Wahlen in der DDR im März bin ich mit einem heutigen Priester zum Sonnenstein gewandert, weil wir zu Ostern 1990 auf diesen Berg gehen und dort zusammen mit Jugendlichen aus dem Osten am Osterfeuer feiern wollten.

Nur wenige Jahre später kam das Internet in mein Leben, das alle Grenzen überschritt und uns eine neue Welt öffnete. Ich lernte spätestens nach 2000/2001, dass Scheitern dazugehört, aber eher als Lernprozess denn als Katastrophe zu verstehen ist. Von toten Pferden abzusteigen und neue Wege zu suchen ist selbstverständlich. Scheitern als Teil der Geschichte statt als Katastrophe.

Die zweite Antwort heißt daher: Ich bin es gewohnt, anzuecken und mich neu zu orientieren. Ich komme damit besser zurecht als die kirchlichen Strukturen, die zwar ihre autoritär-hierarchische Vergangenheit dekonstruiert, aber keine neue Führungskultur herausgebildet haben und deshalb im Konfliktfall gern in autoritäre Muster verfallen. Nicht mein Problem. Oder doch?

Aus dem zivilen Leben bin ich eine andere Führungskultur gewohnt als wir sie in der Kirche erleben. Im Vergleich zu einem gut geführten Unternehmen sieht die Kirche führungsschwach und schlecht geführt aus. Daher kann es auch nicht verwundern, dass wir die entsprechenden Resultate sehen. Tragisch, denn gerade in Krisenzeiten ist starke Führung gefragt.

Die dritte Antwort heißt: Es hat einen therapeutischen Wert, sich an die Orte und in die Räume vergangener Verletzungen zu begeben. Es ist wie mit dem regelmäßigen Besuch am Grab, der die Trauerarbeit erleichtert, weil er der Trauer einen Ort gibt. Oder wie bei einer Familienaufstellung nach Hellinger, die ein starkes Gefühl für Störungen gibt, die zum Scheitern geführt haben können.

Weglaufen hilft nicht. Wir müssen uns unseren Ängsten, unseren Schmerzen, unserem Scheitern und unseren Niederlagen stellen. Das liturgische Gewand ist wie das Taufkleid, mit dem wir Christus anziehen (Gal 3,27). Es ist ein Gewand des Heiles, der Heiligung und der Heilung. Wie das Gewand Jesu, dessen bloße Berührung heilt (Mk 5,28). Eine schützende Rüstung. Oder das Kostüm einer Rolle, die Sicherheit gibt.

Maria Herrmann, Sandra Bils (Hg.): Vom Wandern und Wundern: Fremdsein und prophetische Ungeduld in der Kirche. Echter, 2017.

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Genesis, Evolution und Augustinus

In einem lesenswerten Stück, das sich mit dem Dauerbrenner „Religion vs. Wissenschaft“ (gern auch „Glaube vs. Vernunft“) beschäftigt, las ich neulich den folgenden Satz:

The US represents a different cultural context, where it might seem that the key issue is a conflict between literal readings of Genesis and key features of evolutionary history.

In letzter Zeit kam ich gelegentlich mit Freikirchlern und Evangelikalen in Kontakt, darunter auch ehemaligen, die inzwischen zu Atheisten geworden sind. (Was ich, bei allem Respekt vor der großen Ernsthaftigkeit im Glauben, angesichts mancher zum Haareraufen hanebüchenen Theologie dann auch wieder verstehen kann.) Der Konflikt zwischen einer vorgeblich wörtlichen Auslegung der Genesis und einigen Schlüsselgedanken der Evolutionsgeschichte scheint tatsächlich ein relevantes Thema zu sein.

Wirklich? Hat eigentlich niemand Augustinus gelesen? Der hat in seinem Leben insgesamt drei Genesiskommentare geschrieben, einer davon nennt sich De Genesi ad litteram, handelt also von der wörtlichen Auslegung der Genesis. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, muss an die klassische Lehre vom vierfachen Schriftsinn erinnert werden. Neben der buchstäblichen (wörtlichen) Auslegung gibt es demnach auch noch die allegorische (Glaubenswirklichkeit), die moralische (Handlungsanweisung) und die anagogische (Ausdruck der Hoffnung).

Man sieht bereits, dass sich die altkirchliche Bibelauslegung nicht auf einen einzigen Sinn festlegen lässt. Dabei ist der vierfache Schriftsinn nicht alternativ zu verstehen, sondern additiv: Die Bibel ist wahr in jedem Sinn, im wörtlichen wie im allegorischen, moralischen und anagogischen Sinn. Schon die altkirchliche Tradition der Bibelauslegung ist also deutlich komplexer als es der moderne Biblizismus erlaubt.

Der Clou ist aber: Wenn Augustinus sich an einer wörtlichen Auslegung versucht, so zieht er völlig selbstverständlich den damaligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis heran. Ihm würde es niemals einfallen, aus der Bibel naturwissenschaftliche Aussagen abzuleiten. Auch und gerade bei einer wörtlichen Auslegung greift er auf das ihm bekannte Wissen zurück, um so dem wörtlichen Schriftsinn auf die Spur zu kommen. Ja, er polemisiert sogar gegen jene, wie er sieht nennt, unbesonnenen Eiferer, die das anders halten:

Oft genug kommt es vor, daß auch ein Nichtchrist ein ganz sicheres Wissen durch Vernunft und Erfahrung erworben hat, mit dem er etwas über die Erde und den Himmel, über Lauf und Umlauf, Größe und Abstand der Gestirne, über bestimmte Sonnen- und Mondfinsternisse, über die Umläufe der Jahre und Zeiten, über die Naturen der Lebewesen, Sträucher, Steine und dergleichen zu sagen hat. Nichts ist nun peinlicher, gefährlicher und am schärfsten zu verwerfen, als wenn ein Christ mit Berufung auf die christlichen Schriften zu einem Ungläubigen über diese Dinge Behauptungen aufstellt, die falsch sind und, wie man sagt, den Himmel auf den Kopf stellen, so daß der andre kaum sein Lachen zurückhalten kann. Daß ein solcher Ignorant Spott erntet, ist nicht das Schlimmste, sondern daß von Draußenstehenden geglaubt wird, unsere Autoren hätten so etwas gedacht. Gerade sie, um deren Heil wir uns mühen, tragen den größten Schaden, wenn sie unsere Gottesmänner daraufhin als Ungelehrte verachten und zurückweisen. Denn wenn sie einen von uns Christen auf einem Gebiet, das sie genau kennen, bei einem Irrtum ertappen und merken, wie er seinen Unsinn mit unseren Büchern belegen will, wie sollen sie dann jemals diesen Büchern die Auferstehung der Toten, die Hoffnung auf das ewige Leben und das Himmelreich glauben, da sie das für falsch halten müssen, was diese Bücher geschrieben haben über Dinge, die sie selbst erfahren haben und als unzweifelhaft erkennen konnten? Es ist unbeschreiblich, wie viel Verdruß und Kummer einsichtigen Brüdern durch solche unbesonnene Eiferer bereitet wird, die von Leuten, die nicht durch die Autorität unserer Bücher gestützt werden, in ihren verkehrten und falschen Ansichten verächtlich zurückgewiesen werden und dann beginnen, das zu verteidigen, was sie in ihrer leichtsinnigsten Verwegenheit offenkundig falsch gesagt haben.
–Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis

Mir scheint, der moderne Biblizismus ist ein selbstgeschaffenes Problem, das eigentlich nur durch völlige Unkenntnis der Kirchenväter, und hier namentlich Augustinus, zu erklären ist. Kann es sein, dass im Gefolge der Reformation (sola scriptura) mancherorts eine angemessene kirchliche Bibelhermeneutik verloren gegangen ist, wie sie zum Beispiel – nach wie vor vorbildlich – die Päpstliche Bibelkommission 1993 in ihrem Dokument Die Interpretation der Bibel in der Kirche beschrieben hat? Ironie der Geschichte: In Ermangelung einer brauchbaren Hermeneutik zieht man sich am Ende auf ein wörtliches Verständnis der Bibel zurück, das allerdings nicht einmal der wörtlichen Interpretation zum Beispiel eines Augustinus entspricht, ja im Gegenteil von Voraussetzungen ausgeht, die schon Augustinus abgelehnt hatte.

Überlegungen am Vorabend der Wahl

Morgen wird der 19. Deutsche Bundestag gewählt, und wie im Grunde schon länger klar ist, werden dem neuen Parlament wahrscheinlich sechs (mit der CSU sieben) Parteien angehören. Auch wenn dies die Regierungsbildung erschweren dürfte, sehe ich keinen Grund zur Panik. Aber der Reihe nach.

  1. Die Kanzlerfrage ist schon lange entschieden. Angela Merkel bleibt Kanzlerin, Martin Schulz hatte aus einer Vielzahl von Gründen keine Chance und dürfte der SPD ein historisch schlechtes Wahlergebnis bescheren, und zwar völlig zu Recht. Der Wahlkampf der SPD war unterirdisch schlecht. Auch die Grünen haben kaum Gründe geliefert, warum sie gewählt werden sollten. Weshalb auch nur ihre Stammwähler grün wählen werden und eine hohe Wahlbeteiligung für die Grünen gefährlich werden dürfte.
  2. Die Koalitionsfrage hingegen ist offen. Die Merkel-CDU ist in der Mitte des politischen Feldes so positioniert, dass sie mit allen Parteien außer Linken und AfD koalieren könnte, je nach Opportunität und Machtverhältnissen. Sie ist weder ausgeprägt rechts/konservativ noch links, weder autoritär noch besonders liberal – sie ist alles und nichts zugleich. Eine Partei wie die heutige CDU hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Sie hat alle anderen Parteien zu Satelliten degradiert, die irgendwie um die CDU kreisen.
  3. Im nun vergangenen Bundestag gab es zwei mögliche Alternativen zur Großen Koalition: Rot-rot-grün (R2G) und Schwarz-grün. Beide sind Geschichte, wegen des Niedergangs der SPD und der Grünen, die mit dem (Wieder-)Aufstieg der FDP und der AfD einhergehen. Was SPD und Grüne mit der Linken (und der AfD) eint, ist ihr autoritäres, illiberales Politikverständnis. Sie glauben sich im Kern moralisch überlegen und im Besitz einer Wahrheit, die dem Rest der Gesellschaft im Rahmen der Möglichkeiten des demokratischen Rechtsstaates aufgezwungen werden muss, zu deren vermeintlich Besten.
  4. Der neue Bundestag wird die Gesellschaft sehr viel besser abbilden als der alte. Das ist aus demokratischer Perspektive eine gute Sache. Mit außerparlamentarischer Opposition hat dieses Land keine guten Erfahrungen gemacht. Opposition gehört ins Parlament. Ihre vornehmste Aufgabe ist, eine Alternative zur Regierung bereitzustellen. Hier versagt die SPD in einer dramatischen Weise, die jedem Demokraten Kopfschmerzen bereiten muss. Es ist leider überhaupt nicht zu erkennen, wie die CDU als Regierungspartei jemals abgelöst werden kann.
  5. Wer eine liberale Politik bevorzugt, hat in diesem Lande, im Gegensatz zu den Anhängern eines autoritären Politikstils, keine große Auswahl. Wer sich mit dem Opportunismus der Mitte, wie ihn die Merkel-CDU pflegt, nicht anfreunden kann, dem bleibt im Grunde nur die FDP, nachdem sich die AfD vom konservativ-liberalen ins rechts-autoritäre Politikfeld bewegt hat.
  6. Da gegen die CDU keine Regierung gebildet werden kann, läuft es also entweder auf eine Fortsetzung der Großen Koalition, auf Schwarz-gelb oder auf Jamaika hinaus. Die SPD kann froh sein, wenn ihr Abstand zur AfD nicht zu sehr schrumpft und sie weiterhin mitregieren darf. Wird die FDP drittstärkste Kraft oder wenigstens zweistellig, ist eine schwarz-gelbe Mehrheit und eine dementsprechende Koalition wahrscheinlich. Ob Jamaika realistisch ist, lässt sich schwer einschätzen. Wer keine Große Koalition wünscht, sollte daher FDP wählen.
  7. Neuwahlen aufgrund einer gescheiterten Regierungsbildung sind hingegen unwahrscheinlich. Denn dann dürfte die AfD noch einmal zulegen, zum Schaden der übrigen Parteien, die nicht zuletzt deshalb ein starkes Interesse am Mitregieren haben sollten.
  8. Alle Parteien außer der AfD eint das Versagen, das Thema No. 1 dieses Wahljahres, nämlich Einwanderung, nicht klar genug adressiert und letztlich der AfD überlassen zu haben. Es ist zugleich die einzige offene Flanke der CDU. Bei diesem Thema gab es keine Opposition im Parlament, einmal von der CSU abgesehen, die zeitweise die innerkoalitionäre Oppositionsrolle übernahm, aber selbstverständlich nicht so blöd war, diese Rolle auch im Wahlkampf einzunehmen. Einwanderung wäre das Gewinnerthema der SPD gewesen, wenn sie sich dazu von Anfang an klüger positioniert hätte und die Interessen derer vertreten hätte, die früher einmal SPD-Stammwähler waren. So verliert die SPD, wie sie in den 80ern Wähler an die Grünen, in den 90ern an die Linke und zuletzt an die CDU verloren hat, zu guter Letzt auch noch an die AfD. Wir erleben das Ende einer großen Volkspartei.

Die Bundesrepublik wird am Montag eine andere sein.

Das Produkt der Kirche

Bei den folgenden Gedanken handelt es sich um leicht bearbeitete Auszüge aus einer längeren Diskussion auf Facebook.

Die passive Kirchenmitgliedschaft ist zunächst die Voraussetzung, um daraus mehr zu machen. Wir haben ja eine flächendeckende Mitgliederdatei mit Adressen und persönlichen Daten. Daraus lässt sich auch viel mehr machen als derzeit so gemacht wird, also weit über gelegentliche Bettelbriefe und Anschreiben von Kommunionkinderjahrgängen hinaus.

Retention-Kampagnen sind schon ok. Wer erst mal weg ist, den bekommt man nicht so schnell wieder.

Heute ist es empirisch so, dass die meisten kirchlichen Produkte mehr oder weniger schwach nachgefragt werden. Trotzdem entwickeln wir kaum neue Produkte oder verbessern signifikant die bestehenden. Nehmen wir mal als unverfängliches Beispiel das äußere Outfit der meisten Gemeinderäume – eine Zeitreise in die 60er oder 70er Jahre… Als Insider gewöhnt man sich irgendwann vielleicht daran.

Beim Thema Spendensammeln funktioniert das Direktmarketing ja heute schon blendend. Spende einmal online für die Sternsinger oder die Caritas, und es kommen kontinuierlich professionell gestaltete Mailings.

Erst einmal haben wir ja nur Postadressen. Mailadressen zu generieren wäre mal ein sinnvoller Schritt. Lässt sich aber alles machen.

Die üblichen Kommunikationskanäle der Durchschnittspfarrei (Vermeldungen und Pfarrbrief) brechen gerade zusammen, weil sie nur noch eine zu kleine Minderheit der Gemeindemitglieder erreichen.

Das ganze Thema Fundraising wirkt auf mich schon ziemlich professionell. Es ist aber auch einfach, da es sich praktisch selbst refinanziert.

Für innovative Projekte auf lokaler Ebene scheitert das Fundraising wahrscheinlich gern am fehlenden Zugriff auf die Verteiler (da könnte ja jeder kommen…) oder an der Vorfinanzierung für das Porto (5.000 Briefe kosten halt mit Dialogpost mindestens 1.400 EUR).

Wenn die heutigen kirchlichen Produkte kaum noch nachgefragt werden, zu ihrer Produktion aber die via Kirchensteuer beschafften Ressourcen nötig sind, dann befinden wir uns in einer dauerhaften Abwärtsspirale. Das kann man sicher als gegeben hinnehmen, aber Evangelii Gaudium oder auch Evangelii Nuntiandi sagen da etwas anderes.

Das Produkt der Kirche ist nicht Christus. Höchstens insofern, als die Kirche der Leib Christi ist. Das Produkt ist unser Dienst an den Menschen, in Diakonie, Liturgie, Verkündigung und Gemeinschaft. Dieser Dienst muss immer wieder neu ausgestaltet (=Design) werden.

Diakonie muss sich den Armen und Bedürftigen der jeweiligen Zeit zuwenden, da sind stetige Änderungen erforderlich. Liturgie entwickelt sich weiter (siehe Ratzinger, Der Geist der Liturgie), Verkündigung muss das Evangelium jeweils in die Sprache der Zeit übersetzen, und auch Gemeinschaft verändert sich. Was vor zwanzig Jahren vielleicht noch ganz schnafte war, lockt heute keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Das alles ist kirchliche Produktentwicklung.

Frag doch zur Abwechslung mal die 95 Prozent der zahlenden Kirchenmitglieder, die nicht da sind… Klar, die wollen wahrscheinlich auch, das alles bleibt, wie es ist. Ich will so bleiben, wie ich bin… Komisch, das Evangelium predigt Metanoia, aber alles soll so bleiben, wie es ist… Bei Design geht es nicht um bunte Bilder. Sondern um Produktdesign bzw. Service Design, um veränderte Nutzererwartungen, verändertes Nutzerverhalten und am Ende auch veränderte Geschäftsmodelle, da das Modell Kirchensteuer ja ein Auslaufmodell ist. Deshalb Fundraising, weil neue Produkte auch neue Finanzierungsquellen brauchen. So sind ja auch viele tätige Frauenorden entstanden, um mal ein Beispiel zu nennen.

Ja, Abkehr von der Sünde ist gemeint. Und genau deshalb kann nicht alles bleiben, wie es ist. Auch wenn das viele gern so hätten.

Die nötige Veränderung ist häufig ausgesprochen strittig. Allein schon der Perspektivwechsel, sich von denen, die (schon oder noch) da sind, hinzuwenden zu denen, die noch nicht oder nicht mehr da sind.

Wieso? Kann doch jeder kommen, wir sind doch eine offene Gemeinde…

Die Gemeinden sündigen, wenn sie den 99 verlorenen Schafen nicht nachgehen, weil das eine verbliebene Schaf es gern weiterhin kuschelig hätte.

De facto gehen wir den verlorenen Schafen nicht nach, und das ist Sünde.

Die Sonntagsmesse unterliegt seit Jahrzehnten einem Abwärtstrend, der uns normalerweise sehr stark beunruhigen müsste. Dieses Produkt verkauft sich schlecht. Es ist auch kein Einsteigerprodukt (mehr), sondern ein Premiumprodukt, das nur noch über Upselling verkauft werden kann. Uns fehlen aber mittlerweile geeignete Basisprodukte, denn die Kasualien allein plus Heiligabend mit Stille Nacht, Erstkommunion und vielleicht noch Firmung reichen offensichtlich nicht. Der ganze Unterbau wackelt und ist zu großen Teilen zusammengebrochen. Da ist Neubau angesagt.

Man kann sich die Situation auch irgendwie schön definieren. Dann brauchen wir nicht weiter nachdenken.

Ansonsten ist es sicher so, dass Produktentwicklung erst einmal gewollt sein muss. Dazu gehört der Gedanke, dass sich Nutzererwartungen, Nutzerverhalten und Geschäftsmodelle ändern sollen.

Heute ist es ja in etwa so: Das Geschäftsmodell ist die Kirchensteuer, die Nutzererwartungen sind nicht besonders hoch, und das Nutzerverhalten der großen Mehrheit der zahlenden Kunden eher sporadisch. Das alles ist nicht nachhaltig und befindet sich in einer Abwärtsspirale.

Wo Produktentwicklung gewollt ist, da ist eine der ersten Fragen die nach den Ressourcen. Produktentwicklung geht nicht aus dem Nichts und auch nicht irgendwie nebenbei, sondern da muss investiert werden. Und was dort an Geld, Zeit, Personal und Engagement investiert wird, kann nicht anderweitig investiert oder konsumiert werden.

Mit dem fehlenden Unterbau meine ich nicht das Fundament, das in Christus gelegt ist, sondern das, was wir darauf bauen müssen. Da sind nur noch einzelne Elemente übrig, die aber kein stimmiges Ganzes mehr ergeben. So bleibt die Initiation mit Taufe, Erstkommunion und Firmung in den meisten Fällen unvollständig, selbst wenn sie noch vollständig durchlaufen wird, weil das dementsprechende Glaubensleben nicht entwickelt wird.

Ein System funktioniert nur dann, wenn es sich selbst reproduzieren kann. Das ist heute nicht mehr gegeben, deshalb leben wir von der Substanz. Und die ist irgendwann aufgebraucht.

Wir können durchaus von den amerikanischen Megachurches lernen, zum Beispiel von Pastor Rick Warren und Saddleback, oder von Rebuilt Parish. Es geht mehr als oft gedacht.

Photo by Rob Bates on Unsplash

Lichtteilchen aus dem Kirchenlabor

Ein paar wirre Notizen und Links zum Ekklesiolab und darüber hinaus.

Die Lichtteilchen-Liturgie in der Seminarkirche, und in der Kapelle die trockenen Laudes sowie die Heilige Messe mit den Priestern des Hauses und den beiden Hartkeksen. Die CA7-Kirche. Die Kirche im Singular und mit bestimmtem Artikel. Die Einsicht, dass ich exegetisch nicht hinter „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ (1993) zurück möchte.

Der Film „Imagine“ (2012). Podcasts von The little web service bis The Liturgists, Michael Gungor („Beautiful Things“) und Rob Bell. Freakstock und MEHR. Eine Literaturempfehlung zum Lutherjahr, ach was, zur Lutherdekade. The Young Pope.

Ein therapeutischer Aufenthalt in einem Haus, mit dem eine schmerzliche biografische Katastrophe Niederlage Episode Geschichte verbunden ist. Ein Buch, das mich nun schon mit zwei Veranstaltungen verbindet. Eine wunderbare Wander- und Laborgemeinschaft. Biene’s Holzwurm und der Barmissionar mit Thekenkompetenz. Wasser vom Himmel, die Innerste gefüllt bis zum Rand, Blaulicht und Martinshorn rund um die Uhr.

Eine Woche voller Leben, Licht, Wasser, Wort und Geist. Deo gratias!

Achtung, Theologieverdacht!

Notizen aus dem Ekklesiolab, dritte Lieferung

Theologie, die Rede von Gott, manifestiert sich offensichtlich im gesprochenen und geschriebenen Wort. Wo Christliche Theologie sich im Wort manifestiert, ist sie notwendigerweise reflexiv, soweit sich dieses Wort auf den Logos bezieht, der im Anfang war (Joh 1,1). Vermutlich liegt jedoch der größte Teil der real existierenden Theologie gar nicht im expliziten Wort vor, sondern manifestiert sich implizit in Strukturen, Räumen, Gebäuden, Gemeinschaften, Zeiten, Sprache, Bildern, Kunst, Musik etc. – das ist der Verdacht. Widmen wir uns also der Beweisaufnahme.

Beweismittel No. 1: Struktur

Die kirchliche Hierarchie ist strukturgewordene Theologie. Sie bildet das Rückgrat des Leibes Christi, der die Kirche ist. Darin, wie die Hierarchie lebt und gelebt wird, manifestiert und verändert sich ein Stück Theologie.

Beweismittel No. 2: Raum

Die Beziehung von Kirche und Raum ist raumgewordene Theologie. Bistümer, Landeskirchen, Dekanate, Kirchenkreise, Sprengel und Pfarreien sind nicht nur Verwaltungseinheiten, sondern Beziehungsräume. Ob sie nach dem Vorbild der Lehnsherrschaft, der Bürokratie oder der Dienstleistung funktionieren, ist ein theologisch schwerwiegender Unterschied. Es ist theologisch gerade nicht egal, ob zwischen Pfarrei (Territorium) und Gemeinde (Versammlung) unterschieden wird oder nicht, ob es Kirchort heißt oder Gemeinde. Wortungeheuer wie „Seelsorgeeinheit“ transportieren eine (schlechte und wahrscheinlich unreflektierte) Theologie.

Beweismittel No. 3: Gebäude

Kirchen (als Gebäude) sind gebaute Theologie. In ihnen manifestiert sich neben Zeitgeist und Mode immer auch Theologie. Zunächst die Theologie der jeweiligen Bauzeit, deren Ausdruck der Baukörper selbst und die Erstausstattung sind. Und dann die unterschiedlichen Theologien, die mit jeder Ergänzung der Ausstattung, jeder Renovierung und jedem Umbau einhergehen. Die Hildesheimer Seminarkirche ist dafür ein starkes Exponat.

Beweismittel No. 4: Gemeinschaft

Gemeinschaften sind Kommunikation und Beziehung gewordene Theologie. Egal ob sie einer expliziten Regel (Ordensregel, Geschäftsordnung) folgen oder implizite Kommunikations- und Beziehungsregeln haben, steckt darin immer eine bestimmte Theologie. Dies gilt für jede Gemeinschaft, denn auch eine esoterische oder eine atheistische Theologie ist eine solche. In diesen Fällen ist der theós eben ein esoterischer theós, oder es handelt sich um die Ablehnung des theós und der Rede davon.

Beweismittel No. 5: Zeit

Die Unterscheidung heiliger Zeiten von profanen Zeiten ist eine Theologie auf der Zeitachse. Wie Räume aus dem profanen Bereich herausgenommen und sakralisiert werden können, so auch bestimmte Zeiten. Gebetszeiten am Tag, der Sonntag als erster Tag der Woche, heilige Festtage, geprägte Zeiten wie Fastenzeit und Osterzeit, aber auch die Abwesenheit solcher Zeiten sind Theologie. Die Aufhebung der Trennung zwischen sakralen und profanen Zeiten ist Theologie.

Beweismittel No. 6: Sprache

Sprache selbst ist Theologie, auch wenn sie sich nicht explizit auf Gott bezieht. In Sprache sind Annahmen enthalten und Vorentscheidungen getroffen, die enorme theologische Konsequenzen haben. Sprachliche Strukturen spannen einen Raum auf für die Rede von Gott und präformieren sie.

Beweismittel No. 7: Bild

Lange vor dem iconic turn hat Theologie in Bildern gesprochen. Biblische Bilder und Gleichnisse stehen schon am Anfang aller christlichen Theologie, bildliche Darstellungen des Glaubens gehören zu den frühesten Zeugnissen theologischer Reflexion. Bilder sind wahrscheinlich die einfachste und grundlegendste Form der Theologie.

Beweismittel No. 8: Kunst

Die Rede von Gott hat zu allen Zeiten größte Kunst hervorgebracht. Lange bevor der Kunst das Museum als eigener Ort angewiesen wurde, waren Kirchengebäude Fokuspunkte für das Kunstschaffen der sie tragenden Gemeinschaften. Hier stand Kunst den Menschen aller Schichten offen, selbst wenn sie nicht getauft waren. Kunst in der Kirche war nicht exklusiv den Reichen vorbehalten.

Beweismittel No. 9: Musik

Geistliche Musik gleicht einem Gottesbeweis. Der Gregorianische Choral, die H-Moll-Messe von Bach oder die Gesänge von Jacques Berthier sprechen auf eine Weise von Gott, wie sie sonst vielleicht nur noch in Kunst und Bild möglich ist – durch ihre pure Existenz.

Fazit der Beweisaufnahme:

Die implizite Theologie ist viel umfangreicher als die explizite Theologie. Das Verhältnis zwischen beiden gleicht dem Verhältnis zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf, wie im Jahre 1215 das Vierte Laterankonzil formuliert hat:

„Denn von Schöpfer und Geschöpf kann keine Ähnlichkeit ausgesagt werden, ohne daß sie eine größere Unähnlichkeit zwischen beiden einschlösse.“

Kirchliche Räume und Resonanz

Notizen aus dem Ekklesiolab, zweite Lieferung

Nisi Dóminus ædificáverit domum, * in vanum laboravérunt qui ædíficant eam.
Ps 126(127),1

Wir kommen ja aus einer Zeit, in der kirchliche Räume vor allem durch Gebäude definiert waren, die wiederum den sie umgebenden Raum definiert haben. In der Gegend, in der ich wohne, heißen sogar Orte nach ihren Kirchen: Steinkirchen, dort ist die Kirche aus Stein. Neuenkirchen, dort steht die jüngste und kleinste Kirche. Mittelnkirchen, dort liegt die Mitte zwischen den anderen beiden Orten.

Auch wenn diese Kirchen heute nur noch recht sporadisch genutzt werden, die Identifikation der Bürger mit den Gebäuden ist nach wie vor hoch. Sie sind kulturelle Zeichen und ein Erbe, auf das zu verzichten nicht leicht fällt. Sie definieren auch noch den säkularen Raum, den Kulturraum. Ihre Kunstschätze und die zum Teil wertvollen Orgeln gehören zum Weltkulturerbe, wenn auch (noch) nicht zu dem der UNESCO.

In diesen Gebäuden findet ein geistliches Restprogramm statt, das in seiner räumlichen Umgebung nur noch schwache Resonanz findet. Es hat einen gewissen musealen Charakter, es belebt die Gebäude, die andernfalls tatsächlich zu Museen oder gar Gaststätten, Wohnungen und dergleichen umgenutzt würden. Die Signifikanz der Gebäude würde kaum leiden, falls dies eines wahrscheinlich nicht mehr allzu fernen Tages geschehen sollte.

Die Gebäude sind den Kirchen längst wertvolles Erbe und unerträgliche Altlast zugleich. Sie binden Ressourcen, Energie und Zeit, die in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Nutzung stehen. Sie machen uns zu Hütern eines Museums. Nicht zufällig greifen Kirchenrenovierungen derzeit häufig zu musealen Stilelementen. Je wichtiger das museale Erlebnis wird, desto mehr müssen die Gebäude daraufhin optimiert werden.

Und je mehr die Gebäude ihre geistliche und sakrale Signifikanz verlieren, desto schwieriger wird es, überhaupt geistliche und sakrale Signifikanz zu generieren. Die Ressourcen (Geld, Zeit, Personal, Engagement) sind in bestehenden Strukturen gebunden, die kaum noch eine Funktion haben, die über den reinen systemischen Selbsterhalt hinausgeht. Und selbst dieser wird zunehmend fraglich, denn nachhaltig ist anders.

Es ist hohe Zeit für kirchliche Neugründungen, die nicht von bestehenden Gebäuden ausgehen und sich dem Raum anders als durch die signifikante Kirche im Dorf öffnen. Die den Raum anders und neu bespielen und sich nicht scheuen, die Kommunikationsmittel der Gegenwart effektiv und effizient zu nutzen, um Resonanz zu erzeugen. Mit dem Buchdruck hat die Kirche das schließlich auch getan.