Über Subjekt und Adressat lokaler Kirchenentwicklung

Wenn Subjekt und Adressat lokaler Kirchenentwicklung unklar sind, dann liegt die Frage nach dem Soll nahe. Und die Frage, wer eigentlich diese Vorgabe zu machen hat.

Die Antwort ist in die gesamte Existenz der Kirche eingeschrieben. Sie steht in Mt 28, 19-20: 

„Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“

Es handelt sich um den Auftrag des Auferstandenen, wie die Einheitsübersetzung diesen Abschnitt überschreibt, oder auch, etwas altertümlich formuliert, den Missionsbefehl Jesu. Nun ist diese Antwort offenbar nicht so offensichtlich, wie man sie womöglich gern hätte. Sonst würden sich diese Fragen ja gar nicht erst stellen. Halten wir also zwei Punkte fest:

  1. In den Konzepten lokaler Kirchenentwicklung ist die Frage nach Subjekt und Adressat nicht so klar beantwortet, dass die Antwort offensichtlich wäre.
  2. Der Auftrag, zu allen Völkern zu gehen und alle Menschen zu Jüngern Jesu zu machen, muss konkretisiert werden, um konkret zu werden.

Der erste Punkt liegt jenseits der Sphäre meines persönlichen Einflusses. Ich habe mir die Konzepte lokaler Kirchenentwicklung nicht ausgedacht, aber ich erlebe sie in der Praxis und stelle insbesondere die Defizite fest, die sich dabei zeigen. Was die Ursachen dieser Defizite sind, ist gar nicht so einfach festzustellen.

Der zweite Punkt hingegen hat mich dazu veranlasst, in unserer Gemeinde eine Bibelwerkstatt zu initiieren, um zu einer Verständigung über das Fundament zu kommen. Dies kann nicht einfach vorgegeben, sondern muss (wieder-)entdeckt werden, und zwar von der Gemeinde selbst. Diese Anregung verdanke ich dem amerikanischen Pastor Rick Warren.

Zu diesem Fundament gehört auch noch mehr, insbesondere Mt 22, 37-40:

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.“

Die Antwort heißt also: Die Kirche kann gar nicht anders, als das Evangelium allen Völkern zu verkünden und alle Menschen zu Jüngern Jesu zu machen. Lokale Kirchenentwicklung kann daher nichts anderes heißen, als diesen Auftrag zu konkretisieren und auf die lokale Situation anzuwenden.

Die Gemeinde muss sich darüber verständigen, wer das Subjekt lokaler Kirchenentwicklung ist – die fünfprozentige Kerngemeinde oder die sehr viel größere Papiergemeinde? Oder gar ein Drittes? Und sie muss entscheiden, an wen konkret sie sich wenden will – an die nominalen Katholiken und Kirchensteuerzahler? Oder an das lokale Umfeld der Gemeinde? Und an wen dort konkret?

Darauf kann es keine pauschalen Antworten geben, sondern dies ist die Aufgabe jeder Gemeinde. Was allerdings nicht geht, ist Selbstgenügsamkeit. Lokale Kirchenentwicklung kann nicht heißen, dass eine fünfprozentige Kerngemeinde sich selbst genügt und keinerlei missionarischen Impuls entwickelt. Dann hätte sie ihren Auftrag verfehlt.

Lokale Kirchenentwicklung und der Spagat zwischen Kern- und Papiergemeinde

Die Kirchensteuer schafft eine heikle Situation, da sie letztlich, ob formal oder nicht, Ansprüche auf kirchliche Dienstleistungen entstehen lässt. Wer zahlt, der hat Anspruch auf die Taufe seiner Kinder, auf eine schöne Erstkommunion, Firmung und Trauung sowie schließlich auch eine kirchliche Beerdigung. Eine regelmäßige Teilnahme am Gemeindeleben ist dafür hingegen keine Voraussetzung.

In der Pfarrei, der ich angehöre, besuchen an einem durchschnittlichen Zählsonntag etwa fünf Prozent der Gemeindemitglieder eine Heilige Messe. 95 Prozent nehmen also dieses seelsorgliche Angebot nicht wahr, obwohl sie – soweit dazu verpflichtet – Kirchensteuer zahlen und damit letztlich den Apparat finanzieren, der diese und andere Angebote erbringt.

Dies zwingt das kirchliche Personal zu einem Spagat zwischen schrumpfender Kerngemeinde und – relativ oder in unserem Fall sogar absolut – wachsender Papiergemeinde. Nur wenige tragen das Gemeindeleben, aber viele erheben Anspruch auf kirchliche Dienstleistungen.

Die schrumpfende Kerngemeinde, tendenziell überaltert, zahlt kaum noch Kirchensteuer, während die kirchensteuerzahlenden Familien nur noch punktuell am Gemeindeleben teilnehmen. Es soll sogar schon Familien geben, deren Steuerzahler aus der Kirche ausgetreten sind, um Steuern zu sparen, während der Rest formal weiterhin zur Gemeinde zählt und kirchliche Dienstleistungen in Anspruch nimmt.

Lokale Kirchenentwicklung steht hier vor der dringenden Frage, wer eigentlich ihr Subjekt ist. Ist es die schrumpfende Kerngemeinde – und damit eine kleine Minderheit innerhalb der Papiergemeinde? Oder ist es die Gesamtheit der Gemeinde, unabhängig von ihrer Präsenz im Gemeindeleben?

Und ist sich, unabhängig von der Antwort auf diese Fragen, dieses Subjekt lokaler Kirchenentwicklung eigentlich selbst genug oder richtet sich ein missionarischer Impuls nach außen, ist Wachstum das Ziel? Je nachdem, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, entsteht ein völlig anderes Bild.

Eine Fünf-Prozent-Kerngemeinde hätte zunächst einmal die anderen 95 Prozent als mögliche Adressaten. Hier wäre die Frage, was die eigentlich vermissen oder was sie davon abhält, häufiger als nur gelegentlich am Gemeindeleben teilzunehmen. Müsste sich womöglich die Kerngemeinde selbst ändern oder ist sie im Recht, und alle anderen im Unrecht?

In einer Diasporasituation, wie wir sie hier im Norden vorfinden, ist aber auch die Gesamtheit der Gemeinde wiederum eine kleine Minderheit in einer ansonsten protestantisch, muslimisch oder neuheidnisch-atheistisch geprägten Umwelt. Ein missionarischer Impuls, der sich in dieses Umfeld richten würde, träfe noch einmal auf völlig andere Voraussetzungen.

Lokale Kirchenentwicklung steht also auch vor der dringenden Frage, wer eigentlich ihr Adressat ist. Wer seine Zielgruppe nicht beschreiben kann, der spricht letztlich niemanden an. Da sind alle Mühen vergebens.

Gemeindeleitung: Team oder Gremium?

Im allgemeinen Sprachgebrauch gilt ein Team als eine Gruppe von Menschen, die einem gemeinsamen Ziel folgt und sich auf bestimmte Regeln der Zusammenarbeit geeinigt hat. Dabei ist es das gemeinsame Ziel, das ein Team von einem Gremium unterscheidet. Denn auch ein Gremium muss sich auf bestimmte Regeln der Zusammenarbeit einigen. Aber nicht jedes Gremium ist auch ein Team.

Der klassische Pfarrgemeinderat ist in jedem Fall ein Gremium, aber nicht unbedingt ein Team. Als Gremium bündelt er verschiedene, zum Teil auch widerstreitende Interessen und sorgt für deren Ausgleich. Er hat gewisse Entscheidungskompetenzen und ist ansonsten eine beratende Instanz für den Pfarrer und die pastoralen Mitarbeiter.

Wenn das lokale Gemeindeleitungsteam nicht mehr als ein Gremium ist, dann ersetzt es bestenfalls den Pfarrgemeinderat – es hat aber dann kein gemeinsames Ziel. Erst „eine Vision und ein Leitbild für die lokale Gemeinde“ (Martin Wirth) machen aus einem bloßen Gremium ein Gemeindeleitungsteam. Und wo Vision und Leitbild aus dem Fokus geraten, da hört ein Gemeindeleitungsteam auf, Team zu sein.

Die Folgen sind desaströs. Unklare Ziele und Anforderungen gehören zu den häufigsten Ursachen für das Scheitern von Projekten. Dies ist unabhängig davon, um welche Art von Projekten und um welchen Bereich es sich handelt. Ein Team wird dann meistens in Aktionismus verfallen, um wenigstens vorzeigbare Ergebnisse seiner Arbeit zu produzieren und die eigene Existenzberechtigung nachzuweisen.

Ein beliebtes Beispiel aus dem Gemeindeleben ist das Gemeindefest, für das meistens lange im Voraus ein Termin festgelegt und Verantwortlichkeiten definiert sind. Danach passiert häufig lange Zeit nichts, bis der Termin näher heranrückt und damit Dringlichkeit und Zeitdruck entstehen. Zuvor war das Gemeindefest zwar wichtig, aber nicht dringend, weshalb es aus dem Fokus verschwand.

Unter Druck entsteht schließlich ein Ergebnis, das Fest findet statt und kann durchaus als Erfolg betrachtet werden – allerdings ist dann die Frage, was eigentlich die Erfolgskriterien sind. Was waren noch gleich die Ziele und Anforderungen? Die fehlende Verständigung darüber direkt zu Projektbeginn führt dazu, dass Grundsatzfragen immer wieder im Projektverlauf anhand einzelner Details zu diskutieren sind.

Eine dieser Grundsatzfragen ist die Festlegung der Zielgruppe: Wen soll ein Gemeindefest eigentlich ansprechen? Aus dem berechtigten Anliegen heraus, niemanden ausschließen zu wollen, folgt gern ein diffuses „Alle“, das konsequent angewandt eigentlich „Niemand“ bedeuten würde. Da aber ein Fest, das niemanden anspricht, am Ende gar nicht stattfinden würde, werden in aller Regel, ausgesprochen oder nicht, eine mehr oder weniger diffuse Kerngemeinde und einige ihrer Gruppen angesprochen.

Beispiele: Sollen die Bewohner des angrenzenden Altenheims zum Kaffee eingeladen werden? Die Logistik erlaubt das nicht, zudem sind die wenigsten Besucher katholisch oder haben wenigstens Kontakt zur Gemeinde. Die Firmbewerber sind mehr oder weniger zwangsverpflichtet und kümmern sich um die Vorbereitungen sowie den Service. Die polnische Gemeinde wird einen Altar für die kleine Fronleichnamsprozession gestalten und auf diese Weise eingebunden.

Manches war bereits in der Vergangenheit so und wird nach Möglichkeit wiederholt („So wie beim letzten Mal“), anderes ergibt sich mehr oder weniger zufällig. Das Ergebnis gleicht eher einem Patchwork, und das muss gar nicht einmal schlecht sein. Es werden Begegnungen stattfinden, Menschen werden sich kennenlernen, und es wird so etwas wie Feststimmung aufkommen.

Doch wird das Potential hier wirklich genutzt? Wären ein paar mehr Gedanken über die Zielgruppe und – darauf aufbauend – das Konzept nicht von größerem Nutzen gewesen? Wenn das Gemeindefest wirklich so wichtig ist, warum nicht einmal grundsätzlich darüber nachdenken? Ist das Ziel mit dem Wort „Gemeindefest“ allein schon hinreichend beschrieben? Wohl kaum.

Ebenso wenig reichen Begriffe wie „lebendige Gemeinde“ oder gar „offene Gemeinde“ aus, um das Ziel – die Vision und das Leitbild – eines Gemeindeleitungsteams zu beschreiben. Solche Leerformeln geben keine hinreichenden Entscheidungskriterien an die Hand, um daran die eigene Arbeit auszurichten. Darunter lässt sich alles und nichts fassen. Das Resultat ist Beliebigkeit. Ein Profil sieht anders aus.