Lange Zeit habe ich nicht verstanden, woher die innerkirchliche Aufregung um die Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen der Priesterbruderschaft St. Pius X. rührte. Insbesondere die deutschen Bischöfe haben sich ja in dieser Sache mehrheitlich nicht besonders klug verhalten, als sie unrealistische Forderungen stellten, für die zudem jegliche Rückendeckung aus Rom fehlte.
Aber auch ihre Verteidigungslinie gegen Angriffe aus kirchenfeindlichen Kreisen und von innerkirchlichen Opponenten hatte die Mehrheit der Bischöfe wenig vorausschauend gewählt. So ist die ständige Betonung, die Priester und Bischöfe der Bruderschaft seien weiterhin suspendiert und übten ihr Amt nicht rechtmäßig aus, nicht mehr als eine vorübergehende Beschwichtigung. Denn schließlich ist es das erklärte Ziel auf beiden Seiten, in Rom wie in Econe, im Vatikan wie am Sitz der Priesterbruderschaft, diesen Zustand zu beenden und die volle Einheit mit dem Papst und der ganzen Kirche wiederherzustellen. Wenn das erreicht ist, was wollen die deutschen Bischöfe dann sagen?
Nein, der wahre Grund für die ganze Aufregung sind nicht die skurrilen Ansichten eines extravaganten und suspendierten Bischofs. Die Wortführer auf Bischofssitzen, in allerlei Ämtern, Einflusspositionen und Redaktionsstuben beschleicht vielmehr die dumpfe Ahnung, dass sie ihre Mehrheit im Kirchenvolk längst verloren haben könnten. Sofern sie diese jemals besaßen und es ihnen nicht nur gelungen war, die mit ihrem vermeintlich durch das jüngste Konzil gedeckten Reformkurs nicht einverstandene, aber unter den Vorzeichen der Schweigespirale (Noelle-Neumann) schweigende Mehrheit zu marginalisieren.
Ich habe in meiner Gemeinde noch niemanden getroffen, der die liturgischen Eskapaden des nicht so wichtigen Pfarrers billigen oder gar gutheißen würde. Den Messdienern ist das alles peinlich, auch die Kommunionhelfer machen keinen glücklichen Eindruck, die Jugendlichen finden es blöd und zogen dem Pfarrer stets die beiden letzten Kapläne vor, der eine katholischer als der andere. Und auch im übrigen Kirchenvolk konnte ich bis jetzt niemanden finden, der den liturgischen Stil des Pfarrers goutiert, aber viele, die darüber verzweifeln oder den Messbesuch vernachlässigen, weil sie das Kaspertheater nicht mehr ertragen.
Die Gründe, warum diese Missstände trotzdem fortbestehen, sind vielfältig. Zu ihnen gehört, dass dieser Pfarrer sich immer noch im Einklang mit der vorherrschenden Interpretation des Zweiten Vaticanums und dessen Reformwillens wähnen kann. So absurd das schon bei nur oberflächlicher Kenntnis der einschlägigen Konzilstexte auch erscheinen mag. Und dies gilt nicht nur für die Liturgie, sondern – lex orandi, lex credendi – für die gesamte Lehre der Kirche.
Der eigentliche Kern der Sache ist ein Streit um Deutungshoheit. Die deutsche Konzilsmafia, um den oben angedeuteten Zirkel aus Bischöfen, Kirchenverwaltungsbeamten, Gremien, Meinungsführern und Redakteuren einmal despektierlich zusammenzufassen, beginnt zu ahnen, dass sie ihre Deutungshoheit verlieren wird und zum Teil bereits verloren hat.
Das Kirchenvolk lässt sich heute, ausgestattet mit Katechismus und direktem Zugang zu allen römischen Dokumenten, nicht mehr so leicht für dumm verkaufen wie noch vor zwanzig Jahren, als es gerade einmal den Deutschen Erwachsenenkatechismus gab und an den digitalen Direktbezug aller möglichen vatikanischen Verlautbarungen noch nicht zu denken war.
Der mehr oder weniger starke Druck aus Rom ließ sich stets als Ausdruck dumpfer Reaktion und als Versuch diffamieren, das Rad hinter das Konzil zurückzudrehen. Dieses Spiel wird bis heute gespielt, nicht ohne Erfolg. Doch an der Basis wächst der Druck dagegen. Die schweigende Mehrheit bricht ihr jahrzehntelanges Schweigen. Und sie hat mittlerweile die besseren Karten.
Vermutlich steht die schweigende Mehrheit dem katholischen Kern der Lehre und Liturgie, wie ihn die Piusbruderschaft vertritt, näher als dem Reformquark der vergangenen 50 Jahre. Für die Meinungsführer wird es allmählich eng. Und das erklärt die verzweifelte Inbrunst der Attacken.
Eine ganze Generation der meinungsführenden Minderheit merkt, dass ihre Zeit abläuft und ihr Spiel verloren ist. In den Lehrgesprächen zwischen Glaubenskongregation und Piusbruderschaft wird der ganze heiße Stoff verhandelt. Auf der Tagesordnung steht nicht mehr und nicht weniger als die Frage, was es heißt, das Zweite Vaticanum anzuerkennen – und was nicht.
Seine Programmatik in dieser Sache hat Papst Benedikt schon in seiner Weihnachtsansprache 2005 an die römische Kurie formuliert, als er die Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches einer Hermeneutik der Kontinuität Reform gegenüberstellte. In den anstehenden Lehrgesprächen wird sich nun zeigen, wie weit dieser Ansatz trägt.
Die Bedeutung dieser Gespräche reicht also weit über die Integration der Piusbruderschaft in die Kirche hinaus. Die Gespräche werden eine Zäsur für die Rezeption des Zweiten Vaticanums markieren, so oder so.