Überlegungen am Vorabend der Wahl

Morgen wird der 19. Deutsche Bundestag gewählt, und wie im Grunde schon länger klar ist, werden dem neuen Parlament wahrscheinlich sechs (mit der CSU sieben) Parteien angehören. Auch wenn dies die Regierungsbildung erschweren dürfte, sehe ich keinen Grund zur Panik. Aber der Reihe nach.

  1. Die Kanzlerfrage ist schon lange entschieden. Angela Merkel bleibt Kanzlerin, Martin Schulz hatte aus einer Vielzahl von Gründen keine Chance und dürfte der SPD ein historisch schlechtes Wahlergebnis bescheren, und zwar völlig zu Recht. Der Wahlkampf der SPD war unterirdisch schlecht. Auch die Grünen haben kaum Gründe geliefert, warum sie gewählt werden sollten. Weshalb auch nur ihre Stammwähler grün wählen werden und eine hohe Wahlbeteiligung für die Grünen gefährlich werden dürfte.
  2. Die Koalitionsfrage hingegen ist offen. Die Merkel-CDU ist in der Mitte des politischen Feldes so positioniert, dass sie mit allen Parteien außer Linken und AfD koalieren könnte, je nach Opportunität und Machtverhältnissen. Sie ist weder ausgeprägt rechts/konservativ noch links, weder autoritär noch besonders liberal – sie ist alles und nichts zugleich. Eine Partei wie die heutige CDU hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Sie hat alle anderen Parteien zu Satelliten degradiert, die irgendwie um die CDU kreisen.
  3. Im nun vergangenen Bundestag gab es zwei mögliche Alternativen zur Großen Koalition: Rot-rot-grün (R2G) und Schwarz-grün. Beide sind Geschichte, wegen des Niedergangs der SPD und der Grünen, die mit dem (Wieder-)Aufstieg der FDP und der AfD einhergehen. Was SPD und Grüne mit der Linken (und der AfD) eint, ist ihr autoritäres, illiberales Politikverständnis. Sie glauben sich im Kern moralisch überlegen und im Besitz einer Wahrheit, die dem Rest der Gesellschaft im Rahmen der Möglichkeiten des demokratischen Rechtsstaates aufgezwungen werden muss, zu deren vermeintlich Besten.
  4. Der neue Bundestag wird die Gesellschaft sehr viel besser abbilden als der alte. Das ist aus demokratischer Perspektive eine gute Sache. Mit außerparlamentarischer Opposition hat dieses Land keine guten Erfahrungen gemacht. Opposition gehört ins Parlament. Ihre vornehmste Aufgabe ist, eine Alternative zur Regierung bereitzustellen. Hier versagt die SPD in einer dramatischen Weise, die jedem Demokraten Kopfschmerzen bereiten muss. Es ist leider überhaupt nicht zu erkennen, wie die CDU als Regierungspartei jemals abgelöst werden kann.
  5. Wer eine liberale Politik bevorzugt, hat in diesem Lande, im Gegensatz zu den Anhängern eines autoritären Politikstils, keine große Auswahl. Wer sich mit dem Opportunismus der Mitte, wie ihn die Merkel-CDU pflegt, nicht anfreunden kann, dem bleibt im Grunde nur die FDP, nachdem sich die AfD vom konservativ-liberalen ins rechts-autoritäre Politikfeld bewegt hat.
  6. Da gegen die CDU keine Regierung gebildet werden kann, läuft es also entweder auf eine Fortsetzung der Großen Koalition, auf Schwarz-gelb oder auf Jamaika hinaus. Die SPD kann froh sein, wenn ihr Abstand zur AfD nicht zu sehr schrumpft und sie weiterhin mitregieren darf. Wird die FDP drittstärkste Kraft oder wenigstens zweistellig, ist eine schwarz-gelbe Mehrheit und eine dementsprechende Koalition wahrscheinlich. Ob Jamaika realistisch ist, lässt sich schwer einschätzen. Wer keine Große Koalition wünscht, sollte daher FDP wählen.
  7. Neuwahlen aufgrund einer gescheiterten Regierungsbildung sind hingegen unwahrscheinlich. Denn dann dürfte die AfD noch einmal zulegen, zum Schaden der übrigen Parteien, die nicht zuletzt deshalb ein starkes Interesse am Mitregieren haben sollten.
  8. Alle Parteien außer der AfD eint das Versagen, das Thema No. 1 dieses Wahljahres, nämlich Einwanderung, nicht klar genug adressiert und letztlich der AfD überlassen zu haben. Es ist zugleich die einzige offene Flanke der CDU. Bei diesem Thema gab es keine Opposition im Parlament, einmal von der CSU abgesehen, die zeitweise die innerkoalitionäre Oppositionsrolle übernahm, aber selbstverständlich nicht so blöd war, diese Rolle auch im Wahlkampf einzunehmen. Einwanderung wäre das Gewinnerthema der SPD gewesen, wenn sie sich dazu von Anfang an klüger positioniert hätte und die Interessen derer vertreten hätte, die früher einmal SPD-Stammwähler waren. So verliert die SPD, wie sie in den 80ern Wähler an die Grünen, in den 90ern an die Linke und zuletzt an die CDU verloren hat, zu guter Letzt auch noch an die AfD. Wir erleben das Ende einer großen Volkspartei.

Die Bundesrepublik wird am Montag eine andere sein.

Wahljahr 2017: Alles läuft nach Merkels Plan

Es ist schon fast beängstigend, wie sehr das Wahljahr 2017 bis jetzt nach einem Drehbuch zu verlaufen scheint, das im Konrad-Adenauer-Haus geschrieben sein könnte. Ich frage mich schon länger, was eigentlich passieren müsste, damit die SPD die Bundestagswahl gewinnt. Mir fällt nichts ein.

Das beginnt schon damit, dass nicht einmal klar ist, wie eigentlich so ein SPD-Wahlsieg aussehen würde. Mehr Stimmen als die CDU? Das ist mittlerweile extrem unwahrscheinlich geworden. Eine Kanzlermehrheit für Rot-Rot-Grün? Die gibt es schon seit 2013, ohne dass dies der SPD irgendetwas genutzt hätte. Einmal davon abgesehen, dass inzwischen auch R2G weit von einer rechnerischen Mehrheit entfernt ist.

Woher soll eine Kanzlermehrheit für Martin Schulz kommen? Solange die SPD diese Frage nicht beantworten kann, muss sie auch keinen Kanzlerkandidaten aufstellen. Vages Geraune, dass zunächst die Wahl abzuwarten sei und sich danach schon Mehrheiten finden würden, genügt da nicht.

Das Wahljahr begann mit dem kongenialen Schachzug Sigmar Gabriels, auf sein nach einer absehbaren Wahlniederlage ohnehin verlorenes Amt als Parteivorsitzender zu verzichten und stattdessen mit Martin Schulz einen kurz vor der Rente stehenden Zählkandidaten auf den Schild zu heben. Das Modell hatte sich mit Peer Steinbrück bereits 2013 bewährt.

Diesmal hätte Gabriel als Parteivorsitzender selbst antreten müssen, die Wahl sicher verloren und anschließend auf irgendeinem Versorgungsposten ausharren müssen. Da nahm er lieber selbst das Heft in die Hand und sicherte sich mit dem Außenamt einen Ministersessel, auf dem er auch eine weitere Große Koalition überdauern könnte. Mittlerweile muss die Fortsetzung der Großen Koalition schon als Erfolg für die SPD gelten.

Niemand konnte ahnen, dass sich die SPD dermaßen an Schulzbegeisterung besaufen würde, wie sie es Anfang des Jahres tat, als sie ihn mit 100 Prozent der Stimmen ins Amt hievte. Schon damals war klar, dass diese Dramaturgie nicht zu einem erfolgreichen Wahlkampf passen würde. Denn vom Hype der 100 Prozent aus gesehen konnte es nur noch abwärts gehen.

Das Pulver war also schon im zeitigen Frühjahr verschossen. Die fehlende Machtperspektive schlug erstmals im Saarland vernichtend ins Kontor, als die Option R2G als Luftschloss entlarvt wurde. Die Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung der Linken schreckt SPD-Wähler ab, mobilisiert CDU-Wähler und treibt Wechselwähler in die Arme von Angela Merkel.

Es folgten die verlorenen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und NRW. Nun spätestens haftete Martin Schulz ein Verliererimage an, das er kaum wieder loswerden kann. Nach R2G zerstoben auch Rot-Grün (in NRW abgewählt) sowie die Ampelkoalition (die in Schleswig-Holstein nicht zu bilden gelang) als Machtperspektiven der SPD.

Was anschließend in Sachen „Ehe für alle“ geschah, hätte sich wahrscheinlich selbst Angela Merkel nicht träumen lassen. Zunächst legte Volker Beck den Grünen ein vergiftetes Abschiedsgeschenk ins Nest, als er diese an sich völlig unbedeutende Frage zur Koalitionsbedingung erklären ließ und damit zunächst die schwarz-grüne Option beschädigte.

Als FDP und schließlich die SPD nachzogen, schien endlich ein Wahlkampfthema gefunden, das Wähler gegen die CDU mobilisieren könnte, die als Blockierer dazustehen schien. Flugs erklärte Angela Merkel das Thema zur Gewissensfrage und entschärfte so diese Bombe. Trotzdem wäre das Thema im Wahlkampf auf der Agenda geblieben, wenn die SPD nicht wieder einmal Merkel in die Falle gegangen wäre.

So räumte die SPD nicht nur ein Wahlkampfthema ab, sie tat es auch noch auf die ungeschickteste Art, die denkbar war. In der letzten Sitzung vor der Sommerpause stimmte sie mit Linken und Grünen gegen die CDU, um das Thema auf die Tagesordnung setzen zu können, und bescherte so der Union unverhofft die Gelegenheit, im Wahlkampf glaubhaft vor R2G warnen zu können.

Auch im Bund ist damit ein Thema gefunden, das im Saarland bereits funktioniert hat: Wer nicht riskieren will, von den Linken regiert zu werden, der wählt besser nicht SPD oder Grüne. Beide Parteien werden damit effektiv auf ihre Stammwählerschaft reduziert. Dümmer geht es nicht.

Nun stochert Martin Schulz mit diversen Programmen im Sommerloch herum, ohne ein zündendes Thema für den Wahlkampf zu finden. Er ist längst selbst beschädigt, hat keine realistische Machtperspektive und kann nicht erklären, warum ein Machtwechsel angebracht sein sollte.

Und was heißt hier Machtwechsel? Die SPD war in den letzten 19 Jahren insgesamt 15 Jahre an der Regierung beteiligt. In den letzten vier Jahren konnte sie große Teile ihres Programms durchsetzen, auch ohne den Kanzler zu stellen. Warum daran etwas ändern?

Inzwischen wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es im Herbst für eine schwarzgelbe Koalition reichen könnte. Schwarz-Grün wäre dann vermutlich auch möglich, ist aber unwahrscheinlich – diese Chance haben die Grünen vor vier Jahren vertan. Es kann sogar sein, dass es am Ende zur absoluten Mehrheit für die CDU/CSU kommt.

Denn keine der vier kleinen Parteien (Linke, Grüne, FDP und AfD) ist wirklich sicher im nächsten Bundestag vertreten. Kämen nur zwei oder gar nur eine von ihnen ins Parlament, dann würden etwa 40 Prozent für die CDU zur absoluten Mehrheit genügen, da die SPD mit um die 24 Prozent weit genug entfernt ist. In 16 Prozentpunkten Abstand ist Platz für zwei kleine Parteien, auch ohne dass es eine Mehrheit gegen die CDU/CSU geben würde.

Allem Anschein nach genügt es, auf Fehler der SPD zu warten, um Wahlen zu gewinnen. Die Fehler der SPD allein im Jahr 2017 reichten wahrscheinlich, um mehrere Wahlen zu verlieren.