Achtung, Theologieverdacht!

Notizen aus dem Ekklesiolab, dritte Lieferung

Theologie, die Rede von Gott, manifestiert sich offensichtlich im gesprochenen und geschriebenen Wort. Wo Christliche Theologie sich im Wort manifestiert, ist sie notwendigerweise reflexiv, soweit sich dieses Wort auf den Logos bezieht, der im Anfang war (Joh 1,1). Vermutlich liegt jedoch der größte Teil der real existierenden Theologie gar nicht im expliziten Wort vor, sondern manifestiert sich implizit in Strukturen, Räumen, Gebäuden, Gemeinschaften, Zeiten, Sprache, Bildern, Kunst, Musik etc. – das ist der Verdacht. Widmen wir uns also der Beweisaufnahme.

Beweismittel No. 1: Struktur

Die kirchliche Hierarchie ist strukturgewordene Theologie. Sie bildet das Rückgrat des Leibes Christi, der die Kirche ist. Darin, wie die Hierarchie lebt und gelebt wird, manifestiert und verändert sich ein Stück Theologie.

Beweismittel No. 2: Raum

Die Beziehung von Kirche und Raum ist raumgewordene Theologie. Bistümer, Landeskirchen, Dekanate, Kirchenkreise, Sprengel und Pfarreien sind nicht nur Verwaltungseinheiten, sondern Beziehungsräume. Ob sie nach dem Vorbild der Lehnsherrschaft, der Bürokratie oder der Dienstleistung funktionieren, ist ein theologisch schwerwiegender Unterschied. Es ist theologisch gerade nicht egal, ob zwischen Pfarrei (Territorium) und Gemeinde (Versammlung) unterschieden wird oder nicht, ob es Kirchort heißt oder Gemeinde. Wortungeheuer wie „Seelsorgeeinheit“ transportieren eine (schlechte und wahrscheinlich unreflektierte) Theologie.

Beweismittel No. 3: Gebäude

Kirchen (als Gebäude) sind gebaute Theologie. In ihnen manifestiert sich neben Zeitgeist und Mode immer auch Theologie. Zunächst die Theologie der jeweiligen Bauzeit, deren Ausdruck der Baukörper selbst und die Erstausstattung sind. Und dann die unterschiedlichen Theologien, die mit jeder Ergänzung der Ausstattung, jeder Renovierung und jedem Umbau einhergehen. Die Hildesheimer Seminarkirche ist dafür ein starkes Exponat.

Beweismittel No. 4: Gemeinschaft

Gemeinschaften sind Kommunikation und Beziehung gewordene Theologie. Egal ob sie einer expliziten Regel (Ordensregel, Geschäftsordnung) folgen oder implizite Kommunikations- und Beziehungsregeln haben, steckt darin immer eine bestimmte Theologie. Dies gilt für jede Gemeinschaft, denn auch eine esoterische oder eine atheistische Theologie ist eine solche. In diesen Fällen ist der theós eben ein esoterischer theós, oder es handelt sich um die Ablehnung des theós und der Rede davon.

Beweismittel No. 5: Zeit

Die Unterscheidung heiliger Zeiten von profanen Zeiten ist eine Theologie auf der Zeitachse. Wie Räume aus dem profanen Bereich herausgenommen und sakralisiert werden können, so auch bestimmte Zeiten. Gebetszeiten am Tag, der Sonntag als erster Tag der Woche, heilige Festtage, geprägte Zeiten wie Fastenzeit und Osterzeit, aber auch die Abwesenheit solcher Zeiten sind Theologie. Die Aufhebung der Trennung zwischen sakralen und profanen Zeiten ist Theologie.

Beweismittel No. 6: Sprache

Sprache selbst ist Theologie, auch wenn sie sich nicht explizit auf Gott bezieht. In Sprache sind Annahmen enthalten und Vorentscheidungen getroffen, die enorme theologische Konsequenzen haben. Sprachliche Strukturen spannen einen Raum auf für die Rede von Gott und präformieren sie.

Beweismittel No. 7: Bild

Lange vor dem iconic turn hat Theologie in Bildern gesprochen. Biblische Bilder und Gleichnisse stehen schon am Anfang aller christlichen Theologie, bildliche Darstellungen des Glaubens gehören zu den frühesten Zeugnissen theologischer Reflexion. Bilder sind wahrscheinlich die einfachste und grundlegendste Form der Theologie.

Beweismittel No. 8: Kunst

Die Rede von Gott hat zu allen Zeiten größte Kunst hervorgebracht. Lange bevor der Kunst das Museum als eigener Ort angewiesen wurde, waren Kirchengebäude Fokuspunkte für das Kunstschaffen der sie tragenden Gemeinschaften. Hier stand Kunst den Menschen aller Schichten offen, selbst wenn sie nicht getauft waren. Kunst in der Kirche war nicht exklusiv den Reichen vorbehalten.

Beweismittel No. 9: Musik

Geistliche Musik gleicht einem Gottesbeweis. Der Gregorianische Choral, die H-Moll-Messe von Bach oder die Gesänge von Jacques Berthier sprechen auf eine Weise von Gott, wie sie sonst vielleicht nur noch in Kunst und Bild möglich ist – durch ihre pure Existenz.

Fazit der Beweisaufnahme:

Die implizite Theologie ist viel umfangreicher als die explizite Theologie. Das Verhältnis zwischen beiden gleicht dem Verhältnis zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf, wie im Jahre 1215 das Vierte Laterankonzil formuliert hat:

„Denn von Schöpfer und Geschöpf kann keine Ähnlichkeit ausgesagt werden, ohne daß sie eine größere Unähnlichkeit zwischen beiden einschlösse.“

Papst Benedikt vor dem Aufstieg auf den Berg

Noch immer beschäftigt viele Menschen die Frage nach dem Grund für den Amtsverzicht von Papst Benedikt XVI. Er selbst gab heute in der Ansprache zum letzten Angelus seines Pontifikates eine theologische Deutung, die Bezug nahm auf das heutige Evangelium von der Verklärung des Herrn (Lk 9, 28b-36):

„Liebe Brüder und Schwestern, ich fühle, wie dieses Wort Gottes in diesem besonderen Augenblick meines Lebens besonders an mich ergeht. Der Herr ruft mich, den ‚Berg hinaufzusteigen’, mich noch mehr dem Gebet und der Betrachtung zu widmen. Doch dies bedeutet nicht, die Kirche zu verlassen, im Gegenteil. Wenn Gott dies von mir fordert, so gerade deshalb, damit ich fortfahren kann, ihr zu dienen, mit derselben Hingabe und mit derselben Liebe, mit denen ich es bis jetzt versucht habe, aber in einer Weise, die meinem Alter und meinen Kräften angemessener ist.“

Dieser Aufstieg auf den Berg wird noch einmal konkret sichtbar, wenn auch verborgen vor den Augen der meisten Menschen und der Medien, wenn er in einigen Wochen seinen Rückzugsort auf dem Vatikanhügel beziehen wird. Ganz nah am Herzen der Weltkirche, im kleinen Vatikanstaat und im Schatten des Petersdomes wird er seinen Dienst in Gebet und Betrachtung fortsetzen.

Er verlässt die Kirche nicht, „im Gegenteil“! Er spricht von einer Forderung Gottes, also einer neuen Berufung für den letzten Abschnitt seines Lebens. Über den sprach er bereits in einer Predigt zu seinem 85. Geburtstag im vergangenen April:

Ich stehe vor der letzten Wegstrecke meines Lebens und weiß nicht, was mir verhängt sein wird. Aber ich weiß, daß das Licht Gottes da ist, daß er auferstanden ist, daß sein Licht stärker ist als alles Dunkel; daß Gottes Güte stärker ist als alles Böse dieser Welt. Und das läßt mich in Gewißheit weitergehen. Das läßt uns weitergehen, und allen, die dieses „Ja“ Gottes immer wieder durch ihren Glauben auch mir gewiß machen, danke ich von ganzem Herzen in dieser Stunde.

In gewisser Weise schließt sich jetzt ein Kreis, aber nicht ganz. Sein Pontifikat begann mitten in der Osterzeit, nachdem sein Vorgänger am Vorabend des Sonntags der Göttlichen Barmherzigkeit gestorben und er kurze Zeit später zum Papst gewählt worden war. Es endet mitten in der Fastenzeit, also der österlichen Bußzeit, in der violetten Farbe der Buße. Der letzte Sonntag seines Pontifikates steht im Zeichen der Verklärung, die zugleich Vorschau auf die österliche Vollendung wie auf das Leiden Christi ist.

Das nahe Osterfest überlässt Papst Benedikt seinem Nachfolger. Den Kardinälen, die den Nachfolger zu wählen haben, wird er vermutlich in den kommenden Tagen noch die Freiheit geben, über den richtigen Zeitpunkt für das Konklave zu entscheiden. Sie stehen dann vor der Entscheidung, sich entweder die vorgeschriebenen 15 bis 20 Tage Zeit zu nehmen, um die Wahl gründlich vorzubereiten, in Gesprächen und Begegnungen, in Fasten und Gebet. Oder das Konklave vorzuziehen, um eventuell mehr Zeit für die nötigen Wahlgänge zu haben und trotzdem rechtzeitig vor Beginn der Heiligen Woche das „Habemus Papam“ von der Loggia des Petersdomes ausrufen zu können.