Überlegungen am Vorabend der Wahl

Morgen wird der 19. Deutsche Bundestag gewählt, und wie im Grunde schon länger klar ist, werden dem neuen Parlament wahrscheinlich sechs (mit der CSU sieben) Parteien angehören. Auch wenn dies die Regierungsbildung erschweren dürfte, sehe ich keinen Grund zur Panik. Aber der Reihe nach.

  1. Die Kanzlerfrage ist schon lange entschieden. Angela Merkel bleibt Kanzlerin, Martin Schulz hatte aus einer Vielzahl von Gründen keine Chance und dürfte der SPD ein historisch schlechtes Wahlergebnis bescheren, und zwar völlig zu Recht. Der Wahlkampf der SPD war unterirdisch schlecht. Auch die Grünen haben kaum Gründe geliefert, warum sie gewählt werden sollten. Weshalb auch nur ihre Stammwähler grün wählen werden und eine hohe Wahlbeteiligung für die Grünen gefährlich werden dürfte.
  2. Die Koalitionsfrage hingegen ist offen. Die Merkel-CDU ist in der Mitte des politischen Feldes so positioniert, dass sie mit allen Parteien außer Linken und AfD koalieren könnte, je nach Opportunität und Machtverhältnissen. Sie ist weder ausgeprägt rechts/konservativ noch links, weder autoritär noch besonders liberal – sie ist alles und nichts zugleich. Eine Partei wie die heutige CDU hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Sie hat alle anderen Parteien zu Satelliten degradiert, die irgendwie um die CDU kreisen.
  3. Im nun vergangenen Bundestag gab es zwei mögliche Alternativen zur Großen Koalition: Rot-rot-grün (R2G) und Schwarz-grün. Beide sind Geschichte, wegen des Niedergangs der SPD und der Grünen, die mit dem (Wieder-)Aufstieg der FDP und der AfD einhergehen. Was SPD und Grüne mit der Linken (und der AfD) eint, ist ihr autoritäres, illiberales Politikverständnis. Sie glauben sich im Kern moralisch überlegen und im Besitz einer Wahrheit, die dem Rest der Gesellschaft im Rahmen der Möglichkeiten des demokratischen Rechtsstaates aufgezwungen werden muss, zu deren vermeintlich Besten.
  4. Der neue Bundestag wird die Gesellschaft sehr viel besser abbilden als der alte. Das ist aus demokratischer Perspektive eine gute Sache. Mit außerparlamentarischer Opposition hat dieses Land keine guten Erfahrungen gemacht. Opposition gehört ins Parlament. Ihre vornehmste Aufgabe ist, eine Alternative zur Regierung bereitzustellen. Hier versagt die SPD in einer dramatischen Weise, die jedem Demokraten Kopfschmerzen bereiten muss. Es ist leider überhaupt nicht zu erkennen, wie die CDU als Regierungspartei jemals abgelöst werden kann.
  5. Wer eine liberale Politik bevorzugt, hat in diesem Lande, im Gegensatz zu den Anhängern eines autoritären Politikstils, keine große Auswahl. Wer sich mit dem Opportunismus der Mitte, wie ihn die Merkel-CDU pflegt, nicht anfreunden kann, dem bleibt im Grunde nur die FDP, nachdem sich die AfD vom konservativ-liberalen ins rechts-autoritäre Politikfeld bewegt hat.
  6. Da gegen die CDU keine Regierung gebildet werden kann, läuft es also entweder auf eine Fortsetzung der Großen Koalition, auf Schwarz-gelb oder auf Jamaika hinaus. Die SPD kann froh sein, wenn ihr Abstand zur AfD nicht zu sehr schrumpft und sie weiterhin mitregieren darf. Wird die FDP drittstärkste Kraft oder wenigstens zweistellig, ist eine schwarz-gelbe Mehrheit und eine dementsprechende Koalition wahrscheinlich. Ob Jamaika realistisch ist, lässt sich schwer einschätzen. Wer keine Große Koalition wünscht, sollte daher FDP wählen.
  7. Neuwahlen aufgrund einer gescheiterten Regierungsbildung sind hingegen unwahrscheinlich. Denn dann dürfte die AfD noch einmal zulegen, zum Schaden der übrigen Parteien, die nicht zuletzt deshalb ein starkes Interesse am Mitregieren haben sollten.
  8. Alle Parteien außer der AfD eint das Versagen, das Thema No. 1 dieses Wahljahres, nämlich Einwanderung, nicht klar genug adressiert und letztlich der AfD überlassen zu haben. Es ist zugleich die einzige offene Flanke der CDU. Bei diesem Thema gab es keine Opposition im Parlament, einmal von der CSU abgesehen, die zeitweise die innerkoalitionäre Oppositionsrolle übernahm, aber selbstverständlich nicht so blöd war, diese Rolle auch im Wahlkampf einzunehmen. Einwanderung wäre das Gewinnerthema der SPD gewesen, wenn sie sich dazu von Anfang an klüger positioniert hätte und die Interessen derer vertreten hätte, die früher einmal SPD-Stammwähler waren. So verliert die SPD, wie sie in den 80ern Wähler an die Grünen, in den 90ern an die Linke und zuletzt an die CDU verloren hat, zu guter Letzt auch noch an die AfD. Wir erleben das Ende einer großen Volkspartei.

Die Bundesrepublik wird am Montag eine andere sein.

Wahljahr 2017: Alles läuft nach Merkels Plan

Es ist schon fast beängstigend, wie sehr das Wahljahr 2017 bis jetzt nach einem Drehbuch zu verlaufen scheint, das im Konrad-Adenauer-Haus geschrieben sein könnte. Ich frage mich schon länger, was eigentlich passieren müsste, damit die SPD die Bundestagswahl gewinnt. Mir fällt nichts ein.

Das beginnt schon damit, dass nicht einmal klar ist, wie eigentlich so ein SPD-Wahlsieg aussehen würde. Mehr Stimmen als die CDU? Das ist mittlerweile extrem unwahrscheinlich geworden. Eine Kanzlermehrheit für Rot-Rot-Grün? Die gibt es schon seit 2013, ohne dass dies der SPD irgendetwas genutzt hätte. Einmal davon abgesehen, dass inzwischen auch R2G weit von einer rechnerischen Mehrheit entfernt ist.

Woher soll eine Kanzlermehrheit für Martin Schulz kommen? Solange die SPD diese Frage nicht beantworten kann, muss sie auch keinen Kanzlerkandidaten aufstellen. Vages Geraune, dass zunächst die Wahl abzuwarten sei und sich danach schon Mehrheiten finden würden, genügt da nicht.

Das Wahljahr begann mit dem kongenialen Schachzug Sigmar Gabriels, auf sein nach einer absehbaren Wahlniederlage ohnehin verlorenes Amt als Parteivorsitzender zu verzichten und stattdessen mit Martin Schulz einen kurz vor der Rente stehenden Zählkandidaten auf den Schild zu heben. Das Modell hatte sich mit Peer Steinbrück bereits 2013 bewährt.

Diesmal hätte Gabriel als Parteivorsitzender selbst antreten müssen, die Wahl sicher verloren und anschließend auf irgendeinem Versorgungsposten ausharren müssen. Da nahm er lieber selbst das Heft in die Hand und sicherte sich mit dem Außenamt einen Ministersessel, auf dem er auch eine weitere Große Koalition überdauern könnte. Mittlerweile muss die Fortsetzung der Großen Koalition schon als Erfolg für die SPD gelten.

Niemand konnte ahnen, dass sich die SPD dermaßen an Schulzbegeisterung besaufen würde, wie sie es Anfang des Jahres tat, als sie ihn mit 100 Prozent der Stimmen ins Amt hievte. Schon damals war klar, dass diese Dramaturgie nicht zu einem erfolgreichen Wahlkampf passen würde. Denn vom Hype der 100 Prozent aus gesehen konnte es nur noch abwärts gehen.

Das Pulver war also schon im zeitigen Frühjahr verschossen. Die fehlende Machtperspektive schlug erstmals im Saarland vernichtend ins Kontor, als die Option R2G als Luftschloss entlarvt wurde. Die Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung der Linken schreckt SPD-Wähler ab, mobilisiert CDU-Wähler und treibt Wechselwähler in die Arme von Angela Merkel.

Es folgten die verlorenen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und NRW. Nun spätestens haftete Martin Schulz ein Verliererimage an, das er kaum wieder loswerden kann. Nach R2G zerstoben auch Rot-Grün (in NRW abgewählt) sowie die Ampelkoalition (die in Schleswig-Holstein nicht zu bilden gelang) als Machtperspektiven der SPD.

Was anschließend in Sachen „Ehe für alle“ geschah, hätte sich wahrscheinlich selbst Angela Merkel nicht träumen lassen. Zunächst legte Volker Beck den Grünen ein vergiftetes Abschiedsgeschenk ins Nest, als er diese an sich völlig unbedeutende Frage zur Koalitionsbedingung erklären ließ und damit zunächst die schwarz-grüne Option beschädigte.

Als FDP und schließlich die SPD nachzogen, schien endlich ein Wahlkampfthema gefunden, das Wähler gegen die CDU mobilisieren könnte, die als Blockierer dazustehen schien. Flugs erklärte Angela Merkel das Thema zur Gewissensfrage und entschärfte so diese Bombe. Trotzdem wäre das Thema im Wahlkampf auf der Agenda geblieben, wenn die SPD nicht wieder einmal Merkel in die Falle gegangen wäre.

So räumte die SPD nicht nur ein Wahlkampfthema ab, sie tat es auch noch auf die ungeschickteste Art, die denkbar war. In der letzten Sitzung vor der Sommerpause stimmte sie mit Linken und Grünen gegen die CDU, um das Thema auf die Tagesordnung setzen zu können, und bescherte so der Union unverhofft die Gelegenheit, im Wahlkampf glaubhaft vor R2G warnen zu können.

Auch im Bund ist damit ein Thema gefunden, das im Saarland bereits funktioniert hat: Wer nicht riskieren will, von den Linken regiert zu werden, der wählt besser nicht SPD oder Grüne. Beide Parteien werden damit effektiv auf ihre Stammwählerschaft reduziert. Dümmer geht es nicht.

Nun stochert Martin Schulz mit diversen Programmen im Sommerloch herum, ohne ein zündendes Thema für den Wahlkampf zu finden. Er ist längst selbst beschädigt, hat keine realistische Machtperspektive und kann nicht erklären, warum ein Machtwechsel angebracht sein sollte.

Und was heißt hier Machtwechsel? Die SPD war in den letzten 19 Jahren insgesamt 15 Jahre an der Regierung beteiligt. In den letzten vier Jahren konnte sie große Teile ihres Programms durchsetzen, auch ohne den Kanzler zu stellen. Warum daran etwas ändern?

Inzwischen wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es im Herbst für eine schwarzgelbe Koalition reichen könnte. Schwarz-Grün wäre dann vermutlich auch möglich, ist aber unwahrscheinlich – diese Chance haben die Grünen vor vier Jahren vertan. Es kann sogar sein, dass es am Ende zur absoluten Mehrheit für die CDU/CSU kommt.

Denn keine der vier kleinen Parteien (Linke, Grüne, FDP und AfD) ist wirklich sicher im nächsten Bundestag vertreten. Kämen nur zwei oder gar nur eine von ihnen ins Parlament, dann würden etwa 40 Prozent für die CDU zur absoluten Mehrheit genügen, da die SPD mit um die 24 Prozent weit genug entfernt ist. In 16 Prozentpunkten Abstand ist Platz für zwei kleine Parteien, auch ohne dass es eine Mehrheit gegen die CDU/CSU geben würde.

Allem Anschein nach genügt es, auf Fehler der SPD zu warten, um Wahlen zu gewinnen. Die Fehler der SPD allein im Jahr 2017 reichten wahrscheinlich, um mehrere Wahlen zu verlieren.

Lagertheorie und Lagerwahlkampf

Zuletzt habe ich mich an dieser Stelle über binäres Denken und die zunehmende Polarisierung beschwert. Doch wie fast alles im Leben hat auch die Polarisierung zwei Seiten.

Ich kann mich noch gut an den Bundestagswahlkampf 1976 erinnern. Damals war ich sieben Jahre alt und großer Fan von Bundeskanzler Helmut Schmidt. „Freiheit statt Sozialismus“ lautete seinerzeit der zentrale Slogan der CDU. Bei der CSU hieß die Formulierung „Freiheit oder Sozialismus“. Das waren doch mal Alternativen.

Political_chart_DEMan kann sich das heute vielleicht nur noch schwer vorstellen, aber wir hatten Mitte der 70er ein Dreiparteiensystem aus CDU/CSU, SPD und FDP. Die SPD war wie heute im linksautoritären Feld positioniert, die FDP seit Beginn der sozialliberalen Koalition in meinem Geburtsjahr 1969 im linksliberalen Feld. CDU/CSU deckten die beiden rechten Politikfelder ab. Dank eines Bundeskanzlers, der auch bürgerliche Wähler ansprach, und der rechtsliberalen Restbestände in der Wählerschaft der FDP hatten SPD und FDP zusammen eine knappe Mehrheit gegen CDU/CSU.

„Freiheit statt Sozialismus“ war als Slogan ganz klar auf jene Wähler der Mitte gemünzt, die sich mit dem linksliberalen Projekt (das damals nicht so hieß) gerade wegen seines linksautoritären Übergewichts nicht anfreunden konnten. Fast hätte es zu einer Mehrheit für den Kanzlerkandidaten Helmut Kohl gereicht. Die Polarisierung war damals ähnlich krass wie heute, und es ging ja auch um etwas. Dieser Slogan brachte das ganz gut auf den Punkt, auch weil sich die SPD damals wie heute zu einem gewissen Demokratischen Sozialismus bekannte.

Nach 1989 brachte dieses Bekenntnis die SPD zunehmend in Schwierigkeiten, als sich eine weitere Partei mit den gleichen drei Buchstaben in anderer Reihenfolge etablierte, die sich ebenfalls dazu bekannte. Gerhard Schröder musste seinerzeit, Ende der 90er, um seine Partei regierungs- und mehrheitsfähig zu machen, weit in die bürgerliche Mitte rücken und die „Neue Mitte“ ausrufen. Linke Wähler zog damals die PDS ab, die wiederum keine Machtperspektive zur Ablösung der Regierung Kohl bot.

Als die SPD 2005 den Mittekurs Schröders nicht mehr mittragen wollte, war seine Kanzlerschaft beendet. Da sich in einem Fünfparteiensystem nicht mehr ohne Weiteres Zweiparteienkoalitionen bilden lassen, kam es damals zu einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Kanzlerin Angela Merkel. Das war im Prinzip eine Mitte-Links-Koalition.

In den 80ern hatte Heiner Geißler als Generalsekretär der CDU die Lagertheorie entwickelt. Das Parteiensystem hatte sich damals durch das Erscheinen der Grünen zum Vierparteiensystem erweitert. Die FDP war mit ihrer Wende 1982 ins bürgerliche Lager gewechselt und hatte Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt. Das linke Lager bestand damit aus SPD und Grünen, das rechte, bürgerliche Lager aus CDU/CSU und FDP. Der Lagertheorie zufolge musste es darum gehen, Wählerstimmen der Mitte für das eigene Lager zu gewinnen, statt Stimmen innerhalb des eigenen Lagers zu verschieben, was ein Nullsummenspiel wäre.

Wir sehen hier ein Muster. Polarisierung dient letztlich dazu, die Mitte zu gewinnen und die Frontlinie von dort ins jeweils gegnerische Lager zu verschieben. Was heißt das nun für die gegenwärtige politische Situation? Bei der Bundestagswahl 2013 ist das Parteiensystem durch das Scheitern der FDP auf vier Parteien geschrumpft. Da auch die AfD nicht in den Bundestag einzog, sind nun drei linksautoritäre Parteien und eine Partei der Mitte im Parlament vertreten.

Diese Konstellation bildet das Wählerspektrum nur unvollkommen ab, zumal auch die Merkel-CDU stark sozialdemokratisiert erscheint und von den Wählern inzwischen als linke Partei wahrgenommen wird. Es gibt also im Bundestag ein Mitte-Links-Lager, das die Regierung stellt, und eine schwache linke Opposition. Die stärkere Opposition befindet sich außerhalb des Parlaments und nennt sich kongenial Alternative für Deutschland.

Diese Situation erklärt, dass wir momentan eine Lagerbildung zwischen Mitte-Links-Parlament einerseits und einer außerparlamentarischen Opposition andererseits sehen. Eine solche Situation gab es in der deutschen Nachkriegsdemokratie zuletzt 1968, damals allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Es regierte das Kabinett Kiesinger mit Willy Brandts SPD als Juniorpartner der ersten Großen Koalition. Die parlamentarische Opposition war schwach und bestand nur aus der damals noch rechtsliberalen FDP.

Die SPD konnte seinerzeit das linke Aufbegehren nicht aufnehmen, da sie selbst an einer Regierung mit deutlichen rechtsautoritären Anteilen beteiligt war. Im Unterschied zu heute war damals allerdings nur ein politischer Sektor unbesetzt, der linksliberale nämlich. Diese Lücke konnte die FDP mit ihrem ersten Wendemanöver hin zur linksliberalen Koalition im Jahr 1969 füllen. Es sollte dann noch ein Jahrzehnt bis zur Gründung der Grünen und damit zur vollständigen Integration der 68er ins parlamentarische System dauern.

Aus all dem folgt, dass wir 2017 mit hoher Wahrscheinlichkeit die Rückkehr der FDP in den Bundestag sehen werden. Sie müsste sich schon sehr dumm anstellen, um das brachliegende liberale Wählerpotential nicht wenigstens anzapfen zu können, sodass es für den Sprung über die Fünfprozenthürde reicht. Nun ist allerdings bei der FDP bekanntlich alles möglich, also auch ein erneutes Scheitern, was dann früher oder später zur Herausbildung einer neuen liberalen Partei führen dürfte.

Ebenso wahrscheinlich ist der Einzug der AfD in den Bundestag, sofern sie sich nicht bis dahin selbst zerlegen sollte. Das Resultat wäre ein Sechsparteiensystem, ein viertes Kabinett Merkel – sofern die Kanzlerin die laufende Legislaturperiode im Amt übersteht – und eine Fortsetzung der gegenwärtigen Koalition als der einzig möglichen Zweiparteienregierung. Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün sind unwahrscheinlich, wenn die AfD in den Bundestag kommt.

Für eine linksgrüne Dreierkoalition ist keine Mehrheit zu erwarten. SPD, Linke und Grüne haben sich im linksautoritären Politikfeld eingemauert und sind für Wähler der Mitte eher unattraktiv. Es wird also 2017 zwei Lager mit jeweils drei Parteien geben, doch koaliert wird weiterhin in der Mitte. Was mittelfristig eher zur Stärkung der Oppositionsparteien führen dürfte.

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Die ominöse Mitte

In den letzten Monaten habe ich mich recht intensiv mit dem Politischen Kompass und seiner Anwendung auf die aktuelle politische Situation in Deutschland befasst. Dabei habe ich den vier Feldern jeweils einige Aufmerksamkeit gewidmet. Bis jetzt zu kurz gekommen ist allerdings die Mitte.

Dies verwundert, da dort bekanntlich Wahlen gewonnen werden. Angela Merkel hat die CDU erfolgreich in die Mitte gerückt und damit der SPD die Luft zum Atmen genommen. Die SPD muss im links-autoritären Politikfeld mit der Linken und großen Teilen der Grünen konkurrieren, während die Grünen selbst wiederum in die von Merkel besetzte Mitte drängen.

Political_chart_DEWas ist also diese ominöse Mitte? Die Mitte ist zunächst einmal definiert als Schnittpunkt der beiden Achsen links-rechts und liberal-autoritär. Wer sich politisch in der Mitte positioniert, versteht sich also weder als links noch als rechts und weder liberal noch autoritär. Aber was dann, so möchte man fragen.

Für Deutschland trifft wohl am ehesten der Begriff Soziale Marktwirtschaft auf diese Mitte zu. Sie vereint das eher links-autoritäre sozialstaatliche Umverteilungsmoment mit der eher rechts-liberalen freien Marktwirtschaft, die aber einer rechts-autoritär gedachten staatlichen Regulierung bedarf, ohne jedoch die links-liberal verstandene freie Gesellschaft unnötig einzuengen.

Das klingt wie das katholische „et-et“ (sowohl – als auch), eines der Grundprinzipien katholischen Denkens. So gesehen hat im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft jedes der vier Felder seine eigene Berechtigung, ohne die jeweils anderen ausschließen zu wollen. Die Mitte ist, dialektisch gedacht, quasi die zweidimensionale Synthese der beiden politischen Grundwidersprüche.

Für den Regulierungsgedanken gibt es den selbst wieder schillernden Begriff des Ordoliberalismus, der sich nicht leicht auf ein einzelnes Politikfeld festlegen lässt. Kerngedanke der sozialen Marktwirtschaft ist jedenfalls, dass der Staat sowohl den Ordnungsrahmen für die Wirtschaft setzen als auch für einen gewissen sozialen Ausgleich sorgen muss, ohne die freie wirtschaftliche Betätigung der Bürger unnötig einzuschränken.

Die so verstandene Mitte ist zahlreichen Gefährdungen ausgesetzt. Die autoritäre Gefahr ist eine mögliche Übermacht des Staates, der Gesellschaft und Wirtschaft stranguliert. Die liberale Gefahr ist eine Schwächung des Staates, die seine Aufgaben beeinträchtigt. Die linke Gefahr ist eine überbordende Umverteilung, die zulasten der wirtschaftlichen Entwicklung geht. Und die rechte Gefahr ist eine Überbetonung der Wirtschaft, die zulasten der wirtschaftlich Schwachen geht.

Die Mitte ist der Ort zahlloser Kompromisse, die widerstreitende Interessen ausbalancieren. Sie ist kein Ort für Links- oder Rechtsradikale, für autoritäre oder liberale Extremisten. Wenn sich die Verteilung der Wähler entlang der beiden Achsen jeweils in Form einer Gaußkurve bewegt, dann ist in relativer Nähe zur Mitte die große Mehrheit aller Wähler zu finden.

Volksparteien müssen sich daher in der Mitte aufhalten. Je mittiger die größte Partei positioniert ist, umso schwieriger wird es für andere Volksparteien. Um sich zu unterscheiden, müssen sie von der Mitte wegrücken. Dadurch verlieren sie allerdings Wähler. Sich ebenfalls mittig zu positionieren, führt zum Verlust des eigenen Profils.

Was diese Zwickmühle bedeutet, ist derzeit gut am Beispiel der SPD zu besichtigen. Auch die Grünen laufen mit einem Kurs Richtung Mitte Gefahr, ihr Profil zu verlieren. Doch für die Grünen wären 20 Prozent der Wählerstimmen ein großer Erfolg, während der gleiche Wert für die SPD nahezu einer Katastrophe gleichkommt.

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Der linksautoritäre Habitus

Es gibt einen linksautoritären Habitus, der sich seiner selbst nicht bewusst ist. Um ihn zu verstehen, ist noch einmal ein Blick auf den Politischen Kompass nötig. Diskurspolitisch verbinden sich im linksautoritären Habitus die Ausgrenzung des rechten und des liberalen Sektors gleichermaßen. Damit bleibt der linksautoritäre Sektor als einzig legitimes Politikfeld übrig.

Political_chart_DEDer rechte Sektor wird durch eine Gleichsetzung ausgegrenzt, die nicht mehr zwischen konservativ, rechts, rechtspopulistisch, rechtsradikal oder rechtsextrem unterscheidet. Alles rechts der Mitte gilt pauschal als „rechts“, und rechts heißt mindestens rechtspopulistisch, eher aber rechtsradikal und rechtsextrem. Die alte Unterscheidung gilt nicht mehr, nach der es die latente oder offene Gewaltbereitschaft war, die zum Ausschluss aus dem legitimen politischen Spektrum führte.

Ähnliches gilt für den liberalen Sektor. Hier fungiert der Neoliberalismus als Vehikel, um liberale Ideen per se zu verdammen. Angesichts einiger Auswüchse des Neoliberalismus ist die Kritik daran zwar verständlich und legitim. Allerdings überzieht der Diskursausschluss, indem er zum Beispiel geflissentlich übersieht, dass auch der Neoliberalismus nur eine Gegenbewegung zum starken Ausbau des staatlichen Sektors war. Dieser Ausbau geschah in den 70er Jahren als Antwort auf die Wirtschaftskrise.

Diese Pauschalisierung und Polarisierung hat sehr viel Raum für neue politische Parteien geschaffen. Das Spektrum der etablierten Parteien ist praktisch im linksautoritären Sektor plus der Mitte zusammengeschnurrt. In der liberalen Hälfte des politischen Feldes irrlichtert einsam die parlamentarisch nur schwach vertretene FDP umher, in der rechten Hälfte irrlichtert ebenso und ebenso einsam die AfD herum, die ursprünglich als rechtsliberales Projekt gestartet war und zwischenzeitlich ihren rechtsautoritären Flügel gestärkt hat.

Zur besonderen Ironie der Lage gehört, dass sich der linksautoritäre Habitus seines autoritären Gestus gar nicht bewusst ist, sondern „autoritär“ einseitig mit dem rechtsautoritären Sektor zu verbinden sucht. Dies macht blind dafür, dass die Einengung des akzeptablen politischen Raumes auf den linksautoritären Sektor selbst eine autoritäre Figur des Denkens und Handelns ist. Sie kann sich sogar antiautoritär geben, obwohl sie dies gerade nicht ist. Denn antiautoritär wäre ja liberal.

Diese Analyse fußt auf der Akzeptanz des Politischen Kompasses und damit der These, dass die Achse links-rechts orthogonal zur Achse liberal-autoritär steht. Wer hingegen links pauschal mit liberal gleichsetzt und rechts mit autoritär, wird meinem Argument nicht folgen können. Er hat dann allerdings das Problem, wie er die Ablehnung des Neoliberalismus erklären kann.

Dies kann dann wohl nur mit einer Argumentationsfigur der Uneigentlichkeit geschehen, der zufolge der Neoliberalismus kein wirklicher Liberalismus wäre, sondern eine Perversion des Liberalismus. Eine solche Argumentation scheint mir allerdings wenig haltbar zu sein. Ich würde den Neoliberalismus eher im rechtsliberalen Politikfeld ansiedeln.

Rechts- wie linksautoritäre Politik eint ihr Ruf nach einem starken Staat. Sie unterscheidet nur, was als vorrangige Staatsaufgabe angesehen wird. Während rechtsautoritäre Politik eher auf Recht und Ordnung besteht, verlangt linksautoritäre Politik nach mehr Sozialstaat und Umverteilung des Wohlstands.

Rechts- und linksliberale Politik eint hingegen ihr Misstrauen gegenüber einem übermächtigen Staatswesen. Während rechtsliberale Politik eher auf die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung setzt, fordert linksliberale Politik eher eine freie Gesellschaft, die weder durch den Staat noch durch die Wirtschaft dominiert werden soll.

In einer lebendigen Demokratie sind alle vier Felder parlamentarisch vertreten und ringen gemeinsam um Wählerstimmen sowie um politische Lösungen. So gesehen ist die Entstehung der AfD eher eine gesunde Reaktion auf die Räumung des rechten Sektors durch die CDU/CSU. Eine Neubesetzung des liberalen Sektors hingegen, den die FDP zuletzt praktisch verwaisen ließ, steht einstweilen noch aus.

Grafik: Church of emacs (Lizenz)

Auf der Suche nach den Linksliberalen

Gibt es eigentlich eine linksliberale Partei in Deutschland? Der Politische Kompass mit seinen vier Feldern legt die Vermutung nahe, dass sich im linksliberalen Feld etwa ein Viertel aller Wähler aufhalten. Aber welche Partei ist dort klar positioniert?

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Die FDP ist nicht im Bundestag vertreten. Die SPD ist zwar nicht so autoritär wie die Linke, aber nicht gerade liberal. Die Grünen oszillieren je nach Thema und Parteiflügel zwischen autoritär und liberal, zum Teil sogar rechts (sic!), da konservativ.

Es bleibt die CDU, die zwar von den Wählern als links der Mitte wahrgenommen wird — aber wird sie auch als liberal betrachtet? Zum Teil vielleicht, aber sicher nicht durchgängig. Und für die CSU gilt dies in etwa ebenso.

In der Konsequenz sind also drei von vier Feldern des Politischen Kompasses derzeit quasi unbesetzt oder Spielfeld von FDP und AfD, während sich alle etablierten Parteien im links-autoritären Feld oder eben in der Mitte bewegen, also weder ausgeprägt autoritär noch besonders liberal erscheinen. So gesehen liegt das Wählerpotential für AfD, FDP und eventuelle andere, mehr oder weniger neue Parteien bei bis zu 75 Prozent. Das passt auch zu einer Umfrage, derzufolge fast drei Viertel der Befragten die etablierten Parteien für realitätsfremd halten.

Von diesen drei Vierteln, die den theoretischen Höchstwert bilden, sind die Wähler der Mitte abzuziehen, die von CDU/CSU, SPD und Grünen gebunden werden können. Das dürften schon noch einige Wähler sein. Allerdings war die Wahl des österreichischen Bundespräsidenten in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Es bedurfte einer ungeheuren Kraftanstrengung praktisch aller Parteien gegen eine, nur um einen hauchdünnen Vorsprung zu gewinnen.

Der grüne Kandidat war quasi das letzte Aufgebot gegen die FPÖ, die aus den unbesetzten Feldern rechts-autoritär, rechts-liberal und wahrscheinlich sogar links-liberal fast eine Mehrheit gewinnen konnte, während die Allianz des links-autoritären Politikfeldes inklusive der Reste jener einst dominanten Mitte dies nur mit Ach und Krach zu verhindern wusste.

Mit anderen Worten: Wenn praktisch das gesamte Parteienspektrum im links-autoritären Feld zusammenschnurrt und die anderen drei Felder mehr oder weniger freigibt, dann ist — zumal in einem Land mit quasi struktureller bürgerlicher Mehrheit — der Weg frei für neue Mehrheiten jenseits aller etablierten Parteien. Dass es einer einzelnen Partei wie der AfD oder der FPÖ gelingen wird, eine absolute Parlamentsmehrheit zu gewinnen, ist zwar unwahrscheinlich, aber eben auch nicht unmöglich.

Grafik: Church of emacs (Lizenz)

Der Raum rechts der Mitte

Wer den aktuellen Zustand unseres Parteiensystems besser verstehen möchte, ist mit der folgenden Grafik gut bedient. Die Befragten haben sich selbst und die relevanten politischen Parteien auf einer Skala von 1 (links) bis 11 (rechts) eingeordnet. Ihre Selbsteinschätzung lag im Durchschnitt bei 6,64 und damit leicht rechts der Mitte, was sich mit der langjährigen Konstante einer bürgerlichen Mehrheit in Deutschland deckt.

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In dieser Grafik ist schlaglichtartig zu sehen, wie groß der politische Raum rechts der Mitte inzwischen geworden ist, jener konservative Sektor, der „zum politischen Brachland wurde, das die AfD wieder urbar macht“ (Berthold Kohler). Wenn selbst die CSU leicht links der Mitte und deutlich weiter links als der Durchschnitt der Wähler wahrgenommen wird, dann heißt das: Rechts ist Platz frei für mehr als eine Partei, egal ob neu oder nicht.

Nun lässt sich aus einem Durchschnittswert nicht ableiten, wie groß das dort brachliegende Wählerpotential ist oder wie es sich auf der Links-Rechts-Achse verteilt. Dazu wäre ein Blick in die Rohdaten erforderlich. Meine Annahme ist aber, dass die Verteilung sich etwa einer Gauss-Kurve nähert.

Es wäre nun hilfreich, diese Befragung um eine zweite Dimension zu erweitern, wie sie der Politische Kompass verwendet.

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Grafik: Church of emacs (Lizenz)

Aus Sicht der Wähler – und in einer Demokratie ist das letztlich die entscheidende Sicht – sind alle etablierten Parteien derzeit in den beiden Sektoren links der Mitte verortet, also links-autoritär wie die Linke sowie Teile der Grünen und der SPD oder links-liberal wie die FDP. Rechts findet sich ausschließlich die AfD sowie bestenfalls Teile der CSU, die ihren Schwerpunkt ansonsten ebenfalls leicht links der Mitte hat.

Rechts der Mitte wäre demnach Platz für mindestens zwei Parteien, eine rechts-liberale und eine rechts-autoritäre Partei. Die AfD wird seit ihrer Gründung, vergleichbar den jungen Grünen, durch heftige Kämpfe zwischen ihrem liberalen und ihrem autoritären Flügel geschüttelt. Dadurch bedient sie im Moment beide Segmente, was durchaus eine Erfolgsstrategie sein kann und durch die derzeitigen Wahlergebnisse und Umfragewerte gestützt wird.

Die Situation für die etablierten Parteien ist aber noch viel dramatischer. Bleiben wir bei der Annahme, dass die Verteilung der Wähler im politischen Spektrum von links nach rechts in etwa der einer Gauss-Kurve entspricht. In diesem Fall finden sich links und rechts der Mitte jeweils annähernd gleich viele Wähler. Wenn die Wähler nun alle etablierten Parteien links der Mitte verorten, dann liegt das Wählerpotential für Parteien rechts der Mitte in etwa bei 50 Prozent – wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dann hat ihn die Bundespräsidentenwahl in Österreich erbracht.

Spannend ist nun die Frage, wie viel von diesem Potential CDU, CSU und FDP noch binden können, obwohl sie von den Wählern als Parteien des linken Spektrums eingeordnet werden. Das ist schwer abzuschätzen. Es handelt sich hier um die berühmte bürgerliche Mitte, in der hierzulande Wahlen gewonnen und verloren werden. Wenig hilfreich scheint mir eine bis dato dominante Kommunikationsstrategie zu sein, die in der NZZ wie folgt beschrieben wird:

Anstatt zwischen konservativ, rechts, rechtspopulistisch und rechtsextrem zu unterscheiden, wird der gesamte Kommunikationsraum, der sich in Opposition zum linksliberal-grünen Justemilieu zu etablieren beginnt, zu einer Zone des Bösen erklärt, die unter Quarantäne zu stellen ist.

Angesichts der oben beschriebenen Situation muss eine solche Strategie praktisch zwangsläufig scheitern, weil sie dazu geeignet ist, eine an sich durch die bürgerliche Mitte geprägte Gesellschaft zu polarisieren und zu spalten. Das rechte Lager, das ja angeblich bekämpft werden soll, wächst dadurch erst recht und schöpft sein Potential mehr und mehr aus.

Auf Basis der oben beschriebenen Wählerwahrnehmung bietet sich für zwei der etablierten Parteien die Chance, das derzeit von der AfD beackerte Brachland im konservativen Sektor zu besetzen: die CSU und die FDP. Eine rechts-liberale FDP und eine rechts-autoritäre CSU könnten so die AfD in die Zange nehmen.

Dabei läge es nahe, jeweils eine komplementäre Strategie zu wählen: Während die FDP den liberalen Aspekt stärken würde, um die Linksliberalen nicht abzuschrecken, könnte die CSU sich als rechtskonservative Partei profilieren, ohne sich zu stark auf eines der beiden Felder (autoritär/liberal) festzulegen.

Der Preis dafür könnte jedoch sein, die AfD in die rechts-autoritäre Ecke zu drängen, weil nur dort genügend Platz bliebe. Ob das wünschenswert ist, steht auf einem anderen Blatt. Außerdem kann die CSU als Regionalpartei nicht bundesweit Wähler binden. Sie kann allenfalls als Korrektiv der CDU wirken und Wählern einen Grund geben, die CDU zu wählen.

Jedenfalls drängt das politische Vakuum rechts der Mitte früher oder später zum Ausgleich. Dort werden entweder Parteien wie die AfD heranwachsen oder sich erneut die früher dort positionierten Parteien ansiedeln. Das ist nur eine Frage der Zeit. Der kommende Bundestagswahlkampf wird spannend.

Zur Politischen Geographie im Deutschland des Jahres 2016

Eine Replik auf Wolfgang Lünenbürger

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: “Sie haben sich gar nicht verändert.”
“Oh!” sagte Herr K. und erbleichte.

Bertolt Brecht, Das Wiedersehen

An diese kurze Geschichte hat mich Wolfgang Lünenbürger erinnert, der einen meiner Tweets zum Anlass für eine umfangreiche Positionsbestimmung nahm.

Wolfgang liest in seinem Blog nach und beruhigt sich selbst mit der Feststellung:

Nein, ich habe mich politisch und im Blick auf dieses Land nicht wesentlich verändert seit 2003. Was ja schon eine längere Zeit ist. Wohl aber werde ich anders verortet. 2003 war ich noch (obwohl bei den Grünen) eher mittig und gehörte beispielsweise zum “rechten” Flügel meiner Partei. Heute befinden sich sehr viele bei den Grünen rechts von mir, in der politischen Diskussion insgesamt auch mehr als damals.

Was ihn hingegen um den Schlaf bringt, ist die Folgerung, dass die “Mitte der Gesellschaft” nicht nach rechts gedrängt wurde, sondern sich dahin begeben hat.

I. Wie ja das Brecht-Zitat schon andeutet, würde ich es nicht für einen Vorzug halten, mich seit 2003 nicht wesentlich verändert zu haben. Im Gegenteil — wie sich in meinem Blog nachlesen lässt, hat sich da einiges getan. Und das ist auch gut so.

Meine eigenen Glaubenssätze habe ich in einem langen Prozess im Grunde auf das Credo reduziert und auf das, was damit im katholischen Verständnis gemeint ist. Auf dieser Basis ruht alles andere, und alles andere ist up for debate.

In diesem Prozess sind nach und nach auch alle Glaubenssätze über Bord gegangen, die mir — als früherem Stammwähler der Grünen — nicht mit dem christlichen Menschenbild vereinbar erschienen. Schade für die Grünen, aber den umgekehrten Weg gehen ja schon genug Leute, die meinen, der Glaube der Kirche müsse sich nach dem Parteiprogramm der Grünen richten.

Im Angesicht der Ewigkeit erscheint mir das geradezu absurd.

II. Anders als Wolfgang habe ich Theologie nur auf Grundkursniveau im Würzburger Fernkurs studiert und abgeschlossen, mein Diplom hingegen in Politikwissenschaft erworben. Ich könnte jetzt biographisch noch etwas weiter ausholen, doch soll dies auf später vertagt werden.

Gerade in aufregenden Zeiten wie diesen fällt mir jedoch auf, dass mein Studium hilft, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Welt nicht mit einem moralistischen Überschuss zu betrachten. Moral ist wichtig und richtig, Moralismus nicht.

III. Die simple Einordnung des politischen Spektrums nach dem Schema links/rechts ist mir zu simpel. Besser funktionieren Modelle wie der Politische Kompass oder auch das Nolan-Diagramm. Ersterer fügt der Links-Rechts-Achse eine dazu orthogonale Liberal-Autoritär-Achse hinzu. Damit entstehen die vier Felder linksautoritär, linksliberal, rechtsliberal und rechtsautoritär sowie die berühmte Mitte.

Gegenwärtig ist im deutschen Parteiensystem die Mitte eindeutig von der CDU/CSU besetzt, mit nur noch leichter Tendenz ins rechtsliberale Lager, während das rechtsautoritäre Feld quasi geräumt ist. Leicht links von der Mitte bewegen sich SPD und Grüne, die Linke beackert das linksautoritäre Feld. Die FDP versucht gerade, sich als liberale Mitte neu zu positionieren.

Die CDU/CSU hat das rechtsautoritäre Feld — wir erinnern uns an Innenminister wie Manfred Kanther oder Friedrich Zimmermann — längst verlassen, um in der Mitte Wahlen zu gewinnen. Das war insbesondere dank einer linksliberal und grün dominierten Medienlandschaft eine überaus erfolgreiche Strategie, der SPD und Grüne bis dato nichts entgegenzusetzen haben.

Der Preis dafür ist allerdings, Platz zu schaffen für eine neue bürgerliche Partei. Die muss nicht einmal besonders rechtsautoritär ausgeprägt sein, da auch im rechtsliberalen Feld genügend Raum freigeworden ist. Wo genau sich die AfD am Ende positionieren wird, ist noch durchaus offen.

Derzeit zerrt es gewaltig an der jungen Partei, man fühlt sich erinnert an die heftigen Flügelkämpfe der jungen Grünen. Man darf nicht vergessen, dass dort linksautoritäre Kräfte wie die ehemaligen K-Gruppen mit rechtsautoritären Leuten wie Herbert Gruhl rangen oder dass später im Bündnis 90 auch durchaus konservative Positionen vertreten waren.

Solche Klärungsprozesse brauchen Zeit. Das wird bei der AfD nicht anders sein. Viele Parteineugründungen zerlegen sich auch wieder selbst oder schaffen es nicht, sich dauerhaft über der Fünfprozenthürde zu halten.

IV. Vieles von dem, was Wolfgang als Rechtsruck versteht, lässt sich auch als Realitätstest beschreiben. So mancher linke, liberale oder grüne (wahrscheinlich auch rechte oder autoritäre) Glaubenssatz zerschellt in entscheidenden Momenten an der harten Realität. In solchen Momenten gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann entweder die Realität für richtig halten oder den Glaubenssatz, aber nicht beides zugleich.

Tendenziell entscheiden sich in Krisenzeiten mehr Menschen für die Realität und gegen damit unvereinbare Glaubenssätze, während in ruhigeren Zeiten Glaubenssätze den Vorzug bekommen, die keinen harten Realitätstest überstehen würden. Wenn der Realitätstest überwiegend linke, liberale oder grüne Glaubenssätze betrifft, dann sieht das Resultat wie ein Rechtsruck aus.

Im Grunde ist es normal und auch richtig, dass ein Parteiensystem alle vier Felder und die Mitte besetzen kann. Damit ist das politische Meinungsspektrum gut abgedeckt, der Wähler hat eine wirkliche Wahl und es gibt keinen Grund für außerparlamentarische, antidemokratische oder gewalttätige Oppositionsbewegungen.

V. Wer allerdings den rechten Teil der Matrix tendenziell unter pauschalen Faschismusverdacht stellt, der schafft sich seinen Rechtsruck selbst. Denn das kann und wird nicht unwidersprochen bleiben. Das politische Spektrum im Nachkriegsdeutschland ist im Gegenteil erstaunlich stabil und von einer starken Mitte geprägt.

Daran haben auch die großen Einschnitte der Nachkriegsära — als da wären 1968ff. bis zum Deutschen Herbst 1977 und die Deutsche Einheit 1990 — nicht sehr viel geändert. Wir haben die Grünen ebenso in Regierungsverantwortung genommen wie die linksautoritären Nachfolger der SED — und damit die Erben von 1968/77 und 1989/90 integriert.

Die gegenwärtige Flüchtlingskrise und ihre Ursachen haben durchaus das Zeug zu einem dritten großen Einschnitt, da sie ähnlich fundamentale Fragen aufwerfen. 1968/77 und 1989/90 hat sich jeweils das bestehende politische System des Nachkriegsdeutschlands durchsetzen können, weil eine starke Mehrheit, letztlich der Mitte, es genau so wollte.

2015/16 ist es wieder unser bestehendes politisches System, dessen weltweite Attraktivität in Kombination mit der von Angela Merkel ausgerufenen Offenheit für alle Mühseligen und Beladenen im Mittelpunkt steht. Und die Frage, an der sich momentan die Geister scheiden: Wird dieses System durch die Merkelsche Offenheit bedroht oder wird es dadurch eher stärker?

VI. Wo ist denn nun der Faschismus, den Wolfgang quasi an jeder Straßenecke zu beobachten meint? Dazu schlage ich vor, die Matrix auf eine Kugel zu legen. Am Äquator wandern wir dann auf der Suche nach den Faschisten so lange nach rechts, bis uns diejenigen begegnen, die uns entgegen nach links gewandert sind. Und von dort aus wandern wir gemeinsam zum autoritären Pol.

Dort ist es sehr kalt. An diesem Pol gibt es kein Rechts und kein Links mehr. Dort sind die Faschisten, die in Deutschland sehr treffend als nationale Sozialisten bezeichnet wurden. Von dort aus betrachtet sieht der Rest der Welt liberal aus, während vom liberalen Pol aus alles autoritär erscheint — und die wahren Faschisten irgendwo hinter der Erdkrümmung sitzen.

Zuerst erschienen auf Medium.

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Dass Wahlen in Deutschland in der bürgerlichen Mitte gewonnen werden, ist an sich eine Binsenweisheit. Erinnert sei hier nur an die von Gerhard Schröder erfundene Neue Mitte, mit der er die Bundestagswahl 1998 gewann. 15 Jahre später ist die Mitte fest in der Hand von Angela Merkel, von CDU und CSU. So sehr, dass sich dort nicht einmal die FDP halten konnte.

Aber auch die Grünen haben hart umkämpften Boden in der politischen Mitte an Angela Merkel verloren. Von der SPD ganz zu schweigen, die nur noch ein gutes Viertel der Wähler erreicht. Sie wird zwischen CDU, Grünen und Linken zerrieben. Strategisch sitzt die Sozialdemokratie in der Falle. Auf absehbare Zeit fehlt ihr die Kanzlerperspektive.

Denn woher sollte die Mehrheit für einen SPD-Kanzler kommen? Nach Lage der Dinge müsste die SPD entweder die Linke absorbieren oder der CDU wenigstens acht Prozentpunkte ihrer Stimmen abnehmen. Beides gleichzeitig und jeweils ein bisschen wird kaum möglich sein. Über dieses schon schwer vorstellbare politische Wunder hinaus bräuchte die SPD noch einen Koalitionspartner, und auch der schwächelt gewaltig.

Nach dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag scheint durchaus möglich, dass es bei der nächsten Wahl die Grünen erwischt. Auch das wäre nicht unverdient. Die Partei ist personell wie programmatisch am Ende. Ihre Kernthemen – siehe Atomausstieg – hat Angela Merkel längst so weit wie möglich übernommen. Was übrig ist, reicht für keine Regierung und womöglich auch nicht mehr für das Parlament.

Die Linke – gemeint ist die Partei – war im Bund noch nie regierungsfähig und wird es wohl auch so schnell nicht werden. Mit Blick auf die absehbare Zukunft gilt dieser Satz auch für die Linke insgesamt. Dass SPD, Grüne und Linke eine hauchdünne Mehrheit der Sitze haben, ist allein der Tatsache zu verdanken, dass zwei bürgerliche Parteien knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind.

Bei der nächsten Wahl, egal ob sie schnell kommt, nach einer halben Legislaturperiode oder erst in vier jahren, wird sich das nicht wiederholen. Wenigstens eine der beiden Parteien wird ins Parlament einziehen, oder Angela Merkel zieht die Restwählerschaft der FDP auf ihre Seite. In jedem Fall wird es rechnerisch nicht wieder für Rot-Rot-Grün reichen. Politisch sowieso nicht. Es gibt keine linke Mehrheit der Stimmen – SPD, Grüne und Linke sind zusammen gerade einmal so stark wie CDU und CSU alleine.

Es gibt aber auch keine linke Mehrheit der Mandate, denn die Grünen sind – oder waren? – eine bürgerlich-liberale Partei. Gegen Angela Merkel kann bis auf Weiteres in Deutschland nicht regiert werden. Wer weiß, ob sie nicht zur nächsten Bundestagswahl wieder antritt? Ein vierter Wahlsieg, wie er zuletzt Helmut Kohl gelang, sollte drin sein.

Überlegungen eines Wechselwählers

Meine Wahlentscheidung war in diesem Jahr relativ einfach. Im meinem Wahlkreis treten für die beiden großen Parteien zwei neue Direktkandidaten an, nachdem die 2009 gewählte CDU-Abgeordnete Martina Krogmann ihr Mandat schon nach relativ kurzer Zeit zurückgegeben hatte. Beide Kandidaten erscheinen mir wählbar, ich habe mich für Oliver Grundmann (CDU) entschieden.

Bei der Zweitstimme ist die Überlegung auch nicht sehr kompliziert. Da auf der CDU-Landesliste Ursula von der Leyen auf Platz 1 steht, die ich nach wie vor für unwählbar halte, gebe ich meine Zweitstimme der FDP-Landesliste mit dem Katholiken Philipp Rösler an der Spitze, dem in Stade geborenen Patrick Döring auf Platz 2 und dem Stader Rechtsanwalt Serkan Tören an sechster Stelle. Sofern die FDP in den nächsten Bundestag einzieht, wird Serkan Tören mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit meine Region auch weiterhin im Parlament vertreten.

Da bei dieser Bundestagswahl mit keinem Kanzlerwechsel zu rechnen ist (was schon Anfang 2012 absehbar war), ist die wesentliche Frage, mit welchem Koalitionspartner Angela Merkel in ihre dritte Legislaturperiode als Kanzlerin gehen wird. Meine Zweitstimme für die FDP trägt dazu bei, die schwarz-gelbe Option zu erhalten. Aber auch eine Große Koalition scheint mir kein Beinbruch zu sein. Die Grünen werden völlig zu Recht ein schlechtes Wahlergebnis einfahren und nicht an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein.

Generell erscheint mir das verbreitete parteienfeindliche Gerede wenig zielführend zu sein. Eine Bundestagswahl ist keine Liebesheirat. Letztlich geht es nur darum, für die kommenden vier Jahre ein arbeitsfähiges Parlament zu wählen, das dann eine ebensolche Bundesregierung installiert. Weder Parlament noch Regierung haben den Auftrag, die Gesellschaft zu verändern oder den Bürgern unnötige Detailvorschriften zu machen, wie sie ihr Leben zu führen haben.

So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört! (Mt 22,21) Eine Partei, die ich wähle, muss nicht in allen Punkten meiner Meinung sein. Exemplarisch zeigt der Wahl-O-Mat anhand von 38 Fragen, wie hoch der Grad der Übereinstimmung mit den Wahlprogrammen der Parteien ist. Immerhin 78,3 Prozent erreicht dabei in meinem Fall die am besten abschneidende Partei. Kein schlechtes Ergebnis.

In der Bundesrepublik des Jahres 2013 ist es nicht mehr sehr wahrscheinlich, eine Partei mit glasklarem christlichen Profil im Deutschen Bundestag zu finden. Das kann zwar traurig stimmen, aber es gibt auch eine gewisse Freiheit der Wahl. Schwierig wird es immer da, wo Gewissensfragen berührt sind. Das allerdings wird tendenziell bei immer mehr Parteien zum Problem.