Mit gerade einmal 30 Jahren Verspätung hat...

Mit gerade einmal 30 Jahren Verspätung hat sich die Erkenntnis, dass wir ein gewisses demographisches Problem haben, nun endlich Bahn gebrochen. Doch auf welchen Abwegen diese Debatte geführt wird, führt nun die taz vor:

„Man definiert sich zwar in kaum einem anderen Land in gleicher Weise über das Geld, aber ignoriert zugleich die Bedeutung materieller Lebensbedingungen. Stattdessen führt man lieber Wertedebatten. Auf diesem Niveau wird jetzt ein moralisierender Diskurs über die Motive von Menschen zum Verzicht auf Kinder geführt. […] Die Kinderlosigkeit ist keineswegs das Ergebnis von Egoismus, sondern die Folge des herrschenden ökonomischen Diskurses. Es fehlt, um Todd richtig zu verstehen, an Selbstbewusstsein und Zukunftsvertrauen, sich dem zu widersetzen. Die in der Eltern-Studie angegebene Begründung des „fehlenden Partners“ ist dafür ein Indiz. Man kann auch in Trennungssituationen gemeinsam Kinder erziehen – oder unter schwierigen sozialen Bedingungen. Wer will das bestreiten? Die meisten Befragten verstehen das Diktat der Ökonomie schon richtig. Sie wagen es aber nicht, diesem Diktat konträre Entscheidungen zu treffen. Dem Staatsbürger – dem Citoyen – fehlt es bei uns an Selbstbewusstsein. Es dominiert der Bourgeois mit seiner betriebswirtschaftlichen Logik. Kinder sind in dieser Perspektive ein schlechtes Geschäft: Man muss ein ökonomischer Idiot sein, um sich für mehrere Kinder zu entscheiden.“ [via pickings]

Es gibt kaum einen größeren Irrtum als den, den sich der alte Katholik und Bundeskanzler Konrad Adenauer leistete, indem er seinerzeit bei der Einführung des heutigen, umlagefinanzierten Rentensystems sagte: „Kinder bekommen die Leute immer.“ Damit schlug er die Warnungen vor einer Schieflage in den Wind, die langfristig daraus entstehen würde, dass Kinderlose Renten aus einem System beziehen, zu dessen Erhalt sie nichts beigetragen haben. Denn alle aus noch so hohen Rentenbeiträgen erworbenen Ansprüche sind nichts als Fiktionen – die Beiträge dienen ausschließlich dazu, die Ansprüche der vorherigen Generation zu befriedigen. De facto handelt es sich um eine Steuer auf Arbeit im Angestelltenverhältnis.

Passend zum Evangelium des vergangenen Sonntags...

Passend zum Evangelium des vergangenen Sonntags kommt Brendon Connelly auf die Idee, die Seligpreisungen für den Kundendienst zu adaptieren. Kostprobe:

Blessed are the poor in spirit: for theirs is the kingdom of heaven
My take on this first beatitude is that we’re all in the same boat. Though we gain varying degrees of mastery of our jobs, at some level, if we’re honest, we remain beginners–„poor in spirit“. We’re always conscious of the fact that the more knowledge we have, the less we actually know. I think the first beatitude speaks pretty well to this sense of begninner-ness. Further, acknowledging this helps bring us to level ground with our customers. We know that, despite the imbalance of product knowledge, we are ultimately equals. And transactions between equals are way more likely to culminate in mutually agreeable results.

Eristische Dialektik ist die Kunst zu disputieren...

Eristische Dialektik ist die Kunst zu disputieren, und zwar so zu disputieren, daß man Recht behält, also per fas et nefas. Man kann nämlich in der Sache selbst objective Recht haben und doch in den Augen der Beisteher, ja bisweilen in seinen eignen, Unrecht behalten. Wann nämlich der Gegner meinen Beweis widerlegt, und dies als Widerlegung der Behauptung selbst gilt, für die es jedoch andre Beweise geben kann; in welchem Fall natürlich für den Gegner das Verhältnis umgekehrt ist: er behält Recht, bei objektivem Unrecht. Also die objektive Wahrheit eines Satzes und die Gültigkeit desselben in der Approbation der Streiter und Hörer sind zweierlei. (Auf letztere ist die Dialektik gerichtet.)

Mit diesen Worten leitet Schopenhauser ein als »Dialektik«, »Eristische Dialektik« oder »Die Kunst, Recht zu behalten« aus seinem Nachlass veröffentlichtes Manuscript ein. Ich musste sofort an diverse Debatten in gewissen einschlägigen Foren denken, in denen ganz offensichtlich genau das geschieht: Ein vermeintlich oder tatsächlich widerlegter Beweis gilt als Widerlegung der Behauptung selbst – ungeachtet der Tatsache, dass es natürlich andere Beweise geben kann.

Woher kommt das? – Von der natürlichen Schlechtigkeit des menschlichen Geschlechts.

Meint jedenfalls Schopenhauer. Erbsünde, ick hör‘ dir trapsen.

Gott und die Schwingungen der Farbe überschreibt...

Gott und die Schwingungen der Farbe überschreibt Thomas Wagner sein Stück im heutigen FAZ-Feuilleton über den Maler Alexej von Jawlensky und dessen Formel, Kunst sei „Sehnsucht zu Gott“. Ein Auszug: „Wenn er zu seinen ‚Abstrakten Köpfen‘ bemerkt: ‚Sagen Sie jedem, daß das kein Gesicht ist. Es ist das nach unten sich Abschließende, das nach oben sich Öffnende, das in der Mitte sich Bergende‘, so war es diese erweiterte Auffassung des Gesichts, in der er die Möglichkeit entdeckte, seine Kunst ins Religiöse zu erweitern. Er hatte verstanden, ‚daß die große Kunst nur mit religiösem Gefühl gemalt werden soll‘ und daß er das ’nur in das menschliche Antlitz bringen‘ konnte. Im Unterschied zur Ikonenmalerei, die ‚das eine Bild‘ beständig wiederholt, wiederholt Jawlensky unablässig die Hinwendung zur Transzendenz, variiert aber das Bild. Was, wenn Jawlensky ebendies versuchte: das Überpersönliche eines ‚vera ikon‘ an das Serielle und die Farbe zu binden?

Modern wäre Jawlensky dann nicht, weil er den fauvistischen Farbimpuls aufgenommen und für sich nutzbar gemacht hat. Auch führte sein Weg nicht einfach in die Abstraktion. Radikal und einzigartig wäre seine Malerei, weil sie den Verlust einer transzendent verbürgten Ordnung in der Serialität auffängt, statt eine Verbindung zum Göttlichen lediglich zu behaupten. Sind abstraktes Schema und individueller Ausdruck im menschlichen Gesicht an sich schon untrennbar, so schaffen Jawlenskys Serien nun den Raum einer Zwillingsexistenz.

Denn Gott als das Absolute läßt sich nicht zeigen wie ein Baum oder eine Vase. Zwar vermag auch ein einzelnes Bild auf Transzendentes zu verweisen; doch bleibt es dabei Ausdruck eines individuellen Wunsches und somit kontingent. In einer offenen Serie hingegen gerinnt die Sehnsucht nach Transzendenz selbst zur Struktur. Wie die Vision eines Gesichts anwesend ist und sich doch im Spiel von Farben und Formen wieder verliert, so zeigt sich im Prozeß des endlosen Sich-Annäherns auch Transzendentes indirekt. Es ist im Modus der Abwesenheit anwesend oder in dem der Anwesenheit abwesend. Jawlensky füllt das Serielle also nicht, wie in der Forschung oft behauptet, schlicht mit mystisch-religiösem Sinn aus. Er vertraut vielmehr auf von der Malerei erzeugte Resonanzen. Im Schema des Gesichts aktiviert er die Eigenschwingungen der Farbe und baut darauf, das Transzendente werde in einer resonanten Koppelung antworten und mitzuschwingen beginnen. Frei von jeder Intention, frei von jeder subjektiven Zuwendung.“

Ich war auch mal in Ronchamp und muss gestehen,...

Ich war auch mal in Ronchamp und muss gestehen, dass mich die dortige, von Le Corbusier geschaffene Wallfahrtskirche sehr beeindruckt hat. Der Deutschlandfunk, der heute an die Einweihung erinnert, ist sich nicht ganz sicher, ob sie vor 50 oder vor 51 Jahren stattfand… Genüsslich zitiert der DLF-Autor die (namenlosen) „Kunstbeauftragten der Erzdiözese Paderborn“, die im Juni 1956 öffentlich erklärten: „Wir stellen mit Besorgnis fest, dass die von Le Corbusier in Ronchamp erbaute Wallfahrtskirche in der Presse weitgehend eine durchaus anerkennende Beurteilung findet, ja dass sie bereits von deutschen Architekten als Vorbild für ihre Entwürfe herangezogen wird. Wir weisen darauf hin, dass diese Kirche ein nicht zu überbietendes Beispiel von Neuerungssucht, Willkür und Unordnung ist und dass Le Corbusier mit ihr den Bruch mit der Tradition des katholischen Kirchenbaues mit einem bisher unerhörten Radikalismus vollzogen hat und sogar mehrfach gegen die allgemeinen Regeln der Baukunst verstößt. Wir stellen insbesondere fest, dass diese Kirche den unbedingt zu fordernden sakralen Charakter völlig vermissen lässt.“ Dankenswerterweise hat uns Jürgen schon vor einiger Zeit darüber aufgeklärt, dass Paderborn quasi der Quell des katholischen Kunstsachverstandes ist.