Das Ehrenamt als Lückenbüßer

„System der Kirche am Ende“. So titelte vor kurzem katholisch.de. Bei den Priesteramtskandidaten sei die katholische Kirche in Deutschland „quasi an der Nulllinie“ angekommen, so Hartmut Niehues, der Vorsitzende der Deutschen Regentenkonferenz, der deshalb für eine stärkere Einbeziehung der Laien in die Seelsorge plädierte.

Als Laie kann ich da mitreden. In den vergangenen zweieinhalb Jahren habe ich mein ehrenamtliches Engagement in der Gemeinde stark ausgeweitet. So bin ich seit knapp eineinhalb Jahren auch Mitglied des lokalen Leitungsteams und deshalb mit jenen Erneuerungs- und Veränderungsprozessen in Berührung gekommen, die im Bistum Hildesheim als Lokale Kirchenentwicklung bezeichnet werden. Mein Zwischenfazit fällt durchaus ernüchternd aus.

Diakon Martin Wirth definiert Lokale Kirchenentwicklung als innerkirchlichen Prozess,

„der der wachsenden Bedeutungslosigkeit der Kirche in der Gesellschaft glaubwürdig und überzeugend entgegentritt. Es ist die Frohe Botschaft Jesu Christi, die alle Glieder der Kirche zum Handeln drängt.“

Diese Definition ist gut und richtig. In der Praxis, wie ich sie derzeit erlebe, sind allerdings erhebliche Schwierigkeiten zu sehen.

So ist das Denken nach wie vor stark von vermeintlichen oder tatsächlichen Aufgaben geprägt, für deren Wahrnehmung nun, da die Zahl der Priester und der hauptamtlichen Mitarbeiter stetig abnimmt, eben die Laien (im doppelten Wortsinne) herangezogen werden. Damit dominieren vermeintliche oder tatsächliche Defizite und Lücken, die irgendwie gestopft werden wollen oder sollen.

Besser wäre ein ressourcenorientiertes Denken, das sich an dem orientiert, was da ist. Doch dieser Perspektivwechsel ist noch nicht vollzogen. So werden bestehende, ausgedünnte Strukturen und ehrenamtliches Engagement nach wie vor auf Verschleiß gefahren und Kräfte dafür gebunden, etwas aufrecht zu erhalten, was nicht mehr aufrecht zu erhalten ist.

Das Konzept der Lokalen Kirchenentwicklung scheint mir zudem nicht ganz zu Ende gedacht. Denn ohne Priester, und darauf läuft es – siehe oben – mittel- und langfristig wohl hinaus, gibt es keine Sakramente, außer vielleicht die Taufe. Eine partizipative Kirche der Laien kann sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Ihre sakramentale Struktur kann nur so lange verdünnt werden, bis das letzte Atom verschwunden ist, um einen Vergleich mit der Homöopathie zu bemühen.

Was bei Fortsetzung des gegenwärtigen Kurses früher oder später geschehen wird, ist klar: Bistümer werden zusammengelegt wie jetzt schon Gemeinden, Pfarreien und Dekanate. Es werden Missionspriester aus anderen Erdteilen kommen und dieses Land von Neuem evangelisieren. Dies wird zum Teil erbitterten Widerstand der Alteingesessenen hervorrufen, die keinen Anlass sehen, irgendetwas zu verändern. Aber das dürfte keine Überraschung sein.

Konsequenzen der Kon­sum­ge­sell­schaft

Wer den ehemaligen Münsteraner Pfarrer Thomas Frings aufmerksam wahrnimmt, der erkennt in seiner Situationsanalyse auch eine scharfe Kritik der Konsumgesellschaft, genauer: ihrer Konsequenzen für die heutige Pastoral. Große Teile des verbliebenen kirchlichen Lebens in Deutschland richten sich an anspruchsvolle Konsumenten mit einer entsprechenden Haltung.

Die Kirche ist dafür insbesondere durch ihre diakonische Ausrichtung sehr anfällig. Diakonie heißt Dienst, und Dienst kann viele Ausprägungen annehmen. Vom selbstlosen, aus Liebe zu Christus und zum Nächsten vollzogenen Dienst hin zum Service, der Anspruchshaltungen bedient, ist es oft nur ein kleiner Schritt. Prekär wird es insbesondere da, wo Ansprüche – ob berechtigt oder nicht – nicht mehr ohne Weiteres bedient werden können.

Eine konsumentenorientierte Pastoral bringt die Kirche in eine Wettbewerbsposition zu sehr vielen Alternativangeboten. Sonntagsmesse oder Golfplatz? Kirchliche Beerdigung oder freier Trauerredner? Firmung oder Jugendweihe? An den Wendepunkten des Lebens oder auch zu bestimmten Zeitpunkten wie Weihnachten und Erstkommunion wird der kirchliche Dienst noch gern in Anspruch genommen und sogar vehement eingefordert, oft ohne dass dahinter eine Glaubenspraxis oder gar innere Überzeugung stehen würden.

Das deutsche Kirchensteuersystem fördert und erzwingt diese Entwicklung – doch soll davon an dieser Stelle nicht weiter die Rede sein. Interessant ist die Frage, ob nicht andere Antworten auf die an die Kirche herangetragenen Ansprüche möglich und sinnvoll sind. Zunächst wäre da Verbindlichkeit zu nennen, oder treffender: Commitment. Jede Gemeinschaft hat ihre Standards und Grundregeln. Warum hören wir davon so selten?

Wer sein Kind taufen lassen möchte, der möge doch zunächst für ein Jahr in der Gemeinde mitleben, schlägt Thomas Frings in seinem Domradio-Interview vor. Warum eigentlich nicht? Sicher hindert uns die Angst vor dem Verlust möglicher Kirchensteuerzahler an solchen Schritten, doch ist dies keineswegs ein Naturgesetz. Der amerikanische Pastor Rick Warren hat auf solchen klaren Regeln eine bis heute stark wachsende Megachurch errichtet. Was hindert uns also – außer unserer eigenen Angst und unseren fehlenden eigenen Überzeugungen?

Die jahrgangsweise Abfertigung von Grundschulkindern mit der Erstkommunion und Jugendlichen mit der Firmung hat jedenfalls ihre Berechtigung längst verloren. Zu unterschiedlich sind mittlerweile die Voraussetzungen, die Kinder und Jugendliche mitbringen. Hier sind altersspezifische Kurse gefragt, die sie auf einen geistlichen Weg führen und die aus mehreren Modulen bestehen.

Während das Eingangsmodul jedem offen steht, sind alle weiteren an bestimmte und klar kommunizierte Voraussetzungen gebunden. Der Automatismus, mit dem heute die Anmeldung zum Kommunion- oder Firmkurs quasi selbstverständlich zum Empfang des Sakramentes führt, ist aufzugeben.

Zur Ironie der gegenwärtigen Situation gehört, dass derzeit an vielen Stellen die Konsumgesellschaft aufbricht und zu stärker partizipativen Modellen kommt. Dies wird auch in der Kirche versucht, bleibt aber vielerorts noch dabei stecken, dass bis jetzt professionell angebotene Dienstleistungen nun halt von Laien – im doppelten Wortsinn – erbracht werden sollen. Dieser Ansatz ist zum Scheitern verurteilt.

Gleiches gilt für das partizipative Missverständnis, demzufolge nun auch das Evangelium selbst und die Lehre der Kirche zur allgemeinen Mitgestaltung freigegeben seien. Das käme einer Selbstabschaffung gleich. Das Evangelium haben wir von Christus selbst empfangen, wir müssen es weitergeben – nicht daran herumbasteln, bis es besser zu unserer eigenen Agenda passt.

Das Wie, das Wo, das Wer der Verkündigung hingegen und vor allem ihr Adressat – das sind alles Punkte, die zur Partizipation geradezu auffordern. Denn dazu ist jeder Christ qua Taufe berufen.

Klare Worte und Konzepte

Wie sehen eigentlich die Halbtageskurse aus, mit denen Saddleback-Pastor Rick Warren Außenstehende zum Kern seiner Gemeinde führt? Dazu findet sich einiges Material im Netz, angefangen vom CLASS Deluxe Combo Kit für 149,99 Dollar, das Rick Warren feilhält. Es kursieren zudem diverse Transkripte, die für einen ersten Eindruck gut sind.

Rick Warren scheut sich nicht, sehr konkrete Hinweise zu geben, wie ein geistlicher Reifungsprozess aussehen kann – und auszusehen hat. Dieser Pragmatismus, der verbunden ist mit einem klaren Konzept und einer transparenten Zielgruppenansprache, macht sicher den Reiz und auch eines der Erfolgsgeheimnisse von Saddleback aus.

Klare Worte und Konzepte, weniger Geschwurbel – das stünde auch der katholischen Kirche in Deutschland gut zu Gesicht. So einen knackigen Glaubenskurs hätte ich jedenfalls gern mal auf Katholisch und auf Deutsch. Liebe Zuständige in den Ordinariaten, Generalvikariaten, Arbeitsstellen für pastorale Fortbildung und dergleichen – das wäre doch mal eine Aufgabe! Sollte es so etwas vielleicht sogar schon geben, freue ich mich auf einen Hinweis.

Auf Verschleiß gefahren

Der ehemalige Münsteraner Pfarrer Thomas Frings, dessen Rückzugsankündigung im Februar auf großes Echo stieß, hat kurz nach seiner Entpflichtung vom Pfarramt dem Kölner Domradio ein Interview gegeben. Auch dieses Interview ist ein hörenswertes Zeitdokument.

Zwar verschenkt der Interviewer durch seine Fragen einiges Potential, doch insbesondere gegen Ende des Gespräches läuft Thomas Frings zu Hochform auf. Das Interview wie auch der ganze Vorgang zeigen, wie sehr mittlerweile kirchliche Strukturen auf Verschleiß gefahren werden. Ein System, das im Grunde nur noch durch die Kirchensteuer zusammengehalten wird, versucht alles, um sich selbst zu erhalten.

Wille zum Wachstum

Jedes Wirtschaftsunternehmen, das etwas auf sich hält, hat heutzutage eine Vision und eine Mission. Doch in der Kirche stößt die Frage nach Vision und Mission auf seltsame Vorbehalte. Dabei ist es im Prinzip ganz einfach: Die Vision der Kirche ist das Reich Gottes, und ihre Mission, alle Menschen zu Jüngern Jesu zu machen.

Damit ist es allerdings nicht getan, denn Vision und Mission müssen konkretisiert werden, sonst nutzen sie nicht viel. Genau das ist unsere Aufgabe als Christen. Wir müssen nicht die ganze Welt retten, denn das hat Christus schon erledigt. Aber unseren Nächsten lieben, das ist uns aufgetragen.

Und alle Menschen zu Jüngern Jesu zu machen. Warum wir uns damit in letzter Zeit, mindestens mal seit ein paar Jahrzehnten, etwas schwer tun, soll hier nicht thematisiert werden. Der damalige Erfurter Bischof Joachim Wanke schrieb im Jahr 2000 in „Zeit zur Aussaat“ (Untertitel: Missionarisch Kirche sein) die folgenden Zeilen:

Dass eine Ortskirche nicht wächst, mag auszuhalten sein, dass sie aber nicht wachsen will, ist schlechthin unakzeptabel. Teilen Sie dieses Urteil? Wenn ja, dann muss uns Katholiken in Deutschland zum Thema „missionarische Kirche“ mehr einfallen als bisher.

Ich habe in den letzten Wochen zwei Bücher gelesen (genau genommen habe ich eines davon gehört, aber das spielt keine Rolle), die sich mit diesem Themenkreis beschäftigen. Zum einen – Rebuilt: Awakening the Faithful, Reaching the Lost, and Making Church Matter, von Michael White und Tom Corcoran, einem amerikanischen Pfarrer und seinem engsten Mitarbeiter, 2013 erschienen.

Zum zweiten – The Purpose Driven Church, von Rick Warren, einem amerikanischen Baptisten und Gründer der Gemeinde von Saddleback, die es inzwischen sogar zu einer Filialgründung in Berlin gebracht hat. Das Buch erschien 1995. Da sich in den letzten 20 Jahren in Saddleback einiges getan hat, wäre es mittlerweile Zeit für eine erweiterte Neuauflage.

Auf das zweite Buch kam ich durch das erste. Michael White und Tom Corcoran verhehlen nicht, dass sie durch Rick Warren beeinflusst wurden und einige der Rezepte, mit denen Warren eine jener Megachurches schuf, ins Katholische übersetzt haben. In jedem Fall eine verdienstvolle Sache.

Jede gesunde Gemeinde wächst, so die These von Rick Warren. Deshalb sei es nicht unsere Aufgabe, für Wachstum zu sorgen, denn das geschehe von alleine und werde vom Herrn in Wellen gesendet. Unsere Aufgabe ist die Sorge um die Gesundheit unserer Gemeinden.

Ein sehr plausibler Gedanke. Damit trifft Rick Warren sozusagen auf Joachim Wanke. Und in der Tat erscheinen ja unsere schrumpfenden Gemeinden irgendwie kränklich, was übrigens ihrer Anziehungskraft nach außen alles andere als zuträglich ist. Wie sieht nun eine gesunde Gemeinde aus?

Das Gemeindemodell von Rick Warren besteht aus konzentrischen Kreisen. Im Kern (Core) befinden sich die Minister, also alle, die irgendeinen Dienst in der Gemeinde ausüben. Um sie herum liegt eine zweite Schicht (Committed) aus Engagierten, reifenden Mitgliedern (Maturing Members). Die dritte Schicht umfasst alle Mitglieder (Members), die zusammen eine Gemeinde (Congregation) bilden. Um sie herum liegt eine vierte Schicht, die Menge (Crowd) der regelmäßigen Besucher (Regular Attendees), die noch keine Mitglieder sind. Die Umgebung ist schließlich das örtliche Gemeinwesen (Community) mit den Außenstehenden (Unchurched).

Bild: Jim Erwin

Bild: Jim Erwin

Rick Warren modelliert auf dieser Basis dann Prozesse, um Menschen von außen nach innen zu führen. Durch die Verkündigung der Frohen Botschaft lernen Außenstehende Christus kennen und werden in die Gemeinschaft aufgenommen. Die Gemeinde hilft ihnen dabei, in Christus zu wachsen und den Weg der Nachfolge Christi zu gehen. Der dritte Schritt – Christus dienen – führt zum Dienst und damit auch zur Diakonie. Und schließlich folgt die Mission: Christus mitteilen – Verkündigung. Damit schließt sich dieser Kreis.

Im Zentrum aller Prozesse steht die Liturgie, die damit eine neue Funktion bekommt – sie muss für Außenstehende attraktiv sein. An dieser Stelle fangen für einen liturgisch Interessierten, dessen Liturgieverständnis von Guardinis und Ratzingers „Geist der Liturgie“ geprägt ist, die Schwierigkeiten an. Michael White und Tom Corcoran zeigen allerdings, dass im Grunde keine Abstriche an der würdigen und rechten Feier der Liturgie notwendig sind. Für sie liegt der Schlüssel – und das teilen sie mit Rick Warren – bei der Kirchenmusik.

Die Musik muss die Außenstehenden in der örtlichen Umgebung ansprechen, sonst werden sie vielleicht einmal in die Kirche kommen, aber danach nie wieder. Hier kommt ein weiterer Gedanke zum Tragen: An wen konkret wenden wir uns eigentlich? Wer meint, sich an alle zu wenden, der wendet sich de facto an keinen. Wie jedes Produkt für eine bestimmte Zielgruppe gemacht ist, so muss auch eine Gemeinde ihre Adressaten kennen.

Rick Warren hat dafür die Kunstfigur des Saddleback Sam geschaffen, den prototypischen Außenstehenden in seinem kalifornischen Tal. Bei Michael White und Tom Corcoran ist es Timonium Tim. Auch der hat ein konkretes Profil, was ihn greifbar und vor allem adressierbar macht. Jede Gemeinde muss für sich selbst definieren, wen sie anspricht – geographisch, demographisch und sozialräumlich. Mit der blinden Übernahme irgendwelcher Modelle ist es an dieser Stelle nicht getan.

Erst wenn das geklärt ist, lohnt es sich, über die Gestaltung der Liturgie nachzudenken und den passenden Musikstil auszuwählen. An dieser Stelle passieren interessante Dinge. Wenn erst einmal konkrete Menschen in eine Gemeinde eintreten, dann bringen sie neben ihrem eigenen Musikgeschmack auch musikalische Talente mit. Diese Talente gilt es zu finden und für den Aufbau der Kirchenmusik zu nutzen. Am Ende klingt die Kirche womöglich nach zeitgenössischer Popmusik – das gilt es dann auszuhalten.

Schlimmer als vieles, was immer noch unter dem irreführenden Etikett des Neuen Geistlichen Liedes gehandelt wird, kann es kaum werden. Dieses Liedgut ist ja längst mit der Generation seiner Schöpfer gealtert und trägt heute zuverlässig dazu bei, jeden zu vergraulen, der jünger als 40 ist. Hier ist dringend Abhilfe geboten.

Rick Warren kommt übrigens für sein vierstufiges Initiationsmodell mit insgesamt 16 Stunden aus, verteilt auf vier halbe Tage. Regelmäßige Besucher werden durch einen Halbtagskurs und die Taufe – wir haben es mit Baptisten zu tun, die taufen im Zweifel lieber einmal mehr – zu Mitgliedern. Mitglieder lernen an einem halben Sonnabend, wie sie in Christus wachsen und den Weg der Nachfolge gehen können. Das Gleiche gilt für die weiteren Stufen.

Allerdings – und da wird es in deutschen Durchschnittsgemeinden heftigen Widerstand geben – kommuniziert Rick Warren jeder Gruppe sehr klar und deutlich, was er von ihnen erwartet. Im Grunde sind diese Kurse nur Anleitung zur Christwerdung und ein alles andere als anspruchsloses Programm. Beispielsweise erwartet Saddleback von seinen Mitgliedern nicht nur regelmäßige Teilnahme an den sonntäglichen Gottesdiensten, sondern auch eine tägliche Stille Zeit mit Bibellektüre und Gebet.

Wer in Deutschland nur an die Kirchengebote erinnert, bekommt schnell Ärger. Das muss aber klar sein: Von nichts kommt nichts. Eine Gemeinde, die nicht gesund ist, die kein Profil hat und von ihren Mitgliedern nichts erwartet, inzwischen ja nicht einmal mehr die Zahlung der Kirchensteuer, die kann auch nicht wachsen. Die besteht bestenfalls aus eifrigen Konsumenten des kirchlichen Angebotes, aber nicht aus reifen Christen, die ihren Nächsten dienen und das Evangelium verkünden.

Hier ist also, wie immer in Glaubensdingen, eine Entscheidung gefragt. Ich bin sicher, dass die Modelle von Rick Warren, Michael White und Tom Corcoran, entsprechend angepasst, auch in Deutschland funktionieren. Versuch macht klug. Dieser Weg beginnt, so jedenfalls rät Rick Warren, mit gründlichem Studium der Bibel. Er empfiehlt eine lange Liste von neutestamentlichen Bibelstellen, die sich mit dem Kirchen- und Gemeindebild befassen.

Dafür braucht es Zeit, so Rick Warren. Er warnt ausdrücklich vor Eile. Erst müsse ein ordentliches Fundament gegossen werden, indem Ziele und Aufgaben (purpose) klar definiert würden. Auf dieser Basis könnten und müssten dann alle Aktivitäten diesen Zielen untergeordnet werden. Was nicht den Zielen dient, soll weggelassen werden. Auch hier sind heftige Konflikte mit Besitzstandswahrern abzusehen.

Doch für den Aufbau des Reiches Gottes sind Konflikte notwendig und nicht zu vermeiden.

Dixieland am Grab

HHS_trompete.jpgHeute war ich auf einer wunderbaren Beerdigung. Ja, das gibt es. An sich eine ganz normale protestantische Beerdigung, also eher schmucklos und zudem recht kurz und knackig. Doch dann, gerade betraten die acht Sargträger die kleine Dorfkirche St. Johannis, kündigte der Pastor an, dass nun eine Dixieland-Combo dem Sarg voran zum Friedhof ziehen würde, der direkt um die Kirche liegt.

Und diese, es waren die Hedgehog Stompers aus Buxtehude, machten ihre Sache ausgezeichnet. Es war der Wunsch der Verstorbenen, die diesen Brauch aus New Orleans kannte, und es passte wie die Faust aufs Auge. Bei strahlendem Sonnenschein und mit der dem Dixieland eigenen gewissen Leichtigkeit, die zugleich alles andere als oberflächlich ist, bekam die Szene viel Würde und sogar einen Hauch von Fröhlichkeit, was mir gerade am Freitag der Osteroktav und in Erwartung der Auferstehung sehr passend zu sein schien. Als die Band am Grab “When The Saints Go Marching In” spielte, musste ich ein Tränchen verdrücken, das zugleich Freude wie Trauer ausdrückte.

Verglichen mit dem sonst doch oft recht kärglichen, ungestützten Gesang der Trauergemeinde war dies eine sehr würdige, gelungene musikalische Gestaltung, gegen die sich höchstens einwenden lässt, dass sie keiner einheimischen Tradition entspricht. Aber in diesem Fall, bei einer Verstorbenen, die öfter in den USA war, diesen Brauch kannte und den ausdrücklichen Wunsch hatte, fällt mir kein Einwand ein. Im Gegenteil – verglichen mit Musik vom Band, wie sie bei Beerdigungen immer öfter zu hören ist, würde ich eine Dixieland-Combo jederzeit vorziehen.

Sollte also jemand in die Verlegenheit kommen, meine Beerdigung gestalten zu müssen – Dixieland ist definitiv eine Option. Vorziehen würde ich selbstverständlich ein Requiem in der außerordentlichen Form des römischen Ritus, aber falls das nicht möglich sein sollte… Die Hedgehog Stompers spielen übrigens inzwischen öfters auf Beerdigungen, wie ich heute hörte.

Foto: Hedgehog Stompers

Doch die Apostel hielten das alles für Geschwätz

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A Book of Nonsense by Edward Lear (ca 1875 James Miller edition)

Geschwätz. Vermutlich ist diese Einschätzung heute wieder sehr weit verbreitet, nahezu konsensfähig. Was wir zu Ostern feiern, was uns vier freie Tage am Stück beschert (was übrigens noch nicht genügt, denn die Bedingungen dafür wollen wir auch noch selbst bestimmen, siehe die unsäglich dumme Diskussion, die unter dem irreführenden Stichwort #tanzverbot geführt wird), das halten die meisten unserer Mitmenschen heutzutage für Geschwätz.

Immerhin sind sie damit in bester Gesellschaft, denn so sahen das auch die Apostel, jene Elitetruppe, die dieser jüdische Wanderrabbi namens Jesus, der später den Beinamen Christus erhielt, um sich geschart hatte. In dieser Osternacht haben, während 11,34 Millionen Menschen ein Fußballspiel am Fernsehgerät verfolgten, katholische Christen u.a. die folgende Passage aus der Feder des Evangelisten Lukas zu hören bekommen:

Und sie kehrten vom Grab in die Stadt zurück und berichteten alles den Elf und den anderen Jüngern. Es waren Maria Magdalene, Johanna und Maria, die Mutter des Jakobus; auch die übrigen Frauen, die bei ihnen waren, erzählten es den Aposteln. Doch die Apostel hielten das alles für Geschwätz und glaubten ihnen nicht. Petrus aber stand auf und lief zum Grab. Er beugte sich vor, sah aber nur die Leinenbinden dort liegen. Dann ging er nach Hause, voll Verwunderung über das, was geschehen war. (Lk 24, 9-12)

Geschwätz. Am Anfang des Christentums steht nicht etwa der Glaube, sondern der Unglaube. Und das nicht etwa nur ganz zu Anfang. Die Irritation hielt an. Lukas berichtet weiter, in jener berühmten Emmauserzählung, die heute im Evangelium zu hören war:

Auch einige Frauen aus unserem Kreis haben uns in große Aufregung versetzt. Sie waren in der Frühe beim Grab, fanden aber seinen Leichnam nicht. Als sie zurückkamen, erzählten sie, es seien ihnen Engel erschienen und hätten gesagt, er lebe. Einige von uns gingen dann zum Grab und fanden alles so, wie die Frauen gesagt hatten; ihn selbst aber sahen sie nicht. (Lk 24, 22-24)

Große Aufregung, aber völliges Unverständnis. Die Sache bleibt rätselhaft. Und auch nach dem Emmausereignis ist die Sache noch längst nicht geklärt. Am kommenden Sonntag, das ist dann schon eine Woche nach Ostern, hören wir den Evangelisten Johannes:

Thomas, genannt Didymus – Zwilling -, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. (Joh 20, 24-25)

Thomas, auch einer von diesen Aposteln, klingt wie die heutigen Atheisten und Agnostiker: Wenn nicht [dies und das], glaube ich nicht. Wir wollen selbst die Bedingungen bestimmen. Letztlich setzen wir uns so selbst an die Stelle Gottes, ob wir wollen oder nicht. Und wir müssen uns spätestens nach der Geschichte des 20. Jahrhunderts und auch des frühen 21. Jahrhunderts fragen, ob das wirklich so eine gute Idee ist.

Keine realitätstaugliche Konzeption

All diese Großgebilde – ob sie nun „Seelsorgeeinheit“, „Pfarreiengemeinschaft“, „pastoraler Raum“ oder sonst wie heißen – funktionieren nur auf dem Papier der Hochglanzbroschüren und Leitbildschriften. Angesichts der Verwerfungen, Konflikte, Enttäuschungen, Abbrüche und Frustrationen, welche die Umstrukturierungen tatsächlich vor Ort bei den betroffenen Menschen auslösen, kann man nicht ernsthaft behaupten, dass es sich um eine realitätstaugliche Konzeption handelt. Die Präsentation dieser Großstrukturen als vermeintlich zukunftsträchtige Gestalt der Kirche funktioniert nur, weil man dabei die Wahrnehmung auf das enge Segment der Personen beschränkt, die sich in das paternalistische Schema des bereitwilligen Mitmachens einfügen. Und sie funktioniert nur, weil man dabei die alltäglichen Lebenswirklichkeiten der Menschen ausblendet, die Enttäuschungen und Brüskierungen der Menschen vor Ort tabuisiert sowie die große Masse derjenigen Menschen ignoriert, die sich stillschweigend von der Kirche verabschieden.
Herbert Haslinger