Die römische Liturgie gleicht einem uralten, knorrigen Baum. Im Jahr meiner Geburt wurde dieser Baum radikal gestutzt. Man hat ihm einen Ast aufgepropft, der seitdem kräftig gewuchert ist. Heute mühen sich manche Gärtner, an sich bewährter liturgiereformerischer Praxis entsprechend, die schlimmsten Wucherungen zurückzuschneiden.
Aus dem zur Unterlage gestutzten Baum sprießten indes von Anfang an auch wilde Triebe vom alten Holz. Hier griffen viele Gärtner mit sehr viel größerer Strenge durch. Was motivierte zum kräftigen Rückschnitt? Ich vermute, es war und ist Angst: die Angst vor der alten Messe.
Paul VI. musste 1969 fürchten, dass das neue Messbuch sich nicht sofort und flächendeckend durchsetzen würde. Also setzte er selbst es durch. Bis heute treffen sich die Kritiker der „vorkonziliaren“ Liturgie in der Scheu vor dem Wettbewerb mit eben dieser „alten“ Messe. Warum?
Wäre das Messbuch von 1969/1970 über jeden Zweifel erhaben, dann müsste es den Wettbewerb nicht scheuen. Würde jeder, der die Wahl hat, ohne Zögern zum neuen Messbuch greifen, dann hätte die alte Messe gar keine Chance. Könnte die „nachkonziliare“ Messe in der freien liturgischen Wildbahn überleben, dann müsste sie nicht vor der alten Messe geschützt werden.
Eines der häufigsten Argumente gegen eine mögliche Koexistenz ist die Furcht vor dem Biritualismus. Doch mit diesem Argument, ich schrieb es bereits, lässt sich das praktisch flächendeckende Verbot der alten Messe nicht begründen. Denn handelte es sich bei der neuen Messe um einen anderen Ritus, dann fehlte ihm die Legitimation der Tradition. Das Biritualismus-Argument richtet sich in letzter Konsequenz gegen die neue Messe, nicht gegen die alte.
Pius V. verbot 1570, als er das Missale Romanum für die ganze römische Kirche vorschrieb, nur jene Messbücher, die jünger als 200 Jahre waren. Altehrwürdige Riten sollten in Gebrauch bleiben. Nur die ketzerischen Neuerungen der Reformationszeit und der Zeit davor lehnte er im Geist des Konzils von Trient ab. Und damals ging es nicht um die Neufassung des Messbuchs ein- und desselben Ritus, sondern um eine althergebrachte liturgische Vielfalt.
400 Jahre später sehen wir ein komplett anderes Bild. Die meisten anderen Riten, die Pius V. damals faktisch unter Schutz gestellt hatte, sind inzwischen fast völlig verschwunden. Und der römische Ritus selbst ist einer fast brachial zu nennenden Reform unterzogen worden, die um ihrer Durchsetzung willen zu verzweifelten Mitteln greifen muss.
Statt der früheren organischen Vielfalt traditioneller Riten hat seitdem innerhalb des einen, reformierten römischen Ritus eine kreative, selbstgemachte Vielfalt Platz gegriffen. Die einst unverfügbare, hergebrachte Liturgie ist zur Verfügungsmasse von Klerus und selbsternannten Liturgiegestaltern geworden. Ist die Angst vor der alten Messe etwa die Angst davor, ein liebgewonnenes Spielzeug hergeben zu müssen?
Womöglich ist diese Angst sogar begründet. Vielleicht bricht das Kartenhaus des liturgischen anything goes tatsächlich zusammen. Denn heute geht liturgisch alles – nur eines nicht: die Messe nach dem Missale von 1962.
Was eigentlich genau soll passieren, wenn diese Messe wieder überall möglich wird? Würde das Messbuch von 1969/1970 sofort zur Seite gelegt? Würden alle Priester nur noch die alte Messe lesen?
Die Messe Pauls VI. ist so alt wie ich. In ihrem 38. Jahr ist sie auch schon ein Stück Tradition geworden. Sie wird vermutlich nicht einfach wieder verschwinden, und warum sollte sie es auch? Das Messbuch von 1969/1970 ist bereits revidiert worden und wird auch künftig revidiert werden. Liturgische Bestimmungen kommen und gehen. Neue Priestergenerationen werden die neue Messe würdig feiern oder auch nicht. Die unwürdige Feier des heiligen Messe hat es zu allen Zeiten gegeben.
Die alte Messe würde im Falle einer Freigabe aus ihrer traditionalistischen Nische befreit, aber weiterhin ein Nischenphänomen bleiben. Wahrscheinlich jedoch, stärker noch als unter den heutigen Restriktionen, ein wachsendes. Denn es setzten bald demographische Effekte ein, die binnen einer Generation das Bild genau dort stark verändern würden, wo schrumpfende, vergreisende Gemeinden der Generation Messbuch 1969/1970 den wachsenden, jungen Gemeinden gegenüberstehen, die die traditionelle Messe feiern. Zum Beispiel in Frankreich.
Ist das so schlimm? Sollte die Kirche in Europa etwa besser ganz aussterben? Angst ist kein guter Ratgeber, und die Angst vor der eigenen Tradition erst recht nicht. Mehr als eine Generation nach der Einführung des Messbuchs Pauls VI. ist es höchste Zeit, ein unbefangenes Verhältnis zu dieser Tradition des römischen Ritus zurückzugewinnen.
Wer hat Angst vor der alten Messe?
Niemand.
Und wenn sie kommt?
Dann laufen wir.
Nur wohin – das ist die Frage.