in Catholica

Die Revolution hat gesiegt

Martin Mosebach beantwortet die Frage der Frankfurter Rundschau: Sind Sie konservativ?

„Da gilt es zunächst zu klären, was das Wort ‚konservativ‘ eigentlich bedeutet. Nach landläufigen Begriffen heißt ‚konservativ‘ der politische Wille, eine bestimmte Ordnung vor Umwälzung zu schützen und so gut wie möglich in den Veränderungen der Zeit bewahren zu wollen. Konservativ ist man als Freund der genannten Ordnung vor der Revolution – man will die Revolution verhindern. Was aber, wenn die Revolution gesiegt hat und all das, was der Konservative schützen wollte, weggefegt worden ist? Europa hat seit 1789 eine Reihe gewaltsamer politischer Umwälzungen erfahren, die tiefste und nachhaltigste davon war die Industrielle Revolution. Ich frage mich ernsthaft, ob nach ihrem unbezweifelbaren Sieg Konservatismus überhaupt noch möglich ist? […]

Da Sie das Industriezeitalter als definitives Ende des Konservatismus definieren: Welches sind die Aporien von Industriezeitalter und Konservatismus?

Alle Voraussetzungen für einen wirklichen Konservatismus sind nicht mehr da. Jeder kennt die Schlagworte, die unsere Welt charakterisieren: offene Märkte, kommerzialisierte Wissenschaft, der Zwang zu unablässigem Wachstum, religiöse Indifferenz, Atomisierung der Gesellschaft, Amnesie – da erscheinen die konservativen Ideale nur noch als ferner schattenhafter Traum: autarke kleine Regionen, zweckfreie Forschung, Stabilität bis hin zur wohltuend empfundenen Stagnation, religiöse Bindung, Zusammensetzung der Gesellschaft aus von ihr unabhängigen Familien und Körperschaften, Gegenwart der Vergangenheit und der Toten.

Sie meinen also das zyklische Leben, das Leben als Wiederholung?

Bis zur Industriellen Revolution waren die Lebensbedingungen, von den klimatischen Differenzen abgesehen, in der ganzen Welt sehr ähnlich. Gegenwärtig erleben wir nicht den Zusammenstoß von Zivilisationen, sondern den Endkampf jener Zivilisationen, die sich noch verzweifelt gegen den Sieg der Industriellen Revolution wehren, obwohl sie de facto schon von ihr überwältigt worden sind. Mich überzeugt die These, dass wir eine Umwälzung erleben von den Ausmaßen, wie sie die Zähmung des Feuers in der Steinzeit besaß.

Wie erklären Sie sich denn, dass der Begriff des Konservativen so attraktiv geblieben ist, sowohl für politische Parteien als auch für bestimmte Strömungen im Geistesleben?

Ich vermute, dass die Ahnung, der Bruch mit der organischen Entwicklung des irdischen Menschenlebens sei wirklich irreversibel, in vielen Menschen ein geheimes Grauen erregt. ‚Konservativ‘ wird heute genannt, was den längst unbeherrschbar gewordenen Lauf der Entwicklung ein wenig hemmen, ein wenig bremsen könnte. ‚Konservativ‘ wird heute auch empfunden, wer sich die Geschichte nicht nur hegelianisch zu immer neuen Höhen schreitend vorstellen kann, sondern wer auch Verfall, Verlust und Niedergang als mögliche Verläufe erkennt. ‚Konservativ‘ nennt sich heute jeder, der nicht links sein will. Dabei ist die komische Wendung zu beobachten, dass sich CDU-Mitglieder oder gar Liberale als ‚konservativ‘ ausgeben oder von einer begriffsschwach gewordenen Linken so bezeichnet werden. Liberalismus und Sozialismus stammen aber aus derselben ökonomischen Mentalität. Die letzte konservative Partei, die es in Deutschland gab, waren die preußischen Konservativen, die Bismarck hassten, weil er Preußen im Deutschen Reich aufgehen ließ. Der konservative Affekt gegen die industrielle Zivilisation kann sich heute politisch nicht mehr artikulieren, das zeigt auch das Schicksal der Grünen, die den Widerspruch zwischen ihren konservativen und ihren sozialistischen Motiven niemals auch nur haben benennen können.“

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