Teil 3 meiner kleinen Reihe zur Liturgie (Teil 1: Die heutige liturgische Praxis, Teil 2: Die Liturgiereform)
Zu den größten liturgischen Schätzen gehören die Orationen des Römischen Messbuches. Der größte Teil von ihnen
ist in den Sakramentarien des 5.-7. Jahrhunderts überliefert. In all diesen Texten ist – zumal unter dem eigentlichen literarischen Gesichtspunkt – die Substanz des Missale Romanum gegeben: Schöpfungen von hoher theologischer Aussagekraft, nach den Regeln spätlateinischer Kunstprosa gestaltet. Gebilde von monumentaler Einfachheit und bestechender Präzision. Sie sind von einer solchen Vollendung, daß sie, im wesentlichen unverändert bewahrt, bis heute die Gebetsform der katholischen Kirche geblieben sind. (Kindlers Literaturlexikon Bd IV, 1968, Sp. 2721; zit. nach Martin Mosebach: Häresie der Formlosigkeit, S. 112)
Der Autor dieser Zeilen, der Laacher Benediktiner Burkhard Neunheuser, schrieb zwanzig Jahre später im nämlichen Lexikon (Art. Missale romanum Bd. 19 der Studienausgabe, 125; zit. nach Gunda Brüske: Mosebachs Essays im Kontext von Jugendbewegung und liturgischer Erneuerung. Ein illegitimer Sproß der liturgischen Bewegung? in: konturen. Rothenfelser Burgbrief 02/03) dem Missale von 1969/1970
die Erschließung des ganzen Reichtums der Orationen und Präfationen aus den klassischen römischen Sakramentaren
zu. Es mag durchaus sein, dass dies die Intention der Schöpfer jenes Messbuches war, zu denen auch Neunheuser gehörte. Doch ob das Werk gelungen ist, darüber gibt es verschiedene Meinungen. Nehmen wir als Beispiel die Oration vom ersten Adventssonntag. Bis 1968 lautete sie:
Excita, quæsumus, Domine, potentiam tuam, et veni: ut ab imminentibus peccatorum nostrorum periculis, te mereamur protegente eripi, te liberante salvari: Qui vivis et regnas cum Deo Patre in unitate Spiritus Sancti Deus: per omnia sæcula sæculorum. Amen.
Robert Ketelhohn übersetzt so:
Erwecke, so bitten wir, Herr, deine Macht, und komm, auf daß wir den drohenden Gefahren unserer Sünden durch deinen Schutz entrissen und durch deine Befreiungstat gerettet zu werden verdienen, der du lebst und herrschest mit Gott dem Vater in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Die Konstitution über die heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“ wurde am 4. Dezember 1963 verkündet. Papst Paul VI. promulgierte das neue Missale am 3. April 1969, auf den Tag drei Monate vor meiner Geburt, und am ersten Adventssonntag des gleichen Jahres trat es in Kraft. Nur etwas mehr als fünf Jahre vergingen also zwischen diesen beiden Meilensteinen des liturgischen Umbruchs.
Seit Advent 1969 lautet die gleiche Oration:
Herr, unser Gott, alles steht in deiner Macht; du schenkst das Wollen und das Vollbringen. Hilf uns, daß wir auf dem Weg der Gerechtigkeit Christus entgegengehen und uns durch Taten der Liebe auf seine Ankunft vorbereiten, damit wir den Platz zu seiner Rechten erhalten, wenn er wiederkommt in Herrlichkeit. Er, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit. ‹Amen.›
Robert kommentiert die Neuerung so:
Die Oration beginnt im neuen deutschen Meßbuch nicht mit dem »Maranatha« – »komm, Herr!« –, sondern mit einer unverbindlichen Feststellung. »Alles steht in deiner Macht« – na und? Der alte Text schrie nach Gott: »Komm, Herr, komm her und greif ein mit all deiner Macht!«
Und weiter: »Wir sind in tödlicher Gefahr durch unsere Sünden. Komm, Herr, du allein hast die Macht dazu: Reiß uns heraus, befreie uns aus den Banden der Hölle und rette uns!« Dagegen der neue Text: »Wir sind gerecht und gehen Christus entgegen, hurra! Aber hilf uns ein wenig dabei. Auch bei den guten Werken, die wir ja tun. Dafür steht uns dann der Platz zur Rechten Christi zu.«
Im übrigen fällt auf, daß das Gebet sich nicht mehr – wie in der alten Fassung – an Christus richtet, sondern an Gott Vater. Im Gebetsschluß wird auf deutsch weggelassen, was mit Sicherheit auch noch im lateinischen Text des neuen Meßbuchs steht: Die Akklamation Christi als Deus, als Gott: »… lebt und herrscht ‹als› Gott …«
Man lese Roberts Ausführungen im Zusammenhang – er befasst sich in gleicher Weise auch mit Graduale/Alleluia, Offertorium/Secreta, Communio und Postcommunio sowie den Texten des zweiten Adventssonntages, mit weiteren Sonntagsorationen sowie einigen Werktagsorationen zur Fastenzeit und kommt zu diesem Ergebnis:
Wenn du mal die Orationen des alten und des neuen Ordo Missæ vergleichst, dann wird dir vielleicht auffallen, daß darin heute ein anderer Geist herrscht. Die Rede von unserer Sünde, unserer Schwachheit und unserm Unvermögen ebenso wie der flehentliche Ruf um das Erbarmen Gottes wurden weitgehend eliminiert zugunsten frommen Selbstbewußtseins, das auf eigene Kraft und Gutheit setzt und gelegentlich, wenn uns nicht alles gleich ganz leicht gelingt, Gott um etwas Hilfe bittet, er möge uns doch mal eben zur Hand gehen.
Und an anderer Stelle:
Schaust du eine einzelne der neuen Sonntagsorationen an – zumal da du daran gewöhnt bist –, so fällt dir nichts weiter auf. Nein, häretisch ist sie nicht. Vergleichst du sie aber mit ihrer Vorgängerin aus dem alten Ritus, so bemerkst du auffällige Änderungen. Nimmst du dir alle Sonntagsorationen auf diese Weise vor, so findest du dieselbe Weise immer wieder. Man hat konsequent bereinigt, ein semipelagianischer Geist hat klammheimlich Einzug gehalten.
Ob dieser Vorwurf zutrifft oder nicht, mögen andere entscheiden. Schwer zu leugnen scheint mir indes der sprachliche Verfall im direkten Vergleich. Viele, allzuviele neue oder erneuerte Texte des Messbuches von 1969/1970 bleiben weit hinter ihren Vorgängern zurück. Und sie sind, das ist fast das Schlimmste, zwar platter, aber dadurch keinesfalls verständlicher geworden.
Das Bemühen um Verständlichkeit der Liturgie ist ohnehin mit äußerster Vorsicht zu üben. Denn es gehört geradezu zu ihrem Wesen, dass nicht alles verständlich, manches sogar äußerst unverständlich ist und erst in der Wiederholung langsam einzuleuchten beginnt. Moderne Plattheiten erleichtern keinesfalls das Verständnis, denn sie richten den Blick weg vom Geheimnis, dem Mittelpunkt aller Liturgie.
Das Messbuch Pauls VI. hat die Struktur der Messe deutlich verändert, einige Teile gestrichen (Stufengebet, Schlussevangelium), andere hinzugefügt (Fürbitten, Friedensgruß). Es hat an die Stelle des Canon Missae eine Vielzahl von Hochgebeten höchst unterschiedlichen Charakters gesetzt. Und es hat zahllose Wahlmöglichkeiten geschaffen – und damit der liturgischen Kreativität erst den Raum verschafft, die, so schreibt Ratzinger in „Der Geist der Liturgie“,
keine authentische Kategorie des Liturgischen sein kann. Ohnedies ist dieses Wort im Bereich der marxistischen Weltsicht gewachsen. Kreativität bedeutet, daß in einer an sich sinnlosen, durch blinde Evolution entstandenen Welt der Mensch nun schöpferisch eine neue und bessere Welt erschafft.
Was das Messbuch angeht, so wird nichts anderes bleiben als weitere Revisionen. Vom Missale Pius‘ V., promulgiert am 14. Juli 1570, bis zur ersten Revision vergingen nur 34 Jahre. Das Missale Johannes Pauls II., promulgiert am 20. April 2000 und damit gut dreißig Jahre nach 1969/1970, hat den deutschen Sprachraum noch gar nicht erreicht.
Das Missale Benedikts XVI. könnte ein revidiertes Messbuch von 1962 sein, das den Faden der Liturgiereformen von Pius X. und Pius XII. aufnimmt und weiterführt – wie es die Intention von „Sacrosanctum Concilium“ war.
Teil 4: Die Liturgiekonstitution