Eine Marienvesper in Etzelsbach

Dritter Teil meines Pilgerberichts (Teil I, Teil II)

Gut sieben Stunden, nachdem ich am Morgen mein Elternhaus verlassen hatte, um nach Etzelsbach aufzubrechen, waren wir also am Ziel. Unsere große Pilgergruppe zerstreute sich über den noch zugänglichen Teil des Pilgerfeldes.

Ich fand mich mit einer kleinen Gruppe Jugendlicher aus dem Dekanat Unterelbe wieder. Wir ließen uns auf der Wiese nieder, um uns vom Pilgerweg auszuruhen. Es war ein sonniger Frühherbstnachmittag, und noch war es angenehm warm. Auf der Nebenbühne fand das Vorprogramm statt, das im Vergleich zu dem, was aus Berlin und Freiburg berichtet wurde, ganz passabel war. Auf die Eichsfelder ist halt Verlass.

In kurzen Videoeinspielen wurden die zahlreichen anderen Wallfahrtsorte des Eichsfelds vorgestellt, es gab Interviews, der große Chor und das Orchester sangen und spielten geistliche Musik, Kardinal Meisner sprach zu den Pilgern. Der Kardinal hat in Erfurt studiert, wurde dort zum Priester geweiht und ist seit seiner Kaplanszeit im nahen Heiligenstadt dem Eichsfeld eng verbunden. Es wurden sogar ein oder zwei Gesätze des Rosenkranzes gebetet, und als sich die Ankunft des Papstes verzögerte, was zu einer Pause führte, stimmte das Pilgervolk spontan das Te Deum („Großer Gott, wir loben dich“) an.

Mittlerweile war die Zeit fortgeschritten, die Sonne begann hinter dem Hügel in unserem Rücken zu versinken. Irgendwann zeigten sich am Himmel fünf Hubschrauber der Bundespolizei, flogen eine Schleife über dem Wald im Rücken der Wallfahrtskapelle und landeten auf dem Feld vor dem Wald. War das schon der Papst? Wir wussten es nicht, jedoch stand das Papamobil noch unverändert an seinem Platz. Es dauerte noch einige Minuten, bevor ein weiterer Hubschrauber auftauchte, diesmal zuerst auf der Großbildleinwand. Das musste der Papst sein.

Und richtig, er war es. Als kurz nach der Landung im Fernsehbild eine weiß gekleidete Gestalt am Hubschrauberfenster zu erkennen war, kam spontaner Jubel auf. Die Choreographie von päpstlichen Großveranstaltungen ist hinlänglich bekannt. Das Papamobil ist der moderne Nachfolger der Sedia gestatoria, auch wenn es nicht ganz den gleichen Zweck erfüllt. Die Fahrt im weiten Halbkreis rund über das Pilgerfeld ist nicht unbedingt das, was ich mir unter einem festlichen Einzug vorstelle. Aber ich will nicht kleinlich sein – hier sind in den letzten 33 Jahren Erwartungen entstanden, an denen auch ein Papst nicht mehr so leicht vorbeikommt.

Wir jubelten also dem Papst zu, als er in unserer Nähe vorbeifuhr, gut sichtbar dank Papamobil. Als er seine Runde vollendet hatte und sich in die improvisierte Sakristei begab, war 18 Uhr mittlerweile vergangen. Wir standen bereits im Schatten des Hügels, der sich in unserem Rücken erhob und von wo ein kühler Wind wehte. Irgendwie gab es dann offensichtlich ein Koordinationsproblem, jedenfalls begann der Chor bereits mit dem Eröffnungslied („Lobt Gott in seinem Heiligtum“, James Ellord), obwohl vom Papst noch nichts zu sehen war. Zwar waren noch zwei weitere Stücke vorgesehen, doch irgendjemand merkte wohl, dass der Papst noch etwas Zeit brauchte, und unterbrach die Musik.

Neben dem an das Motto des Deutschlandbesuches angelehnten Stück „Denn wo du bist, ist Zukunft, Herr“ (Melodie Michael Taxer, Text Johann Freitag) sang der Chor schon zu Beginn ein Magnificat von Alan Wilson, beides stilistisch zwar eher dem Neuen Geistlichen Lied zuzuordnen, aber durchaus nicht unwürdig. Damit war dieses Genre jedoch auch abgefrühstückt, und nun wurde es musikalisch nur noch besser.

Schon der Hymnus nach der Eröffnung rockte so richtig. Es handelte sich um GL 589 („Alle Tage sing und sage“), also ein durchaus schmissiges Marienlied. Heinrich Bone war, als er 1847 den deutschen Text verfasste, so pfiffig, sich an das Versmaß des Originals zu halten („Omni die dic Mariae“). So wurde also der Hymnus aus vollen Kehlen in schönstem Latein geschmettert, auf diese bekannte Krachermelodie aus dem Jahre 1613. Chor und Orchester gaben ein strammes Tempo vor, so konnte das Pilgervolk nicht schleppen, sondern musste flott mitsingen.

Zum ersten Psalm kam als Kehrvers das „Laudate omnes gentes“ aus Taizé zum Einsatz. Alle Psalmen sang der Chor im Wechsel mit der Pilgergemeinde. Nach der Lesung und dem Responsorium hielt der Papst seine Ansprache, und als er schon in den ersten Sätzen das Eichsfeld erwähnte, kam Jubel auf. Es war zu spüren, wie sehr dem Papst der Besuch im Eichsfeld und speziell in Etzelsbach eine Herzensangelegenheit war.

Und nicht nur dem Papst. Die Marienvesper war in gewisser Weise das Herzstück dieses Papstbesuches. Keine große Messe, sondern eine einfache Vesper. Eine kurze, einfache Ansprache, die ans Herz rührte. Im Grunde des Herzens sind alle Dinge einfach. Das ganze Ereignis hatte von seinen Anfängen bis zu diesem Abend eine Einfachheit und Selbstverständlichkeit des Herzens, die sich auf alle Aspekte übertrug.

Nun hat der Eichsfelder Katholizismus heute längst nicht mehr jenes hohe Maß an volkskirchlicher Selbstverständlichkeit, das er in früheren Zeiten genoss. Umso erstaunlicher ist der hohe Mobilisierungsgrad, über den ich bereits im ersten Teil staunte. Es schien nicht nur mir als eine reine Selbstverständlichkeit, an diesem Tag nach Etzelsbach zu pilgern. Der Papst war der Katalysator dieses geistlichen wie weltlichen Großereignisses.

Auf seine Ansprache folgte eine kurze Stille. Es ist ja schon öfter beschrieben worden, welche Wirkung die tiefe Stille einer großen Menschenansammlung hat. Das Magnificat wurde mit einer deutschen Antiphon auf Latein gesungen, wieder im Wechsel zwischen Chor und Gemeinde. In den folgenden Fürbitten kam die Weltkirche im beschaulichen Etzelsbach zur Sprache, wurden sie doch in verschiedensten Sprachen vorgetragen. Mit dem Vater unser, wieder auf Latein gesungen, und der Oration vom Hochfest Maria Himmelfahrt endete die Vesper, und es schloss sich die Aussetzung des Allerheiligsten an.

Und dies war für mich der eigentliche Höhepunkt des Tages. Zur Aussetzung trug der Chor das „Ave Verum“ (Edward Elgar) vor. Inzwischen war es dämmerig geworden. Wieder trat eine große Stille ein. 90.000 Menschen schwiegen vor dem Geheimnis unserer Erlösung. Unsere kleine Pilgergruppe kniete auf der Wiese, und ich muss etwas beschämt eingestehen, dass es die Jugendlichen waren, die zuerst auf die Knie fielen. Vor uns standen die anderen Pilger, deshalb weiß ich nicht, wer sonst so stand oder kniete.

Für diesen Moment hat sich alles gelohnt: der Urlaubstag, die Anreise am Vorabend, die Fußwallfahrt, all jene Begleiterscheinungen einer Großveranstaltung. Mit ein paar Jugendlichen aus der norddeutschen Diaspora auf einer Eichsfelder Wiese vor dem Allerheiligsten knien, zusammen mit einer großen Menge und dem Papst – das war einmalig. Ganz am Ende war klar, wozu das alles gut war – Christi wegen!

Dann das Tantum Ergo. Der Papst rief: Panem de caelo praestitisti eis. Wir antworteten: Omne delectamentum in se habentem. Der Papst trug die Oration von Fronleichnam vor und spendete den sakramentalen Segen. Mit drei Liedern endete der Gottesdienst, und nicht irgendwelchen. Zunächst das Salve Regina, dann das Wallfahrtslied von Etzelsbach. Es entstand im Jahre 1898 aus Anlass der Einweihung der heutigen Wallfahrtskapelle (die an jenem Tag übrigens nicht besucht werden konnte) und wird am Ende jeder Wallfahrt gesungen. Es handelt vom Besuch des Engels Gabriel bei Maria.

Das letzte Lied war das Eichsfeldlied, geschrieben 1901 vom Heimatdichter Hermann Iseke. Als Eichsfelder geht mir das Herz auf, wenn ich dieses Lied höre, oder noch besser: singe. Am besten mit einer großen Menschenmenge. Der Hammer! Es scheint nur ein ganz normales Lied zu sein, aber es bringt auf den Punkt, was das Besondere des Eichsfeldes ist. Machen wir uns nichts vor: Auch 1901 war das, was darin beschrieben wird, ein Ideal, nicht die schnöde Realität. Aber ein Ideal mit großer Kraft.

Schlägt deine letzte Stunde,
Es sei auf Eichsfelds Grunde!