In einem lesenswerten Stück, das sich mit dem Dauerbrenner „Religion vs. Wissenschaft“ (gern auch „Glaube vs. Vernunft“) beschäftigt, las ich neulich den folgenden Satz:
The US represents a different cultural context, where it might seem that the key issue is a conflict between literal readings of Genesis and key features of evolutionary history.
In letzter Zeit kam ich gelegentlich mit Freikirchlern und Evangelikalen in Kontakt, darunter auch ehemaligen, die inzwischen zu Atheisten geworden sind. (Was ich, bei allem Respekt vor der großen Ernsthaftigkeit im Glauben, angesichts mancher zum Haareraufen hanebüchenen Theologie dann auch wieder verstehen kann.) Der Konflikt zwischen einer vorgeblich wörtlichen Auslegung der Genesis und einigen Schlüsselgedanken der Evolutionsgeschichte scheint tatsächlich ein relevantes Thema zu sein.
Wirklich? Hat eigentlich niemand Augustinus gelesen? Der hat in seinem Leben insgesamt drei Genesiskommentare geschrieben, einer davon nennt sich De Genesi ad litteram, handelt also von der wörtlichen Auslegung der Genesis. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, muss an die klassische Lehre vom vierfachen Schriftsinn erinnert werden. Neben der buchstäblichen (wörtlichen) Auslegung gibt es demnach auch noch die allegorische (Glaubenswirklichkeit), die moralische (Handlungsanweisung) und die anagogische (Ausdruck der Hoffnung).
Man sieht bereits, dass sich die altkirchliche Bibelauslegung nicht auf einen einzigen Sinn festlegen lässt. Dabei ist der vierfache Schriftsinn nicht alternativ zu verstehen, sondern additiv: Die Bibel ist wahr in jedem Sinn, im wörtlichen wie im allegorischen, moralischen und anagogischen Sinn. Schon die altkirchliche Tradition der Bibelauslegung ist also deutlich komplexer als es der moderne Biblizismus erlaubt.
Der Clou ist aber: Wenn Augustinus sich an einer wörtlichen Auslegung versucht, so zieht er völlig selbstverständlich den damaligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis heran. Ihm würde es niemals einfallen, aus der Bibel naturwissenschaftliche Aussagen abzuleiten. Auch und gerade bei einer wörtlichen Auslegung greift er auf das ihm bekannte Wissen zurück, um so dem wörtlichen Schriftsinn auf die Spur zu kommen. Ja, er polemisiert sogar gegen jene, wie er sieht nennt, unbesonnenen Eiferer, die das anders halten:
Oft genug kommt es vor, daß auch ein Nichtchrist ein ganz sicheres Wissen durch Vernunft und Erfahrung erworben hat, mit dem er etwas über die Erde und den Himmel, über Lauf und Umlauf, Größe und Abstand der Gestirne, über bestimmte Sonnen- und Mondfinsternisse, über die Umläufe der Jahre und Zeiten, über die Naturen der Lebewesen, Sträucher, Steine und dergleichen zu sagen hat. Nichts ist nun peinlicher, gefährlicher und am schärfsten zu verwerfen, als wenn ein Christ mit Berufung auf die christlichen Schriften zu einem Ungläubigen über diese Dinge Behauptungen aufstellt, die falsch sind und, wie man sagt, den Himmel auf den Kopf stellen, so daß der andre kaum sein Lachen zurückhalten kann. Daß ein solcher Ignorant Spott erntet, ist nicht das Schlimmste, sondern daß von Draußenstehenden geglaubt wird, unsere Autoren hätten so etwas gedacht. Gerade sie, um deren Heil wir uns mühen, tragen den größten Schaden, wenn sie unsere Gottesmänner daraufhin als Ungelehrte verachten und zurückweisen. Denn wenn sie einen von uns Christen auf einem Gebiet, das sie genau kennen, bei einem Irrtum ertappen und merken, wie er seinen Unsinn mit unseren Büchern belegen will, wie sollen sie dann jemals diesen Büchern die Auferstehung der Toten, die Hoffnung auf das ewige Leben und das Himmelreich glauben, da sie das für falsch halten müssen, was diese Bücher geschrieben haben über Dinge, die sie selbst erfahren haben und als unzweifelhaft erkennen konnten? Es ist unbeschreiblich, wie viel Verdruß und Kummer einsichtigen Brüdern durch solche unbesonnene Eiferer bereitet wird, die von Leuten, die nicht durch die Autorität unserer Bücher gestützt werden, in ihren verkehrten und falschen Ansichten verächtlich zurückgewiesen werden und dann beginnen, das zu verteidigen, was sie in ihrer leichtsinnigsten Verwegenheit offenkundig falsch gesagt haben.
–Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis
Mir scheint, der moderne Biblizismus ist ein selbstgeschaffenes Problem, das eigentlich nur durch völlige Unkenntnis der Kirchenväter, und hier namentlich Augustinus, zu erklären ist. Kann es sein, dass im Gefolge der Reformation (sola scriptura) mancherorts eine angemessene kirchliche Bibelhermeneutik verloren gegangen ist, wie sie zum Beispiel – nach wie vor vorbildlich – die Päpstliche Bibelkommission 1993 in ihrem Dokument Die Interpretation der Bibel in der Kirche beschrieben hat? Ironie der Geschichte: In Ermangelung einer brauchbaren Hermeneutik zieht man sich am Ende auf ein wörtliches Verständnis der Bibel zurück, das allerdings nicht einmal der wörtlichen Interpretation zum Beispiel eines Augustinus entspricht, ja im Gegenteil von Voraussetzungen ausgeht, die schon Augustinus abgelehnt hatte.