Wandern und Wundern

Notizen von der W@nder-Konferenz in Hannover

I. Ästhetik

Wie sehen wir eigentlich aus? Pfarrheime atmen gern den Muff der Siebzigerjahre, für eine Auffrischung der Optik war lange schon kein Geld mehr da. Oder kein Wille zur Gestaltung, zur Aneignung vorhandener Räume. Wie hören wir uns an? Klingen wir nach Choral und Orgel oder nach Gitarre? Oder vielleicht so:

Wir sind ein ästhetisches Minderheitenprogramm. Ist das gut oder schlecht? Wie ist das User Interface (UI)? Und viel wichtiger noch ist die User Experience (UX). Wie erlebt uns der Nutzer kirchlicher Produkte? Wie ist die Customer Journey? Welche Produkte bieten wir überhaupt an? Und umgekehrt: Wie nehmen wir eigentlich andere wahr?

Das Gefühl der Fremdheit entsteht zunächst aus der ästhetischen Differenz. An sich nichts Schlechtes, ist Gott doch der ganz Andere. Und sicher lässt er sich auch im Dekor der Siebziger, zwischen Gummibaum und rotem Tee, und in Musik finden, die in den Siebzigern einmal neu war.

Doch diese äußere Erscheinung geht unweigerlich zu Ende. Wo sich ästhetische Beliebigkeit, Hilflosigkeit und Ignoranz manifestieren, schreckt kirchliche Ästhetik häufig einfach nur ab. Unsere Tradition hat große Kunst und Kultur hervorgebracht. Die Messlatte liegt hoch, wenn es um kirchliche Hochkultur geht, und niedrig, wenn wir den ästhetischen Muff vergangener Jahrzehnte betrachten.

II. Räume

Unsere Räume sind uns zur Altlast geworden. Vielfach für Lastspitzen ausgelegt, sind sie die meiste Zeit schlecht ausgelastet, kosten viel und schieben Sanierungsstau. Auch deshalb konservieren sie die Ästhetik vergangener Zeiten.

Wahrscheinlich wäre es günstiger, die nötigen Räume zu mieten statt sie selbst vorzuhalten. Das schüfe Beweglichkeit und gäbe die Chance, temporär an Orte wie die Eisfabrik zu gehen, wo die Gottesfrage sonst eher selten vorkommt. Und sich diese Räume anzueignen.

Kein Zweifel: Es gibt viel unbedingt erhaltenswertes Erbe einer großen Geschichte. Aber auch viel ästhetischen Schrott, der Geld und Zeit frisst, ohne dass dem ein nennenswerter Ertrag entsprechen würde. Räume definieren das kirchliche Leben, wie ein stählernes Gehäuse. Dabei müsste es umgekehrt sein: Das Leben definiert die Räume.

III. Scheitern

Wir sind längst schon marginalisiert. Nur Minderheiten nehmen noch am kirchlichen Leben teil. Doch unverdrossen führen wir das Programm aus den längst vergangenen Zeiten der Volkskirche fort, auch wenn es nun ein Minderheitenprogramm geworden ist und die Abstimmung mit den Füßen läuft.

Scheitern hat ein viel zu schlechtes Image. Zu den positiven Seiten des Scheiterns gehört, dass es bis dato gebundene Kraft und Zeit freisetzt. Scheitern schafft Raum für Neues. Es ist eine große Erleichterung, nicht mehr alle Kräfte für den Ritt auf toten Pferden aufwenden zu müssen.

Doch sich das Scheitern eingestehen zu müssen, ist oft nicht leicht. Wie groß muss der Schmerz werden, bis wir dazu bereit sind? Lieber unter Schmerzen weitermachen als sich schmerzhaft das Scheitern einzugestehen? Es gibt eigentlich keinen Grund, Programme fortzusetzen, die nicht mehr funktionieren.

IV. Vernetzung

In Zeiten, da Inhalte per Video und Internet allgemein verfügbar sind, haben Konferenzen und ähnliche Events zwei Funktionen: Sie schaffen gemeinsame, geteilte Erlebnisse und Vernetzung unter den Teilnehmern. Beides war bei W@nder stark ausgeprägt.

So materialisierte sich in Hannover ein gewisser Teil meiner Timeline, neue Leute kamen hinzu, wie der eine und die andere, die ich schon länger mal kennenlernen wollte. Schön zu sehen, wie sich die digitale Vernetzung langsam auch im kirchlichen Kontext ausbreitet.

Die Zuordnung der Seilschaften in Hannover bescherte mir mit Jonny Baker, dem Eröffnungsredner des Haupttages, gleich einen Hauptgewinn. Wir sprachen in unserer Seilschaft u.a. über Design Thinking und Service Design — Themen, die im kirchlichen Kontext eher selten vorkommen, im beruflichen Kontext hingegen häufig.

Aus unerfindlichen Gründen hing ich in Hannover relativ viel mit Seminaristen, Diakonen, Kaplänen, Pastoren und Priestern herum. Viele gute Leute, durchaus ermutigend, wenn ich an die Zukunft unserer Kirche denke. Pioniere.

V. Führung

Pioniere arbeiten niemals losgelöst von ihrer Haupttruppe, für die sie den Weg bahnen sollen. Deshalb haben wir hier ein Führungsthema. Und ein Führungsproblem. Wir brauchen Führungskräftetraining auf allen Ebenen. Das wird nicht alles von alleine gehen.

Führung heißt auch, über den Einsatz von Ressourcen zu entscheiden. Eine Entscheidung für etwas ist immer zugleich auch eine Entscheidung gegen etwas anderes. Geld kann nur einmal ausgegeben, Personal nur einmal eingesetzt werden.

VI. Sendung

The gift of not fitting in. Das Paradoxon: Dies verbindet uns heute mit der Mehrheit der Gesellschaft. Nur eine kleine Minderheit passt noch hinein, die Mehrheit hingegen findet keinen Zugang mehr oder nur noch punktuellen Bezug. Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter.

Wir brauchen die Sendung. Wir können uns nicht selbst senden. Und womöglich ist Sendung auch ein guter Begriff, wo das Wort Mission auf Vorbehalte stößt (obwohl heute jedes Wirtschaftsunternehmen, das etwas auf sich hält, eine Mission hat).

VII. Literatur

Vier Bücher, die in diesem Kontext hilfreich sind.

Über Subjekt und Adressat lokaler Kirchenentwicklung

Wenn Subjekt und Adressat lokaler Kirchenentwicklung unklar sind, dann liegt die Frage nach dem Soll nahe. Und die Frage, wer eigentlich diese Vorgabe zu machen hat.

Die Antwort ist in die gesamte Existenz der Kirche eingeschrieben. Sie steht in Mt 28, 19-20: 

„Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“

Es handelt sich um den Auftrag des Auferstandenen, wie die Einheitsübersetzung diesen Abschnitt überschreibt, oder auch, etwas altertümlich formuliert, den Missionsbefehl Jesu. Nun ist diese Antwort offenbar nicht so offensichtlich, wie man sie womöglich gern hätte. Sonst würden sich diese Fragen ja gar nicht erst stellen. Halten wir also zwei Punkte fest:

  1. In den Konzepten lokaler Kirchenentwicklung ist die Frage nach Subjekt und Adressat nicht so klar beantwortet, dass die Antwort offensichtlich wäre.
  2. Der Auftrag, zu allen Völkern zu gehen und alle Menschen zu Jüngern Jesu zu machen, muss konkretisiert werden, um konkret zu werden.

Der erste Punkt liegt jenseits der Sphäre meines persönlichen Einflusses. Ich habe mir die Konzepte lokaler Kirchenentwicklung nicht ausgedacht, aber ich erlebe sie in der Praxis und stelle insbesondere die Defizite fest, die sich dabei zeigen. Was die Ursachen dieser Defizite sind, ist gar nicht so einfach festzustellen.

Der zweite Punkt hingegen hat mich dazu veranlasst, in unserer Gemeinde eine Bibelwerkstatt zu initiieren, um zu einer Verständigung über das Fundament zu kommen. Dies kann nicht einfach vorgegeben, sondern muss (wieder-)entdeckt werden, und zwar von der Gemeinde selbst. Diese Anregung verdanke ich dem amerikanischen Pastor Rick Warren.

Zu diesem Fundament gehört auch noch mehr, insbesondere Mt 22, 37-40:

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.“

Die Antwort heißt also: Die Kirche kann gar nicht anders, als das Evangelium allen Völkern zu verkünden und alle Menschen zu Jüngern Jesu zu machen. Lokale Kirchenentwicklung kann daher nichts anderes heißen, als diesen Auftrag zu konkretisieren und auf die lokale Situation anzuwenden.

Die Gemeinde muss sich darüber verständigen, wer das Subjekt lokaler Kirchenentwicklung ist – die fünfprozentige Kerngemeinde oder die sehr viel größere Papiergemeinde? Oder gar ein Drittes? Und sie muss entscheiden, an wen konkret sie sich wenden will – an die nominalen Katholiken und Kirchensteuerzahler? Oder an das lokale Umfeld der Gemeinde? Und an wen dort konkret?

Darauf kann es keine pauschalen Antworten geben, sondern dies ist die Aufgabe jeder Gemeinde. Was allerdings nicht geht, ist Selbstgenügsamkeit. Lokale Kirchenentwicklung kann nicht heißen, dass eine fünfprozentige Kerngemeinde sich selbst genügt und keinerlei missionarischen Impuls entwickelt. Dann hätte sie ihren Auftrag verfehlt.

Lokale Kirchenentwicklung und der Spagat zwischen Kern- und Papiergemeinde

Die Kirchensteuer schafft eine heikle Situation, da sie letztlich, ob formal oder nicht, Ansprüche auf kirchliche Dienstleistungen entstehen lässt. Wer zahlt, der hat Anspruch auf die Taufe seiner Kinder, auf eine schöne Erstkommunion, Firmung und Trauung sowie schließlich auch eine kirchliche Beerdigung. Eine regelmäßige Teilnahme am Gemeindeleben ist dafür hingegen keine Voraussetzung.

In der Pfarrei, der ich angehöre, besuchen an einem durchschnittlichen Zählsonntag etwa fünf Prozent der Gemeindemitglieder eine Heilige Messe. 95 Prozent nehmen also dieses seelsorgliche Angebot nicht wahr, obwohl sie – soweit dazu verpflichtet – Kirchensteuer zahlen und damit letztlich den Apparat finanzieren, der diese und andere Angebote erbringt.

Dies zwingt das kirchliche Personal zu einem Spagat zwischen schrumpfender Kerngemeinde und – relativ oder in unserem Fall sogar absolut – wachsender Papiergemeinde. Nur wenige tragen das Gemeindeleben, aber viele erheben Anspruch auf kirchliche Dienstleistungen.

Die schrumpfende Kerngemeinde, tendenziell überaltert, zahlt kaum noch Kirchensteuer, während die kirchensteuerzahlenden Familien nur noch punktuell am Gemeindeleben teilnehmen. Es soll sogar schon Familien geben, deren Steuerzahler aus der Kirche ausgetreten sind, um Steuern zu sparen, während der Rest formal weiterhin zur Gemeinde zählt und kirchliche Dienstleistungen in Anspruch nimmt.

Lokale Kirchenentwicklung steht hier vor der dringenden Frage, wer eigentlich ihr Subjekt ist. Ist es die schrumpfende Kerngemeinde – und damit eine kleine Minderheit innerhalb der Papiergemeinde? Oder ist es die Gesamtheit der Gemeinde, unabhängig von ihrer Präsenz im Gemeindeleben?

Und ist sich, unabhängig von der Antwort auf diese Fragen, dieses Subjekt lokaler Kirchenentwicklung eigentlich selbst genug oder richtet sich ein missionarischer Impuls nach außen, ist Wachstum das Ziel? Je nachdem, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, entsteht ein völlig anderes Bild.

Eine Fünf-Prozent-Kerngemeinde hätte zunächst einmal die anderen 95 Prozent als mögliche Adressaten. Hier wäre die Frage, was die eigentlich vermissen oder was sie davon abhält, häufiger als nur gelegentlich am Gemeindeleben teilzunehmen. Müsste sich womöglich die Kerngemeinde selbst ändern oder ist sie im Recht, und alle anderen im Unrecht?

In einer Diasporasituation, wie wir sie hier im Norden vorfinden, ist aber auch die Gesamtheit der Gemeinde wiederum eine kleine Minderheit in einer ansonsten protestantisch, muslimisch oder neuheidnisch-atheistisch geprägten Umwelt. Ein missionarischer Impuls, der sich in dieses Umfeld richten würde, träfe noch einmal auf völlig andere Voraussetzungen.

Lokale Kirchenentwicklung steht also auch vor der dringenden Frage, wer eigentlich ihr Adressat ist. Wer seine Zielgruppe nicht beschreiben kann, der spricht letztlich niemanden an. Da sind alle Mühen vergebens.

Verlust der Vision

Es hat für jede Organisation fatale Konsequenzen, wenn ihre Vision – und damit auch ihre Mission – verloren geht. Denn die Vision ist quasi der Leitstern am Himmel, sie gibt das Ziel allen Tuns an und informiert somit auch über mögliche Wege zu diesem Ziel. Ohne Vision wird das Tun ziellos, und jede Entscheidung über den Weg wird beliebig. Ohne Vision irren wir im Dunkel umher.

Ein Licht erstrahlt den Gerechten / und Freude den Menschen mit redlichem Herzen. (Ps 97,11)

Der Verlust der Vision wirkt zerstörerisch auf jede Organisation. Ihr Zweck wird unklar, es entsteht eine Leere, die mit allerlei Sekundärem aufgefüllt werden muss. An die Stelle der langfristigen Vision treten kurz- und mittelfristige Ziele und Meilensteine und eine Tendenz zum Selbstzweck. Ohne Vision hat jede Einzelentscheidung das Potential, eine Grundsatzdiskussion loszutreten.

Ausgesprochene oder unausgesprochene Differenzen kommen ans Licht. Entscheidungen werden entweder beliebig und willkürlich oder zu Machtfragen, weil nun jeder Einzelne für sich eine andere Vision entwickelt und danach strebt, diese durchzusetzen. Dieser Prozess ist unendlich mühsam und frisst Unmengen von Energie, was zum Ausbrennen Einzelner oder gar ganzer Teams und Organisationen führen muss.

Entscheidungsprozesse verlängern und verkomplizieren sich, Vertrauen erodiert, Unsicherheit und Angst entstehen, Führungsstrukturen werden intransparent. Führung braucht ein Ziel, sonst wird sie ziellos. Führung ist ein geistlicher Prozess, zu dem wesentlich das aufmerksame Hören, der intensive Austausch und die echte Antwort gehören. Führung ist ein Dienst und sollte als solcher verstanden werden, nicht als Machtausübung.

Die Mission ist nichts anderes als die Wege zum Ziel. Die Wege sind plural, denn so gut wie nie gibt es nur einen Weg zum Ziel. Verschiedene Wege sind legitim und häufig auch notwendig, um das Ziel zu erreichen, dass die Vision angibt. „Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19) impliziert geradezu eine unendliche Vielzahl von Wegen. Doch ohne Vision wird diese Mission nicht gelingen.

Warum sollen wir überhaupt zu allen Völkern gehen und alle Menschen zu Jüngern machen? Diese Antwort kann nur die Vision geben, und ohne Vision gibt es gar keinen Grund zur Mission. Die Vision ist das Reich Gottes, dessen Grundlage das Doppelgebot der Liebe formuliert: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken.“ Und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mt 22,37.39)

Aus diesen beiden Geboten lässt sich die gesamte Vision vom Reich Gottes entfalten. „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.“ (Mt 22,40) Die Liebe zu Gott, die durch nichts eingeschränkt wird, die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu sich selbst führen zum Reich Gottes, und diese Nachricht zu allen Völkern zu bringen ist unsere Mission.

Doch ihre Botschaft geht in die ganze Welt hinaus, ihre Kunde bis zu den Enden der Erde. (Ps 19,5)

Konsequenzen der Kon­sum­ge­sell­schaft

Wer den ehemaligen Münsteraner Pfarrer Thomas Frings aufmerksam wahrnimmt, der erkennt in seiner Situationsanalyse auch eine scharfe Kritik der Konsumgesellschaft, genauer: ihrer Konsequenzen für die heutige Pastoral. Große Teile des verbliebenen kirchlichen Lebens in Deutschland richten sich an anspruchsvolle Konsumenten mit einer entsprechenden Haltung.

Die Kirche ist dafür insbesondere durch ihre diakonische Ausrichtung sehr anfällig. Diakonie heißt Dienst, und Dienst kann viele Ausprägungen annehmen. Vom selbstlosen, aus Liebe zu Christus und zum Nächsten vollzogenen Dienst hin zum Service, der Anspruchshaltungen bedient, ist es oft nur ein kleiner Schritt. Prekär wird es insbesondere da, wo Ansprüche – ob berechtigt oder nicht – nicht mehr ohne Weiteres bedient werden können.

Eine konsumentenorientierte Pastoral bringt die Kirche in eine Wettbewerbsposition zu sehr vielen Alternativangeboten. Sonntagsmesse oder Golfplatz? Kirchliche Beerdigung oder freier Trauerredner? Firmung oder Jugendweihe? An den Wendepunkten des Lebens oder auch zu bestimmten Zeitpunkten wie Weihnachten und Erstkommunion wird der kirchliche Dienst noch gern in Anspruch genommen und sogar vehement eingefordert, oft ohne dass dahinter eine Glaubenspraxis oder gar innere Überzeugung stehen würden.

Das deutsche Kirchensteuersystem fördert und erzwingt diese Entwicklung – doch soll davon an dieser Stelle nicht weiter die Rede sein. Interessant ist die Frage, ob nicht andere Antworten auf die an die Kirche herangetragenen Ansprüche möglich und sinnvoll sind. Zunächst wäre da Verbindlichkeit zu nennen, oder treffender: Commitment. Jede Gemeinschaft hat ihre Standards und Grundregeln. Warum hören wir davon so selten?

Wer sein Kind taufen lassen möchte, der möge doch zunächst für ein Jahr in der Gemeinde mitleben, schlägt Thomas Frings in seinem Domradio-Interview vor. Warum eigentlich nicht? Sicher hindert uns die Angst vor dem Verlust möglicher Kirchensteuerzahler an solchen Schritten, doch ist dies keineswegs ein Naturgesetz. Der amerikanische Pastor Rick Warren hat auf solchen klaren Regeln eine bis heute stark wachsende Megachurch errichtet. Was hindert uns also – außer unserer eigenen Angst und unseren fehlenden eigenen Überzeugungen?

Die jahrgangsweise Abfertigung von Grundschulkindern mit der Erstkommunion und Jugendlichen mit der Firmung hat jedenfalls ihre Berechtigung längst verloren. Zu unterschiedlich sind mittlerweile die Voraussetzungen, die Kinder und Jugendliche mitbringen. Hier sind altersspezifische Kurse gefragt, die sie auf einen geistlichen Weg führen und die aus mehreren Modulen bestehen.

Während das Eingangsmodul jedem offen steht, sind alle weiteren an bestimmte und klar kommunizierte Voraussetzungen gebunden. Der Automatismus, mit dem heute die Anmeldung zum Kommunion- oder Firmkurs quasi selbstverständlich zum Empfang des Sakramentes führt, ist aufzugeben.

Zur Ironie der gegenwärtigen Situation gehört, dass derzeit an vielen Stellen die Konsumgesellschaft aufbricht und zu stärker partizipativen Modellen kommt. Dies wird auch in der Kirche versucht, bleibt aber vielerorts noch dabei stecken, dass bis jetzt professionell angebotene Dienstleistungen nun halt von Laien – im doppelten Wortsinn – erbracht werden sollen. Dieser Ansatz ist zum Scheitern verurteilt.

Gleiches gilt für das partizipative Missverständnis, demzufolge nun auch das Evangelium selbst und die Lehre der Kirche zur allgemeinen Mitgestaltung freigegeben seien. Das käme einer Selbstabschaffung gleich. Das Evangelium haben wir von Christus selbst empfangen, wir müssen es weitergeben – nicht daran herumbasteln, bis es besser zu unserer eigenen Agenda passt.

Das Wie, das Wo, das Wer der Verkündigung hingegen und vor allem ihr Adressat – das sind alles Punkte, die zur Partizipation geradezu auffordern. Denn dazu ist jeder Christ qua Taufe berufen.

Klare Worte und Konzepte

Wie sehen eigentlich die Halbtageskurse aus, mit denen Saddleback-Pastor Rick Warren Außenstehende zum Kern seiner Gemeinde führt? Dazu findet sich einiges Material im Netz, angefangen vom CLASS Deluxe Combo Kit für 149,99 Dollar, das Rick Warren feilhält. Es kursieren zudem diverse Transkripte, die für einen ersten Eindruck gut sind.

Rick Warren scheut sich nicht, sehr konkrete Hinweise zu geben, wie ein geistlicher Reifungsprozess aussehen kann – und auszusehen hat. Dieser Pragmatismus, der verbunden ist mit einem klaren Konzept und einer transparenten Zielgruppenansprache, macht sicher den Reiz und auch eines der Erfolgsgeheimnisse von Saddleback aus.

Klare Worte und Konzepte, weniger Geschwurbel – das stünde auch der katholischen Kirche in Deutschland gut zu Gesicht. So einen knackigen Glaubenskurs hätte ich jedenfalls gern mal auf Katholisch und auf Deutsch. Liebe Zuständige in den Ordinariaten, Generalvikariaten, Arbeitsstellen für pastorale Fortbildung und dergleichen – das wäre doch mal eine Aufgabe! Sollte es so etwas vielleicht sogar schon geben, freue ich mich auf einen Hinweis.

Wille zum Wachstum

Jedes Wirtschaftsunternehmen, das etwas auf sich hält, hat heutzutage eine Vision und eine Mission. Doch in der Kirche stößt die Frage nach Vision und Mission auf seltsame Vorbehalte. Dabei ist es im Prinzip ganz einfach: Die Vision der Kirche ist das Reich Gottes, und ihre Mission, alle Menschen zu Jüngern Jesu zu machen.

Damit ist es allerdings nicht getan, denn Vision und Mission müssen konkretisiert werden, sonst nutzen sie nicht viel. Genau das ist unsere Aufgabe als Christen. Wir müssen nicht die ganze Welt retten, denn das hat Christus schon erledigt. Aber unseren Nächsten lieben, das ist uns aufgetragen.

Und alle Menschen zu Jüngern Jesu zu machen. Warum wir uns damit in letzter Zeit, mindestens mal seit ein paar Jahrzehnten, etwas schwer tun, soll hier nicht thematisiert werden. Der damalige Erfurter Bischof Joachim Wanke schrieb im Jahr 2000 in „Zeit zur Aussaat“ (Untertitel: Missionarisch Kirche sein) die folgenden Zeilen:

Dass eine Ortskirche nicht wächst, mag auszuhalten sein, dass sie aber nicht wachsen will, ist schlechthin unakzeptabel. Teilen Sie dieses Urteil? Wenn ja, dann muss uns Katholiken in Deutschland zum Thema „missionarische Kirche“ mehr einfallen als bisher.

Ich habe in den letzten Wochen zwei Bücher gelesen (genau genommen habe ich eines davon gehört, aber das spielt keine Rolle), die sich mit diesem Themenkreis beschäftigen. Zum einen – Rebuilt: Awakening the Faithful, Reaching the Lost, and Making Church Matter, von Michael White und Tom Corcoran, einem amerikanischen Pfarrer und seinem engsten Mitarbeiter, 2013 erschienen.

Zum zweiten – The Purpose Driven Church, von Rick Warren, einem amerikanischen Baptisten und Gründer der Gemeinde von Saddleback, die es inzwischen sogar zu einer Filialgründung in Berlin gebracht hat. Das Buch erschien 1995. Da sich in den letzten 20 Jahren in Saddleback einiges getan hat, wäre es mittlerweile Zeit für eine erweiterte Neuauflage.

Auf das zweite Buch kam ich durch das erste. Michael White und Tom Corcoran verhehlen nicht, dass sie durch Rick Warren beeinflusst wurden und einige der Rezepte, mit denen Warren eine jener Megachurches schuf, ins Katholische übersetzt haben. In jedem Fall eine verdienstvolle Sache.

Jede gesunde Gemeinde wächst, so die These von Rick Warren. Deshalb sei es nicht unsere Aufgabe, für Wachstum zu sorgen, denn das geschehe von alleine und werde vom Herrn in Wellen gesendet. Unsere Aufgabe ist die Sorge um die Gesundheit unserer Gemeinden.

Ein sehr plausibler Gedanke. Damit trifft Rick Warren sozusagen auf Joachim Wanke. Und in der Tat erscheinen ja unsere schrumpfenden Gemeinden irgendwie kränklich, was übrigens ihrer Anziehungskraft nach außen alles andere als zuträglich ist. Wie sieht nun eine gesunde Gemeinde aus?

Das Gemeindemodell von Rick Warren besteht aus konzentrischen Kreisen. Im Kern (Core) befinden sich die Minister, also alle, die irgendeinen Dienst in der Gemeinde ausüben. Um sie herum liegt eine zweite Schicht (Committed) aus Engagierten, reifenden Mitgliedern (Maturing Members). Die dritte Schicht umfasst alle Mitglieder (Members), die zusammen eine Gemeinde (Congregation) bilden. Um sie herum liegt eine vierte Schicht, die Menge (Crowd) der regelmäßigen Besucher (Regular Attendees), die noch keine Mitglieder sind. Die Umgebung ist schließlich das örtliche Gemeinwesen (Community) mit den Außenstehenden (Unchurched).

Bild: Jim Erwin

Bild: Jim Erwin

Rick Warren modelliert auf dieser Basis dann Prozesse, um Menschen von außen nach innen zu führen. Durch die Verkündigung der Frohen Botschaft lernen Außenstehende Christus kennen und werden in die Gemeinschaft aufgenommen. Die Gemeinde hilft ihnen dabei, in Christus zu wachsen und den Weg der Nachfolge Christi zu gehen. Der dritte Schritt – Christus dienen – führt zum Dienst und damit auch zur Diakonie. Und schließlich folgt die Mission: Christus mitteilen – Verkündigung. Damit schließt sich dieser Kreis.

Im Zentrum aller Prozesse steht die Liturgie, die damit eine neue Funktion bekommt – sie muss für Außenstehende attraktiv sein. An dieser Stelle fangen für einen liturgisch Interessierten, dessen Liturgieverständnis von Guardinis und Ratzingers „Geist der Liturgie“ geprägt ist, die Schwierigkeiten an. Michael White und Tom Corcoran zeigen allerdings, dass im Grunde keine Abstriche an der würdigen und rechten Feier der Liturgie notwendig sind. Für sie liegt der Schlüssel – und das teilen sie mit Rick Warren – bei der Kirchenmusik.

Die Musik muss die Außenstehenden in der örtlichen Umgebung ansprechen, sonst werden sie vielleicht einmal in die Kirche kommen, aber danach nie wieder. Hier kommt ein weiterer Gedanke zum Tragen: An wen konkret wenden wir uns eigentlich? Wer meint, sich an alle zu wenden, der wendet sich de facto an keinen. Wie jedes Produkt für eine bestimmte Zielgruppe gemacht ist, so muss auch eine Gemeinde ihre Adressaten kennen.

Rick Warren hat dafür die Kunstfigur des Saddleback Sam geschaffen, den prototypischen Außenstehenden in seinem kalifornischen Tal. Bei Michael White und Tom Corcoran ist es Timonium Tim. Auch der hat ein konkretes Profil, was ihn greifbar und vor allem adressierbar macht. Jede Gemeinde muss für sich selbst definieren, wen sie anspricht – geographisch, demographisch und sozialräumlich. Mit der blinden Übernahme irgendwelcher Modelle ist es an dieser Stelle nicht getan.

Erst wenn das geklärt ist, lohnt es sich, über die Gestaltung der Liturgie nachzudenken und den passenden Musikstil auszuwählen. An dieser Stelle passieren interessante Dinge. Wenn erst einmal konkrete Menschen in eine Gemeinde eintreten, dann bringen sie neben ihrem eigenen Musikgeschmack auch musikalische Talente mit. Diese Talente gilt es zu finden und für den Aufbau der Kirchenmusik zu nutzen. Am Ende klingt die Kirche womöglich nach zeitgenössischer Popmusik – das gilt es dann auszuhalten.

Schlimmer als vieles, was immer noch unter dem irreführenden Etikett des Neuen Geistlichen Liedes gehandelt wird, kann es kaum werden. Dieses Liedgut ist ja längst mit der Generation seiner Schöpfer gealtert und trägt heute zuverlässig dazu bei, jeden zu vergraulen, der jünger als 40 ist. Hier ist dringend Abhilfe geboten.

Rick Warren kommt übrigens für sein vierstufiges Initiationsmodell mit insgesamt 16 Stunden aus, verteilt auf vier halbe Tage. Regelmäßige Besucher werden durch einen Halbtagskurs und die Taufe – wir haben es mit Baptisten zu tun, die taufen im Zweifel lieber einmal mehr – zu Mitgliedern. Mitglieder lernen an einem halben Sonnabend, wie sie in Christus wachsen und den Weg der Nachfolge gehen können. Das Gleiche gilt für die weiteren Stufen.

Allerdings – und da wird es in deutschen Durchschnittsgemeinden heftigen Widerstand geben – kommuniziert Rick Warren jeder Gruppe sehr klar und deutlich, was er von ihnen erwartet. Im Grunde sind diese Kurse nur Anleitung zur Christwerdung und ein alles andere als anspruchsloses Programm. Beispielsweise erwartet Saddleback von seinen Mitgliedern nicht nur regelmäßige Teilnahme an den sonntäglichen Gottesdiensten, sondern auch eine tägliche Stille Zeit mit Bibellektüre und Gebet.

Wer in Deutschland nur an die Kirchengebote erinnert, bekommt schnell Ärger. Das muss aber klar sein: Von nichts kommt nichts. Eine Gemeinde, die nicht gesund ist, die kein Profil hat und von ihren Mitgliedern nichts erwartet, inzwischen ja nicht einmal mehr die Zahlung der Kirchensteuer, die kann auch nicht wachsen. Die besteht bestenfalls aus eifrigen Konsumenten des kirchlichen Angebotes, aber nicht aus reifen Christen, die ihren Nächsten dienen und das Evangelium verkünden.

Hier ist also, wie immer in Glaubensdingen, eine Entscheidung gefragt. Ich bin sicher, dass die Modelle von Rick Warren, Michael White und Tom Corcoran, entsprechend angepasst, auch in Deutschland funktionieren. Versuch macht klug. Dieser Weg beginnt, so jedenfalls rät Rick Warren, mit gründlichem Studium der Bibel. Er empfiehlt eine lange Liste von neutestamentlichen Bibelstellen, die sich mit dem Kirchen- und Gemeindebild befassen.

Dafür braucht es Zeit, so Rick Warren. Er warnt ausdrücklich vor Eile. Erst müsse ein ordentliches Fundament gegossen werden, indem Ziele und Aufgaben (purpose) klar definiert würden. Auf dieser Basis könnten und müssten dann alle Aktivitäten diesen Zielen untergeordnet werden. Was nicht den Zielen dient, soll weggelassen werden. Auch hier sind heftige Konflikte mit Besitzstandswahrern abzusehen.

Doch für den Aufbau des Reiches Gottes sind Konflikte notwendig und nicht zu vermeiden.