Biopolitik

Frank Schirrmacher freut sich über die Rede Horst Köhlers zur Auflösung des Bundestages.

Der Bundespräsident hat nämlich in einer Art Präambel zu seiner Entscheidung erklärt, daß die Zukunft des deutschen Volkes auf dem Spiele steht. Er hat sodann in seiner dramatischen Aufzählung der wirtschaftspolitischen Krisensymptome unserer Gesellschaft einen biopolitischen Satz gesagt, der einen ganz harmlos anschaut und in dem doch ein Unheil mitschwingt, das sich nicht mehr mit ökonomischer und politischer Sprache allein fassen läßt: „Wir haben zuwenig Kinder, und wir werden immer älter”. […]

Die Tatsache, daß wir als Einzelne immer älter werden und daß unsere Gesellschaft als Ganzes immer schneller altert, hat Horst Köhler an die gleiche Stelle gesetzt wie die Globalisierung oder die epochale Staatsverschuldung. Wer nicht erkennt, daß der demographische Wandel bereits alle anderen gewaltigen Probleme induziert, und wer nicht erkennt, daß wir kein Problem haben, sondern als alternde Menschen in dieser Gesellschaft für die nächsten Jahrzehnte ein Problem sind, der verkennt die existentielle Bedrohung, die ihm selbst und dieser Gesellschaft bevorsteht.

Noch spricht Horst Köhler ein Wahlvolk an, das im Namen der Kinder zu handeln bereit sein könnte. Was aber, wenn – wie in Deutschland in einigen Jahren der Fall – mehr als die Hälfte der Älteren gar keine Enkel mehr haben? Denken sie dann noch an eine Zukunft, die nicht mehr ihre und die ihrer Nachkommen ist? Eine alternde Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die zu verlieren hat; eine junge Gesellschaft ist eine, die nur zu gewinnen hat. Schon jetzt zeigt sich, daß es gerade die alternden Kohorten sind, die sich der neuen Linkspartei und ihren Versprechen zuwenden. Diejenigen, die noch etwas zu gewinnen haben, werden immer weniger.

Unsere Städte und Bundesländer und unser Land verändern im Augenblick so massiv wie noch nie in Friedenszeiten ihre demographische Zusammensetzung. Die wenigen Kinder auf unseren Schulen werden schlecht ausgebildet sein, und die wenigen der wenigen Guten werden sich mit Abwanderungsgedanken tragen. Wer die demographisch erzeugten Probleme mildern will, muß zwangsläufig gegen heute mächtige Wählerschichten Politik machen. Entwickelt es sich in Deutschland so, wie in manchen ebenfalls schnell alternden Teilen der Welt, dann werden bald Wähler immer dezidierter auf Kosten der Jugend, auf Kosten von Schulen und Ausbildung ihre Wahlentscheidungen treffen: mehr Straßenlaternen, wie in Florida, finanziert durch weniger Lehrer. [Perlentaucher]

Dass Schirrmacher sein Stück mit Google-Trefferzahlen als Einstieg ausstattet, sei ihm verziehen.

17. Sonntag im Jahreskreis

Gott, du Beschützer aller, die auf dich hoffen,
ohne dich ist nichts gesund und nichts heilig.
Führe uns in deinem Erbarmen den rechten Weg
und hilf uns,
die vergänglichen Güter so zu gebrauchen,
dass wir die ewigen nicht verlieren.
Tagesgebet vom 17. Sonntag im Jahreskreis

Die Revolution hat gesiegt

Martin Mosebach beantwortet die Frage der Frankfurter Rundschau: Sind Sie konservativ?

„Da gilt es zunächst zu klären, was das Wort ‚konservativ‘ eigentlich bedeutet. Nach landläufigen Begriffen heißt ‚konservativ‘ der politische Wille, eine bestimmte Ordnung vor Umwälzung zu schützen und so gut wie möglich in den Veränderungen der Zeit bewahren zu wollen. Konservativ ist man als Freund der genannten Ordnung vor der Revolution – man will die Revolution verhindern. Was aber, wenn die Revolution gesiegt hat und all das, was der Konservative schützen wollte, weggefegt worden ist? Europa hat seit 1789 eine Reihe gewaltsamer politischer Umwälzungen erfahren, die tiefste und nachhaltigste davon war die Industrielle Revolution. Ich frage mich ernsthaft, ob nach ihrem unbezweifelbaren Sieg Konservatismus überhaupt noch möglich ist? […]

Da Sie das Industriezeitalter als definitives Ende des Konservatismus definieren: Welches sind die Aporien von Industriezeitalter und Konservatismus?

Alle Voraussetzungen für einen wirklichen Konservatismus sind nicht mehr da. Jeder kennt die Schlagworte, die unsere Welt charakterisieren: offene Märkte, kommerzialisierte Wissenschaft, der Zwang zu unablässigem Wachstum, religiöse Indifferenz, Atomisierung der Gesellschaft, Amnesie – da erscheinen die konservativen Ideale nur noch als ferner schattenhafter Traum: autarke kleine Regionen, zweckfreie Forschung, Stabilität bis hin zur wohltuend empfundenen Stagnation, religiöse Bindung, Zusammensetzung der Gesellschaft aus von ihr unabhängigen Familien und Körperschaften, Gegenwart der Vergangenheit und der Toten.

Sie meinen also das zyklische Leben, das Leben als Wiederholung?

Bis zur Industriellen Revolution waren die Lebensbedingungen, von den klimatischen Differenzen abgesehen, in der ganzen Welt sehr ähnlich. Gegenwärtig erleben wir nicht den Zusammenstoß von Zivilisationen, sondern den Endkampf jener Zivilisationen, die sich noch verzweifelt gegen den Sieg der Industriellen Revolution wehren, obwohl sie de facto schon von ihr überwältigt worden sind. Mich überzeugt die These, dass wir eine Umwälzung erleben von den Ausmaßen, wie sie die Zähmung des Feuers in der Steinzeit besaß.

Wie erklären Sie sich denn, dass der Begriff des Konservativen so attraktiv geblieben ist, sowohl für politische Parteien als auch für bestimmte Strömungen im Geistesleben?

Ich vermute, dass die Ahnung, der Bruch mit der organischen Entwicklung des irdischen Menschenlebens sei wirklich irreversibel, in vielen Menschen ein geheimes Grauen erregt. ‚Konservativ‘ wird heute genannt, was den längst unbeherrschbar gewordenen Lauf der Entwicklung ein wenig hemmen, ein wenig bremsen könnte. ‚Konservativ‘ wird heute auch empfunden, wer sich die Geschichte nicht nur hegelianisch zu immer neuen Höhen schreitend vorstellen kann, sondern wer auch Verfall, Verlust und Niedergang als mögliche Verläufe erkennt. ‚Konservativ‘ nennt sich heute jeder, der nicht links sein will. Dabei ist die komische Wendung zu beobachten, dass sich CDU-Mitglieder oder gar Liberale als ‚konservativ‘ ausgeben oder von einer begriffsschwach gewordenen Linken so bezeichnet werden. Liberalismus und Sozialismus stammen aber aus derselben ökonomischen Mentalität. Die letzte konservative Partei, die es in Deutschland gab, waren die preußischen Konservativen, die Bismarck hassten, weil er Preußen im Deutschen Reich aufgehen ließ. Der konservative Affekt gegen die industrielle Zivilisation kann sich heute politisch nicht mehr artikulieren, das zeigt auch das Schicksal der Grünen, die den Widerspruch zwischen ihren konservativen und ihren sozialistischen Motiven niemals auch nur haben benennen können.“

Maria Magdalena

Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht.
Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen, die Gassen und Plätze, ihn suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht.
Mich fanden die Wächter bei ihrer Runde durch die Stadt. Habt ihr ihn gesehen, den meine Seele liebt?
Kaum war ich an ihnen vorüber, fand ich ihn, den meine Seele liebt.
Hld 3, 1-4a

Da sage noch einer, das Hohelied werde nicht in der Messe gelesen…

Mehr zu Maria Magdalena bei Lumen de Lumine

Liturgia Horarum

Etwa vor einem Jahr gelang es mir, den vierten, nach wie vor nicht lieferbaren Band des Kleinen Stundenbuches (Die Gedenktage der Heiligen) gebraucht zu beschaffen. Die Bibliothek der Erzabtei Beuron konnte auf eine Dublette verzichten und sie mir überlassen, gegen gutes Geld übrigens.

Seitdem bin ich in der glücklichen Lage, mit allen vier Bänden die wichtigsten Horen des ganzen liturgischen Jahres beten zu können. Das sind vor allem Laudes und Vesper, die beiden Großen Horen jedes Tages, und dazu die Komplet zum Tagesabschluss. Exemplarisch sind auch die drei Kleinen Horen (Terz, Sext und Non) und die Lesehore enthalten, allerdings fehlt es hier natürlich an Abwechslung und Reichtum der Eigentexte, wie sie das große Stundenbuch bietet.

Dieser vierte Band hat nicht nur mein Beten bereichert, sondern auch meinen Glauben vertieft. Denn das Kirchenjahr hält mit seinen Hochfesten, Festen und Gedenktagen einen unglaublichen Reichtum von Glaubensschätzen bereit. Der Beter wird im Verlaufe eines Jahres sozusagen einmal durch die ganze Glaubenslandschaft geführt, bis in die entlegensten Provinzen. Alles, was irgendwie wichtig ist, hat seinen eigenen Tag im Jahr.

Und da gibt es, weitab von Weihnachten, Ostern und Pfingsten, viel zu entdecken und betend anzuschauen. Ich kann mich zum Beispiel gut erinnern, wie ich im letzten Jahr zu Mariä Himmelfahrt (15. August) noch mit einem gewissen Rest an Skepsis die Erste Vesper gebetet habe. Und dann, im Laufe von Laudes, einem sonntäglichen Wortgottesdienst und Zweiter Vesper, mich immer mehr mit dem Hochfest und seinem theologischen Gehalt angefreundet habe.

Der vierte Band war für mich der Schlüssel zu allen im Kirchenjahr verstreuten Hochfesten und Festen, die sonst gern im Alltagstrott untergehen. Nicht zu vergessen: die Heiligen. Jeder von ihnen hat eine Botschaft für mich. Manche hell und klar, andere eher versteckt. Aber im Laufe eines Jahres wird sichtbar, wie breit und bunt das Spektrum derer ist, von denen wir sicher wissen können, dass sie bei Gott sind: zwischen Justin, dem Philosophen und Märtyrer (+ um 165), und Edith Stein (+ 1942), der in Auschwitz ermordeten Konvertitin und Ordensfrau.

Ohne den vierten Band ist das Kleine Stundenbuch nur eingeschränkt zu empfehlen. Der Band ist antiquarisch nur sehr schwer bis gar nicht zu beschaffen. Das erschwert die Wahl zwischen den verschiedenen Stundenbüchern erheblich. Einen möglichen Kompromiss bietet das Christuslob.

Nicht geeignet

Rolf Koppe, „Auslandsbischof“ der EKD aus Hannover, wendet sich gegen eine Beteiligung von Protestanten am katholischen Weltjugendtag in Köln. Was ja nicht besonders verwerflich ist. Ich habe mich, als ich Anfang des Jahres gefragt wurde, genauso entschieden. Seine Begründung:

Die Veranstaltung vom 18. bis 21. August sei „vom Charakter her nicht zur Teilnahme für evangelische Christen geeignet“. [kath.net]

Was immer das heißen mag, aber es stimmt wahrscheinlich. Ziemlich aggressive Töne schlägt Koppe dann zu Dauerbrennern wie der Anerkennung der evangelischen Kirche (welcher davon?) als Kirche, der „gegenseitigen Einladung zum Abendmahl“ oder der Frauenordination an. Was er damit wohl bezweckt? Außer Medienaufmerksamkeit, natürlich.

Nachtrag: Ausführliche Würdigung des Koppe-Interviews bei fono

Versäumnisse

Jürgen Liminski liest der Union die Leviten und reduziert ihr familienpolitisches Wahlprogramm auf vier Versäumnisse oder Fehlschlüsse. Der erste ist für Liminski der Gedanke, erst müsse mal saniert werden, dann könne man wieder sozial sein zu den Familien.

„Stoibers Vorgänger und Mentor Franz Josef Strauß hatte zu solch einer ebenso kernig auftrumpfenden wie kurzschlussartigen These den passenden Satz parat: ‚Es ist unsinnig, einem sterbenden Volk gesunde Haushalte zu hinterlassen‘. Man tut in den Volksparteien so, als ob sich das Geburtendefizit beim aktuellen Stand einpendeln würde. Dagegen ist schon heute berechenbar, wie die Zahlen weiter sinken werden, wenn es nicht zu einem radikalen Kurswechsel und das heißt auch zu einer radikalen Umschichtung der vorhandenen Mittel kommt. Die Union aber glaubt immer noch wie Adenauer, dass Kinder von selbst kämen. Tun sie nicht, immer mehr deutsche Frauen gehen in den Gebärstreik, weil sie nicht verarmen wollen, weil gesellschaftliche Anerkennung heute nur mit einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit verbunden zu sein scheint.“ [Die Tagespost]

Glatt verpasst: Gestern vor 135 Jahren verkü...

Glatt verpasst: Gestern vor 135 Jahren verkündete das erste vatikanische Konzil das legendäre Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes. Daran erinnerte gestern der Deutschlandfunk.

„Im Kern besagt das Dogma:

Wenn der römische Papst eine Glaubenslehre oder eine Sittenlehre als allgemein verbindlich, also zum Dogma, erklärt und sich dabei ausdrücklich auf sein Amt beruft, dann ist diese Lehre unfehlbar. Sie ist es aber nicht etwa deshalb, weil ihr die Kirche zugestimmt hätte, sondern vielmehr, weil sie es aus sich selbst heraus ist.

Dabei ist die Macht des Papstes jedoch eingeschränkt, wie sich aus den Konzilsdokumenten ergibt:

Der Papst muss sich zuvor überzeugt haben, dass der Inhalt des Dogmas von den Ortskirchen, also den einzelnen Diözesen weltweit, geglaubt wird, zumindest mehrheitlich.“

Kirchenwille

Man würde dem Zeugnis, welches das Neue Testament über die Kirchenbildung bietet, und der Theologie der Kirchenväter nicht gerecht, wenn man behaupten wollte, daß aus dem gemeinsamen Glauben der Jünger Jesu an seinen Heilstod und an seine Auferweckung die Kirche von selbst bzw. ausschließlich durch den Willen der Jünger, zusammenzubleiben, entstanden sei. Das Leben Jesu bildet zwar das ontologisch-intentionale Fundament für die Entstehung der Kiche. Für deren tatsächliche Bildung ist jedoch der Kirchenwille Jesu grundlegend, nicht nur für die konkrete Gestalt, sondern für die tatsächliche Konstituierung der Kirche selbst. Auf dem ontologischen Fundament der Inkarnation, des Heilstodes, der Auferweckung erhebt sich gewissermaßen der aktuelle Kirchenwille Jesu. In der Geistsendung findet er seinen höchsten realen Ausdruck.

Michael Schmaus: Der Glaube der Kirche. Handbuch katholischer Dogmatik. Bd. 2. S. 19f.

Auslese

Die Evolutionstheorie in ihrem Verhältnis zum Atheismus ist in den letzten Tagen ein heiß diskutiertes Thema. Erstaunlicherweise scheint Religion ein evolutionärer Vorteil zu sein (wie ja auch Arne Trautmann andeutet). Denn offenkundig sind die westlichen Gesellschaften, die sich in weiten Teilen theoretisch wie praktisch von ihren christlichen Wurzeln getrennt haben, nicht mehr in der Lage, sich zu reproduzieren.

Eine Population, deren Geburtenrate unter das zu ihrer Erhaltung nötige Mindestniveau fällt, stirbt langfristig aus. Das ist eine Grundeinsicht der Evolutionstheorie, und ich sehe auch aus christlicher Sicht kein Argument, das dagegen sprechen würde. Nun ist es gerade das alte Europa, das sich immer mehr entchristlicht, gleichzeitig aufhört, an seine eigene Zukunft zu glauben – und sich (durch relativ wie absolut sinkende Geburtenraten) gleich selbst zum langsamen Tode verurteilt.

Sollte es so sein, dass säkulare, atheistisch geprägte Gesellschaften nicht in der Lage sind, eine stabile Bevölkerungsentwicklung zu sichern? Dann werden sie verschwinden. Das ist eine Lehre der Evolutionstheorie. Mögen Neodarwinisten noch so strenge Atheisten sein – das verbessert die Überlebenschancen ihrer Art nicht…