Wundersames Wanderbuch

Dieses Buch ist nicht leicht zu rezensieren. Das liegt daran, dass es zur Positionierung zwingt. Der Leser muss sich irgendwie dazu verhalten. Neutral zu bleiben ist quasi unmöglich. Es wirft ein neues Licht auf die eigene Biografie, ein reflexiver Vorgang.

Aber auch aus anderen Gründen bin hier nicht neutral. Mittlerweile kenne ich die Herausgeberinnen und einige der Autoren, war auf zwei Veranstaltungen, eine davon war quasi das Event zum Buch. Deshalb ist hier keine mehr oder weniger objektive Rezension zu erwarten. Dafür sind schon zu viele Beziehungen entstanden. Genau dies leistet dieses Buch: Es stiftet Beziehungen.

Andererseits bin ich auch überhaupt nicht mit allem einverstanden, was in diesem Buch so steht. Zum Beispiel nerven mich sprachliche Desaster wie das mehrfach vorkommende Wortungetüm „Mitglieder_innen“. Das Mitglied ist bekanntlich sächlich, ein Neutrum. Welcher Lektor hat da gepennt? Auch Begriffe wie „Pfarrperson“ halte ich nicht gerade für den Höhepunkt der Sprachkultur. (Obwohl besser als Binnen-I oder penetrante Doppelnennungen.)

Die Schwächen in der Form sind gewissermaßen Programm. Hier ist nichts fertig, sondern alles im Fluss. Es ist kein theologischer Sammelband im engeren Sinne, sondern eher Dokument einer Theologie des Wanderns und Wunderns im Spannungsfeld zwischen Fremdheit und Dazugehörigkeit. Das Wort Theologie darf hier nicht akademisch verstanden werden wie gewohnt, sondern eher wortgetreu als die Rede von Gott.

Das Buch ist das Manifest einer Bewegung, ohne dass es diesen Anspruch erheben würde und ohne ein Manifest im klassischen Sinne zu sein. Es versammelt eher eine ganze Reihe verschiedener Perspektiven. Es spannt damit einen Raum auf, ohne ihn füllen zu können oder das überhaupt zu wollen. Es ist der Raum jener 95 Prozent der eingeschriebenen Kirchenmitglieder, die nicht mehr jeden Sonntag am Gemeindegottesdienst teilnehmen. Oder derer, die weder einer Kirche angehören noch ihren Fuß in eine Kirche setzen würden.

Wir sind nämlich längst eine Art virtueller Volkskirche geworden, die zwar auf dem Papier noch immer eine Mehrheit der Bevölkerung umfasst, sich aber in der Praxis weit vom Leben der meisten Mitglieder entfernt hat. Oder ist es umgekehrt? Haben sich die Mitglieder vom Leben der Kirche entfernt?

Wie auch immer. Es ist ein großer Raum der Fremdheit entstanden, in den hinein es zu wirken gilt. Dieses Wirken heißt gemeinhin Mission. Es ist und bleibt der Auftrag der Kirche, das Evangelium bis an die Enden der Erde zu tragen. Inzwischen kommt das Evangelium von den Enden der Erde wieder zurück zu uns – ein Prozess, der gewöhnlich als Neuevangelisierung beschrieben wird.

Im Kern geht es um die Frage, ob die 99 verlorenen Schafe ignoriert werden dürfen, damit es das verbliebene Schaf weiterhin schön kuschelig hat. Rhetorische Frage? Viele Gemeinden sehen das definitiv anders und kreisen in einer langsamen, aber stetigen Abwärtsspirale um sich selbst.

Dieses Buch handelt von der Fremdheit als Gabe und Aufgabe, und es beschreibt diese Fremdheit radikal subjektiv und ohne Anspruch auf Objektivität. Es ist insofern ein Augenöffner, weil es einen neuen Blick auf die jeweils eigenen Fremdheitserlebnisse erlaubt. Ich kann meine eigene Kirchen- und Glaubensbiografie anders lesen.

Warum bin ich schon in den späten achtziger Jahren aus dem Ministrantendienst meiner Heimatstadt geworfen worden, zusammen mit einigen anderen Mitstreitern? Warum habe ich dennoch weiterhin ministriert? Warum bin ich vor vier Jahren aus der Ausbildung zum Diakon geworfen worden? Warum habe ich dennoch seit 2013 an drei Weiheliturgien teilgenommen, zweimal ministriert und davon einmal dem Bischof das Buch gehalten, während er die Weihe eines meiner ehemaligen Kurskollegen vollzog?

Die erste Antwort heißt: Weil es geht. Eine typische Antwort der digitalen Generation. Das Internet und die Digitalisierung haben uns in die Lage versetzt, Dinge zu tun, die zuvor unmöglich waren. Wir sind es gewohnt, so etwas zu tun. Wir gehen an die Grenzen und darüber hinaus. Das ist im Kern ein missionaler Habitus. Wir können nicht anders. Wir sind fremd, aber loyal. Wir gehen dorthin, wo es womöglich wehtut.

Aber es tut nicht weh, sondern es macht glücklich, Grenzen zu überwinden. Ich bin aufgewachsen zwei Kilometer vor dem Eisernen Vorhang, allerdings auf der richtigen Seite. Für mich war die DDR-Grenze daher durchlässig, aber ich wusste, was sie bedeutet, weil sie auch meine Familie getrennt hat. Wir hatten Verwandte im Osten. Und ich habe den Fall der Mauer und der Grenzzäune im November 1989 miterlebt und gefeiert.

Ich gehörte zu den Sternsingern, die im Januar 1990 von Duderstadt nach Ecklingerode gingen. Am Tag der ersten und letzten freien Wahlen in der DDR im März bin ich mit einem heutigen Priester zum Sonnenstein gewandert, weil wir zu Ostern 1990 auf diesen Berg gehen und dort zusammen mit Jugendlichen aus dem Osten am Osterfeuer feiern wollten.

Nur wenige Jahre später kam das Internet in mein Leben, das alle Grenzen überschritt und uns eine neue Welt öffnete. Ich lernte spätestens nach 2000/2001, dass Scheitern dazugehört, aber eher als Lernprozess denn als Katastrophe zu verstehen ist. Von toten Pferden abzusteigen und neue Wege zu suchen ist selbstverständlich. Scheitern als Teil der Geschichte statt als Katastrophe.

Die zweite Antwort heißt daher: Ich bin es gewohnt, anzuecken und mich neu zu orientieren. Ich komme damit besser zurecht als die kirchlichen Strukturen, die zwar ihre autoritär-hierarchische Vergangenheit dekonstruiert, aber keine neue Führungskultur herausgebildet haben und deshalb im Konfliktfall gern in autoritäre Muster verfallen. Nicht mein Problem. Oder doch?

Aus dem zivilen Leben bin ich eine andere Führungskultur gewohnt als wir sie in der Kirche erleben. Im Vergleich zu einem gut geführten Unternehmen sieht die Kirche führungsschwach und schlecht geführt aus. Daher kann es auch nicht verwundern, dass wir die entsprechenden Resultate sehen. Tragisch, denn gerade in Krisenzeiten ist starke Führung gefragt.

Die dritte Antwort heißt: Es hat einen therapeutischen Wert, sich an die Orte und in die Räume vergangener Verletzungen zu begeben. Es ist wie mit dem regelmäßigen Besuch am Grab, der die Trauerarbeit erleichtert, weil er der Trauer einen Ort gibt. Oder wie bei einer Familienaufstellung nach Hellinger, die ein starkes Gefühl für Störungen gibt, die zum Scheitern geführt haben können.

Weglaufen hilft nicht. Wir müssen uns unseren Ängsten, unseren Schmerzen, unserem Scheitern und unseren Niederlagen stellen. Das liturgische Gewand ist wie das Taufkleid, mit dem wir Christus anziehen (Gal 3,27). Es ist ein Gewand des Heiles, der Heiligung und der Heilung. Wie das Gewand Jesu, dessen bloße Berührung heilt (Mk 5,28). Eine schützende Rüstung. Oder das Kostüm einer Rolle, die Sicherheit gibt.

Maria Herrmann, Sandra Bils (Hg.): Vom Wandern und Wundern: Fremdsein und prophetische Ungeduld in der Kirche. Echter, 2017.

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Genesis, Evolution und Augustinus

In einem lesenswerten Stück, das sich mit dem Dauerbrenner „Religion vs. Wissenschaft“ (gern auch „Glaube vs. Vernunft“) beschäftigt, las ich neulich den folgenden Satz:

The US represents a different cultural context, where it might seem that the key issue is a conflict between literal readings of Genesis and key features of evolutionary history.

In letzter Zeit kam ich gelegentlich mit Freikirchlern und Evangelikalen in Kontakt, darunter auch ehemaligen, die inzwischen zu Atheisten geworden sind. (Was ich, bei allem Respekt vor der großen Ernsthaftigkeit im Glauben, angesichts mancher zum Haareraufen hanebüchenen Theologie dann auch wieder verstehen kann.) Der Konflikt zwischen einer vorgeblich wörtlichen Auslegung der Genesis und einigen Schlüsselgedanken der Evolutionsgeschichte scheint tatsächlich ein relevantes Thema zu sein.

Wirklich? Hat eigentlich niemand Augustinus gelesen? Der hat in seinem Leben insgesamt drei Genesiskommentare geschrieben, einer davon nennt sich De Genesi ad litteram, handelt also von der wörtlichen Auslegung der Genesis. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, muss an die klassische Lehre vom vierfachen Schriftsinn erinnert werden. Neben der buchstäblichen (wörtlichen) Auslegung gibt es demnach auch noch die allegorische (Glaubenswirklichkeit), die moralische (Handlungsanweisung) und die anagogische (Ausdruck der Hoffnung).

Man sieht bereits, dass sich die altkirchliche Bibelauslegung nicht auf einen einzigen Sinn festlegen lässt. Dabei ist der vierfache Schriftsinn nicht alternativ zu verstehen, sondern additiv: Die Bibel ist wahr in jedem Sinn, im wörtlichen wie im allegorischen, moralischen und anagogischen Sinn. Schon die altkirchliche Tradition der Bibelauslegung ist also deutlich komplexer als es der moderne Biblizismus erlaubt.

Der Clou ist aber: Wenn Augustinus sich an einer wörtlichen Auslegung versucht, so zieht er völlig selbstverständlich den damaligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis heran. Ihm würde es niemals einfallen, aus der Bibel naturwissenschaftliche Aussagen abzuleiten. Auch und gerade bei einer wörtlichen Auslegung greift er auf das ihm bekannte Wissen zurück, um so dem wörtlichen Schriftsinn auf die Spur zu kommen. Ja, er polemisiert sogar gegen jene, wie er sieht nennt, unbesonnenen Eiferer, die das anders halten:

Oft genug kommt es vor, daß auch ein Nichtchrist ein ganz sicheres Wissen durch Vernunft und Erfahrung erworben hat, mit dem er etwas über die Erde und den Himmel, über Lauf und Umlauf, Größe und Abstand der Gestirne, über bestimmte Sonnen- und Mondfinsternisse, über die Umläufe der Jahre und Zeiten, über die Naturen der Lebewesen, Sträucher, Steine und dergleichen zu sagen hat. Nichts ist nun peinlicher, gefährlicher und am schärfsten zu verwerfen, als wenn ein Christ mit Berufung auf die christlichen Schriften zu einem Ungläubigen über diese Dinge Behauptungen aufstellt, die falsch sind und, wie man sagt, den Himmel auf den Kopf stellen, so daß der andre kaum sein Lachen zurückhalten kann. Daß ein solcher Ignorant Spott erntet, ist nicht das Schlimmste, sondern daß von Draußenstehenden geglaubt wird, unsere Autoren hätten so etwas gedacht. Gerade sie, um deren Heil wir uns mühen, tragen den größten Schaden, wenn sie unsere Gottesmänner daraufhin als Ungelehrte verachten und zurückweisen. Denn wenn sie einen von uns Christen auf einem Gebiet, das sie genau kennen, bei einem Irrtum ertappen und merken, wie er seinen Unsinn mit unseren Büchern belegen will, wie sollen sie dann jemals diesen Büchern die Auferstehung der Toten, die Hoffnung auf das ewige Leben und das Himmelreich glauben, da sie das für falsch halten müssen, was diese Bücher geschrieben haben über Dinge, die sie selbst erfahren haben und als unzweifelhaft erkennen konnten? Es ist unbeschreiblich, wie viel Verdruß und Kummer einsichtigen Brüdern durch solche unbesonnene Eiferer bereitet wird, die von Leuten, die nicht durch die Autorität unserer Bücher gestützt werden, in ihren verkehrten und falschen Ansichten verächtlich zurückgewiesen werden und dann beginnen, das zu verteidigen, was sie in ihrer leichtsinnigsten Verwegenheit offenkundig falsch gesagt haben.
–Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis

Mir scheint, der moderne Biblizismus ist ein selbstgeschaffenes Problem, das eigentlich nur durch völlige Unkenntnis der Kirchenväter, und hier namentlich Augustinus, zu erklären ist. Kann es sein, dass im Gefolge der Reformation (sola scriptura) mancherorts eine angemessene kirchliche Bibelhermeneutik verloren gegangen ist, wie sie zum Beispiel – nach wie vor vorbildlich – die Päpstliche Bibelkommission 1993 in ihrem Dokument Die Interpretation der Bibel in der Kirche beschrieben hat? Ironie der Geschichte: In Ermangelung einer brauchbaren Hermeneutik zieht man sich am Ende auf ein wörtliches Verständnis der Bibel zurück, das allerdings nicht einmal der wörtlichen Interpretation zum Beispiel eines Augustinus entspricht, ja im Gegenteil von Voraussetzungen ausgeht, die schon Augustinus abgelehnt hatte.