German Angst

Mein Nachbar arbeitet in einem Atomkraftwerk. Als Elektriker. Wahrscheinlich gibt es dafür noch einen elaborierteren Namen, so etwas wie Elektroingenieur. Aber mein Nachbar macht nicht viel Gewese um solche Dinge.

Seit ich in der Nachbarschaft eines Atomkraftwerkes lebe und einen Mitarbeiter jenes Kraftwerkes als Nachbarn habe, hat sich mein Verhältnis zur Atomkraft deutlich entspannt. Selbstverständlich war ich früher dagegen. Und auch heute bin ich nicht etwa ein großer Freund der Atomkraft.

Doch ich plädiere für einen rationalen Umgang mit der Frage der Energieversorgung. Und davon sind wir in Deutschland momentan Lichtjahre entfernt. Die spinnen, die Deutschen! So möchte ich mit Spiegel-Autorin Cécile Calla ausrufen.

Die sensationalistische Medienberichterstattung und die öffentliche Meinung haben sich in den letzten zwei Wochen so hochgeschaukelt, dass sämtliche Maßstäbe verrutscht sind. Roland Tichy bringt es auf den Punkt:

Hunderttausende Menschen in Japan haben kein Dach über dem Kopf, sie trauern in Schnee und Kälte um ihre noch nicht gezählten Toten, Abermillionen leben in Angst vor dem Strahlentod.

Und Deutschland? Die Regierung ruft den Notstand aus! Wo ist unser Notstand, außer in unseren Hirnen? Menschen kaufen Jodtabletten und Geigerzähler; im öffentlichen Fernsehen wird mit geradezu wohligem Schauer die Apokalypse beschworen. Das alles klingt wie Hohn und Spott vor dem Hintergrund der tatsächlichen Katastrophe. Deutsche Politiker schlagen ihre kleinlichen parteilichen Vorteile aus der drohenden Atomkatastrophe.

Tagelang jagte eine Sensationsmeldung die andere, bis sich nicht etwa die Lage in Fukushima besserte – sondern mit Libyen ein neues Thema die drohende, aber letztlich trotz aller Beschwörungen bis jetzt nicht eingetretene Maximalkatastrophe aus den Schlagzeilen verdrängte.

In den deutschen Medien und der hiesigen Öffentlichkeit fehlt bis heute eine nüchterne Einordnung der Ereignisse. Die leisten noch am ehesten (ehemalige) Befürworter der Atomkraft wie Gero von Randow, wenn er schreibt:

Also Ausstieg. Allerdings gibt es einen beunruhigenden Umstand: Seit dem Unglück steigen die Aktien des Geschäfts mit Kohle, Öl und Gas. Dieses Geschäft fordert mehr Unfallopfer pro Gigawattjahr als die Atomenergie, trotz Tschernobyl. Sogar wohl dann, wenn es in Fukushima zum Schlimmsten kommen sollte. Rechnen wir die verlorenen Lebensjahre durch Luftverschmutzung hinzu, dann fällt die Behauptung in sich zusammen, Atomkraft sei die gefährlichste Energietechnik. Und das, obwohl vom Klimarisiko noch nicht die Rede war. Das Atomrisiko realisiert sich jedoch in anderer Weise als das Geschehen in Gruben und Kohlerevieren, auf Gasfeldern und Ölplattformen. Unsichtbar, unentrinnbar, ruft die Radioaktivität einen Archetypus wach: den Fluch. Nüchterne Berechnungen sind gegen die Macht dieses Angstmotivs hilflos. Es ist so stark, dass es abenteuerlichste Behauptungen deckt; in der deutschen Presse war zum Beispiel zu lesen, in Fukushima stünde »die nackte Existenz von Millionen« auf dem Spiel. [via]

Gemessen an der Größe der Flutkatastrophe, die dem Atomkraftwerk in Fukushima das Lebenslicht ausblies, sind die bis jetzt bekannten Unfallfolgen noch relativ überschaubar. Von einer dauerhaften Verstrahlung ganzer Landstriche wie nach Tschernobyl ist bis jetzt nicht die Rede.

Das Kraftwerk war nicht auf eine Flutwelle von jener Höhe ausgelegt, wie sie am 11. März hereinschwappte. Demzufolge war der Tsunami kein Auslegungsstörfall, sondern ein auslegungsüberschreitender Störfall. Gero von Randow vertritt die Auffassung, dass katastrophensichere Atomkraftwerke physikalisch möglich wären, aber praktisch, also technisch, wirtschaftlich und politisch nicht.

Was hilft’s? Wir haben in Deutschland seit Jahrzehnten versäumt, eine rationale Debatte über die Zukunft unserer Energieversorgung zu führen. Die Stromwirtschaft denkt aber notwendigerweise in Dekaden, nicht in Jahren. Kraftwerke sind große Investitionen, die sich über Jahrzehnte amortisieren müssen. (Auch Windräder laufen typischerweise 20 Jahre.)

Die Laufzeitverlängerung der schwarz-gelben Koalition war letztlich der Versuch, Zeit zu gewinnen. Schließlich müssen keine neuen Kraftwerke gebaut werden, solange die alten weiterlaufen können. Doch damit ist jetzt vermutlich Schluss. Die Chancen für neue Kohle-, Öl- und Gaskraftwerke in Deutschland dürften sich nach Fukushima dramatisch verbessert haben. Ob wir wollen oder nicht.

Hier bei uns im Landkreis haben wir den Atomausstieg schon hinter uns. Das Kernkraftwerk Stade, in dessen unmittelbarer Nähe wir seit 1998 leben, ist im November 2003 als erstes in Deutschland als Folge des Atomkonsenses abgeschaltet worden und wird seitdem demontiert. Am gleichen Standort sollen dafür neue Kraftwerke entstehen. Kohlekraftwerke.