Überlegungen am Vorabend der Wahl

Morgen wird der 19. Deutsche Bundestag gewählt, und wie im Grunde schon länger klar ist, werden dem neuen Parlament wahrscheinlich sechs (mit der CSU sieben) Parteien angehören. Auch wenn dies die Regierungsbildung erschweren dürfte, sehe ich keinen Grund zur Panik. Aber der Reihe nach.

  1. Die Kanzlerfrage ist schon lange entschieden. Angela Merkel bleibt Kanzlerin, Martin Schulz hatte aus einer Vielzahl von Gründen keine Chance und dürfte der SPD ein historisch schlechtes Wahlergebnis bescheren, und zwar völlig zu Recht. Der Wahlkampf der SPD war unterirdisch schlecht. Auch die Grünen haben kaum Gründe geliefert, warum sie gewählt werden sollten. Weshalb auch nur ihre Stammwähler grün wählen werden und eine hohe Wahlbeteiligung für die Grünen gefährlich werden dürfte.
  2. Die Koalitionsfrage hingegen ist offen. Die Merkel-CDU ist in der Mitte des politischen Feldes so positioniert, dass sie mit allen Parteien außer Linken und AfD koalieren könnte, je nach Opportunität und Machtverhältnissen. Sie ist weder ausgeprägt rechts/konservativ noch links, weder autoritär noch besonders liberal – sie ist alles und nichts zugleich. Eine Partei wie die heutige CDU hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Sie hat alle anderen Parteien zu Satelliten degradiert, die irgendwie um die CDU kreisen.
  3. Im nun vergangenen Bundestag gab es zwei mögliche Alternativen zur Großen Koalition: Rot-rot-grün (R2G) und Schwarz-grün. Beide sind Geschichte, wegen des Niedergangs der SPD und der Grünen, die mit dem (Wieder-)Aufstieg der FDP und der AfD einhergehen. Was SPD und Grüne mit der Linken (und der AfD) eint, ist ihr autoritäres, illiberales Politikverständnis. Sie glauben sich im Kern moralisch überlegen und im Besitz einer Wahrheit, die dem Rest der Gesellschaft im Rahmen der Möglichkeiten des demokratischen Rechtsstaates aufgezwungen werden muss, zu deren vermeintlich Besten.
  4. Der neue Bundestag wird die Gesellschaft sehr viel besser abbilden als der alte. Das ist aus demokratischer Perspektive eine gute Sache. Mit außerparlamentarischer Opposition hat dieses Land keine guten Erfahrungen gemacht. Opposition gehört ins Parlament. Ihre vornehmste Aufgabe ist, eine Alternative zur Regierung bereitzustellen. Hier versagt die SPD in einer dramatischen Weise, die jedem Demokraten Kopfschmerzen bereiten muss. Es ist leider überhaupt nicht zu erkennen, wie die CDU als Regierungspartei jemals abgelöst werden kann.
  5. Wer eine liberale Politik bevorzugt, hat in diesem Lande, im Gegensatz zu den Anhängern eines autoritären Politikstils, keine große Auswahl. Wer sich mit dem Opportunismus der Mitte, wie ihn die Merkel-CDU pflegt, nicht anfreunden kann, dem bleibt im Grunde nur die FDP, nachdem sich die AfD vom konservativ-liberalen ins rechts-autoritäre Politikfeld bewegt hat.
  6. Da gegen die CDU keine Regierung gebildet werden kann, läuft es also entweder auf eine Fortsetzung der Großen Koalition, auf Schwarz-gelb oder auf Jamaika hinaus. Die SPD kann froh sein, wenn ihr Abstand zur AfD nicht zu sehr schrumpft und sie weiterhin mitregieren darf. Wird die FDP drittstärkste Kraft oder wenigstens zweistellig, ist eine schwarz-gelbe Mehrheit und eine dementsprechende Koalition wahrscheinlich. Ob Jamaika realistisch ist, lässt sich schwer einschätzen. Wer keine Große Koalition wünscht, sollte daher FDP wählen.
  7. Neuwahlen aufgrund einer gescheiterten Regierungsbildung sind hingegen unwahrscheinlich. Denn dann dürfte die AfD noch einmal zulegen, zum Schaden der übrigen Parteien, die nicht zuletzt deshalb ein starkes Interesse am Mitregieren haben sollten.
  8. Alle Parteien außer der AfD eint das Versagen, das Thema No. 1 dieses Wahljahres, nämlich Einwanderung, nicht klar genug adressiert und letztlich der AfD überlassen zu haben. Es ist zugleich die einzige offene Flanke der CDU. Bei diesem Thema gab es keine Opposition im Parlament, einmal von der CSU abgesehen, die zeitweise die innerkoalitionäre Oppositionsrolle übernahm, aber selbstverständlich nicht so blöd war, diese Rolle auch im Wahlkampf einzunehmen. Einwanderung wäre das Gewinnerthema der SPD gewesen, wenn sie sich dazu von Anfang an klüger positioniert hätte und die Interessen derer vertreten hätte, die früher einmal SPD-Stammwähler waren. So verliert die SPD, wie sie in den 80ern Wähler an die Grünen, in den 90ern an die Linke und zuletzt an die CDU verloren hat, zu guter Letzt auch noch an die AfD. Wir erleben das Ende einer großen Volkspartei.

Die Bundesrepublik wird am Montag eine andere sein.

Wahljahr 2017: Alles läuft nach Merkels Plan

Es ist schon fast beängstigend, wie sehr das Wahljahr 2017 bis jetzt nach einem Drehbuch zu verlaufen scheint, das im Konrad-Adenauer-Haus geschrieben sein könnte. Ich frage mich schon länger, was eigentlich passieren müsste, damit die SPD die Bundestagswahl gewinnt. Mir fällt nichts ein.

Das beginnt schon damit, dass nicht einmal klar ist, wie eigentlich so ein SPD-Wahlsieg aussehen würde. Mehr Stimmen als die CDU? Das ist mittlerweile extrem unwahrscheinlich geworden. Eine Kanzlermehrheit für Rot-Rot-Grün? Die gibt es schon seit 2013, ohne dass dies der SPD irgendetwas genutzt hätte. Einmal davon abgesehen, dass inzwischen auch R2G weit von einer rechnerischen Mehrheit entfernt ist.

Woher soll eine Kanzlermehrheit für Martin Schulz kommen? Solange die SPD diese Frage nicht beantworten kann, muss sie auch keinen Kanzlerkandidaten aufstellen. Vages Geraune, dass zunächst die Wahl abzuwarten sei und sich danach schon Mehrheiten finden würden, genügt da nicht.

Das Wahljahr begann mit dem kongenialen Schachzug Sigmar Gabriels, auf sein nach einer absehbaren Wahlniederlage ohnehin verlorenes Amt als Parteivorsitzender zu verzichten und stattdessen mit Martin Schulz einen kurz vor der Rente stehenden Zählkandidaten auf den Schild zu heben. Das Modell hatte sich mit Peer Steinbrück bereits 2013 bewährt.

Diesmal hätte Gabriel als Parteivorsitzender selbst antreten müssen, die Wahl sicher verloren und anschließend auf irgendeinem Versorgungsposten ausharren müssen. Da nahm er lieber selbst das Heft in die Hand und sicherte sich mit dem Außenamt einen Ministersessel, auf dem er auch eine weitere Große Koalition überdauern könnte. Mittlerweile muss die Fortsetzung der Großen Koalition schon als Erfolg für die SPD gelten.

Niemand konnte ahnen, dass sich die SPD dermaßen an Schulzbegeisterung besaufen würde, wie sie es Anfang des Jahres tat, als sie ihn mit 100 Prozent der Stimmen ins Amt hievte. Schon damals war klar, dass diese Dramaturgie nicht zu einem erfolgreichen Wahlkampf passen würde. Denn vom Hype der 100 Prozent aus gesehen konnte es nur noch abwärts gehen.

Das Pulver war also schon im zeitigen Frühjahr verschossen. Die fehlende Machtperspektive schlug erstmals im Saarland vernichtend ins Kontor, als die Option R2G als Luftschloss entlarvt wurde. Die Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung der Linken schreckt SPD-Wähler ab, mobilisiert CDU-Wähler und treibt Wechselwähler in die Arme von Angela Merkel.

Es folgten die verlorenen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und NRW. Nun spätestens haftete Martin Schulz ein Verliererimage an, das er kaum wieder loswerden kann. Nach R2G zerstoben auch Rot-Grün (in NRW abgewählt) sowie die Ampelkoalition (die in Schleswig-Holstein nicht zu bilden gelang) als Machtperspektiven der SPD.

Was anschließend in Sachen „Ehe für alle“ geschah, hätte sich wahrscheinlich selbst Angela Merkel nicht träumen lassen. Zunächst legte Volker Beck den Grünen ein vergiftetes Abschiedsgeschenk ins Nest, als er diese an sich völlig unbedeutende Frage zur Koalitionsbedingung erklären ließ und damit zunächst die schwarz-grüne Option beschädigte.

Als FDP und schließlich die SPD nachzogen, schien endlich ein Wahlkampfthema gefunden, das Wähler gegen die CDU mobilisieren könnte, die als Blockierer dazustehen schien. Flugs erklärte Angela Merkel das Thema zur Gewissensfrage und entschärfte so diese Bombe. Trotzdem wäre das Thema im Wahlkampf auf der Agenda geblieben, wenn die SPD nicht wieder einmal Merkel in die Falle gegangen wäre.

So räumte die SPD nicht nur ein Wahlkampfthema ab, sie tat es auch noch auf die ungeschickteste Art, die denkbar war. In der letzten Sitzung vor der Sommerpause stimmte sie mit Linken und Grünen gegen die CDU, um das Thema auf die Tagesordnung setzen zu können, und bescherte so der Union unverhofft die Gelegenheit, im Wahlkampf glaubhaft vor R2G warnen zu können.

Auch im Bund ist damit ein Thema gefunden, das im Saarland bereits funktioniert hat: Wer nicht riskieren will, von den Linken regiert zu werden, der wählt besser nicht SPD oder Grüne. Beide Parteien werden damit effektiv auf ihre Stammwählerschaft reduziert. Dümmer geht es nicht.

Nun stochert Martin Schulz mit diversen Programmen im Sommerloch herum, ohne ein zündendes Thema für den Wahlkampf zu finden. Er ist längst selbst beschädigt, hat keine realistische Machtperspektive und kann nicht erklären, warum ein Machtwechsel angebracht sein sollte.

Und was heißt hier Machtwechsel? Die SPD war in den letzten 19 Jahren insgesamt 15 Jahre an der Regierung beteiligt. In den letzten vier Jahren konnte sie große Teile ihres Programms durchsetzen, auch ohne den Kanzler zu stellen. Warum daran etwas ändern?

Inzwischen wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es im Herbst für eine schwarzgelbe Koalition reichen könnte. Schwarz-Grün wäre dann vermutlich auch möglich, ist aber unwahrscheinlich – diese Chance haben die Grünen vor vier Jahren vertan. Es kann sogar sein, dass es am Ende zur absoluten Mehrheit für die CDU/CSU kommt.

Denn keine der vier kleinen Parteien (Linke, Grüne, FDP und AfD) ist wirklich sicher im nächsten Bundestag vertreten. Kämen nur zwei oder gar nur eine von ihnen ins Parlament, dann würden etwa 40 Prozent für die CDU zur absoluten Mehrheit genügen, da die SPD mit um die 24 Prozent weit genug entfernt ist. In 16 Prozentpunkten Abstand ist Platz für zwei kleine Parteien, auch ohne dass es eine Mehrheit gegen die CDU/CSU geben würde.

Allem Anschein nach genügt es, auf Fehler der SPD zu warten, um Wahlen zu gewinnen. Die Fehler der SPD allein im Jahr 2017 reichten wahrscheinlich, um mehrere Wahlen zu verlieren.

Lagertheorie und Lagerwahlkampf

Zuletzt habe ich mich an dieser Stelle über binäres Denken und die zunehmende Polarisierung beschwert. Doch wie fast alles im Leben hat auch die Polarisierung zwei Seiten.

Ich kann mich noch gut an den Bundestagswahlkampf 1976 erinnern. Damals war ich sieben Jahre alt und großer Fan von Bundeskanzler Helmut Schmidt. „Freiheit statt Sozialismus“ lautete seinerzeit der zentrale Slogan der CDU. Bei der CSU hieß die Formulierung „Freiheit oder Sozialismus“. Das waren doch mal Alternativen.

Political_chart_DEMan kann sich das heute vielleicht nur noch schwer vorstellen, aber wir hatten Mitte der 70er ein Dreiparteiensystem aus CDU/CSU, SPD und FDP. Die SPD war wie heute im linksautoritären Feld positioniert, die FDP seit Beginn der sozialliberalen Koalition in meinem Geburtsjahr 1969 im linksliberalen Feld. CDU/CSU deckten die beiden rechten Politikfelder ab. Dank eines Bundeskanzlers, der auch bürgerliche Wähler ansprach, und der rechtsliberalen Restbestände in der Wählerschaft der FDP hatten SPD und FDP zusammen eine knappe Mehrheit gegen CDU/CSU.

„Freiheit statt Sozialismus“ war als Slogan ganz klar auf jene Wähler der Mitte gemünzt, die sich mit dem linksliberalen Projekt (das damals nicht so hieß) gerade wegen seines linksautoritären Übergewichts nicht anfreunden konnten. Fast hätte es zu einer Mehrheit für den Kanzlerkandidaten Helmut Kohl gereicht. Die Polarisierung war damals ähnlich krass wie heute, und es ging ja auch um etwas. Dieser Slogan brachte das ganz gut auf den Punkt, auch weil sich die SPD damals wie heute zu einem gewissen Demokratischen Sozialismus bekannte.

Nach 1989 brachte dieses Bekenntnis die SPD zunehmend in Schwierigkeiten, als sich eine weitere Partei mit den gleichen drei Buchstaben in anderer Reihenfolge etablierte, die sich ebenfalls dazu bekannte. Gerhard Schröder musste seinerzeit, Ende der 90er, um seine Partei regierungs- und mehrheitsfähig zu machen, weit in die bürgerliche Mitte rücken und die „Neue Mitte“ ausrufen. Linke Wähler zog damals die PDS ab, die wiederum keine Machtperspektive zur Ablösung der Regierung Kohl bot.

Als die SPD 2005 den Mittekurs Schröders nicht mehr mittragen wollte, war seine Kanzlerschaft beendet. Da sich in einem Fünfparteiensystem nicht mehr ohne Weiteres Zweiparteienkoalitionen bilden lassen, kam es damals zu einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Kanzlerin Angela Merkel. Das war im Prinzip eine Mitte-Links-Koalition.

In den 80ern hatte Heiner Geißler als Generalsekretär der CDU die Lagertheorie entwickelt. Das Parteiensystem hatte sich damals durch das Erscheinen der Grünen zum Vierparteiensystem erweitert. Die FDP war mit ihrer Wende 1982 ins bürgerliche Lager gewechselt und hatte Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt. Das linke Lager bestand damit aus SPD und Grünen, das rechte, bürgerliche Lager aus CDU/CSU und FDP. Der Lagertheorie zufolge musste es darum gehen, Wählerstimmen der Mitte für das eigene Lager zu gewinnen, statt Stimmen innerhalb des eigenen Lagers zu verschieben, was ein Nullsummenspiel wäre.

Wir sehen hier ein Muster. Polarisierung dient letztlich dazu, die Mitte zu gewinnen und die Frontlinie von dort ins jeweils gegnerische Lager zu verschieben. Was heißt das nun für die gegenwärtige politische Situation? Bei der Bundestagswahl 2013 ist das Parteiensystem durch das Scheitern der FDP auf vier Parteien geschrumpft. Da auch die AfD nicht in den Bundestag einzog, sind nun drei linksautoritäre Parteien und eine Partei der Mitte im Parlament vertreten.

Diese Konstellation bildet das Wählerspektrum nur unvollkommen ab, zumal auch die Merkel-CDU stark sozialdemokratisiert erscheint und von den Wählern inzwischen als linke Partei wahrgenommen wird. Es gibt also im Bundestag ein Mitte-Links-Lager, das die Regierung stellt, und eine schwache linke Opposition. Die stärkere Opposition befindet sich außerhalb des Parlaments und nennt sich kongenial Alternative für Deutschland.

Diese Situation erklärt, dass wir momentan eine Lagerbildung zwischen Mitte-Links-Parlament einerseits und einer außerparlamentarischen Opposition andererseits sehen. Eine solche Situation gab es in der deutschen Nachkriegsdemokratie zuletzt 1968, damals allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Es regierte das Kabinett Kiesinger mit Willy Brandts SPD als Juniorpartner der ersten Großen Koalition. Die parlamentarische Opposition war schwach und bestand nur aus der damals noch rechtsliberalen FDP.

Die SPD konnte seinerzeit das linke Aufbegehren nicht aufnehmen, da sie selbst an einer Regierung mit deutlichen rechtsautoritären Anteilen beteiligt war. Im Unterschied zu heute war damals allerdings nur ein politischer Sektor unbesetzt, der linksliberale nämlich. Diese Lücke konnte die FDP mit ihrem ersten Wendemanöver hin zur linksliberalen Koalition im Jahr 1969 füllen. Es sollte dann noch ein Jahrzehnt bis zur Gründung der Grünen und damit zur vollständigen Integration der 68er ins parlamentarische System dauern.

Aus all dem folgt, dass wir 2017 mit hoher Wahrscheinlichkeit die Rückkehr der FDP in den Bundestag sehen werden. Sie müsste sich schon sehr dumm anstellen, um das brachliegende liberale Wählerpotential nicht wenigstens anzapfen zu können, sodass es für den Sprung über die Fünfprozenthürde reicht. Nun ist allerdings bei der FDP bekanntlich alles möglich, also auch ein erneutes Scheitern, was dann früher oder später zur Herausbildung einer neuen liberalen Partei führen dürfte.

Ebenso wahrscheinlich ist der Einzug der AfD in den Bundestag, sofern sie sich nicht bis dahin selbst zerlegen sollte. Das Resultat wäre ein Sechsparteiensystem, ein viertes Kabinett Merkel – sofern die Kanzlerin die laufende Legislaturperiode im Amt übersteht – und eine Fortsetzung der gegenwärtigen Koalition als der einzig möglichen Zweiparteienregierung. Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün sind unwahrscheinlich, wenn die AfD in den Bundestag kommt.

Für eine linksgrüne Dreierkoalition ist keine Mehrheit zu erwarten. SPD, Linke und Grüne haben sich im linksautoritären Politikfeld eingemauert und sind für Wähler der Mitte eher unattraktiv. Es wird also 2017 zwei Lager mit jeweils drei Parteien geben, doch koaliert wird weiterhin in der Mitte. Was mittelfristig eher zur Stärkung der Oppositionsparteien führen dürfte.

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Binäres Denken

Der linksautoritäre Habitus, der zahllose Diskursverbote zu verhängen trachtet, hat uns ein binäres Denken beschert, früher auch als Schwarz-Weiß-Denken oder Lagerdenken bekannt.

Es gibt nur noch gut oder böse, Freund oder Feind, Gutmensch oder Nazi, richtig oder falsch, politisch korrekt oder Hetze. Für Grauzonen und Zwischentöne ist kein Platz mehr. Schlimmer aber: Es gibt nur noch eine vermeintlich legitime Art zu denken und zu diskutieren, alles andere ist Autobahn.

Political_chart_DEWie konnte es dazu kommen? Zunächst einmal hat die Ausgrenzung des rechten und des liberalen Sektors dazu geführt, dass tendenziell bis zu 75 Prozent aller Wähler sich plötzlich außerhalb des vermeintlich akzeptablen Bereiches wiederfinden.

Auf diese Weise bastelt man sich seinen Rechtsruck selbst. Man erklärt das linksautoritäre Politikfeld zum Dogma und alles andere zur „rechten“ Häresie, und schon befindet man sich im Kampf mit der Mehrheit der Gesellschaft, die erstaunlicherweise nun irgendwie alle zu Nazis geworden sind. So muss man sich in der linksautoritären Wagenburg einmauern wie die Gallier bei Asterix in ihrem Dorf.

Spätestens an dieser Stelle bricht der offene Diskurs ab. Von nun an dominiert Freund-Feind-Denken. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Wer das linksautoritäre Dogma leugnet, ist Nazi. Diese Grenze verläuft inzwischen mitten durch die Gesellschaft und führt zu absurdesten Debatten. Vor allem führt sie aber zu einer grotesken Polarisierung.

Wo normalerweise die Mitte der Gesellschaft ist, verläuft nun eine Kampflinie, die dort nicht hingehört. Abgrenzungen sind an den Rändern der Gesellschaft nötig, und zwar zum Rechts- wie zum Linksfaschismus und zu latent oder offen gewaltbereiten Gruppen. Aber nicht in der Mitte.

Wer hingegen versucht, einen Keil mitten in die Gesellschaft zu treiben, der kann eigentlich nur verlieren. Jedenfalls in einer funktionierenden Demokratie wie der unsrigen. Denn in einer solchen lassen sich allenfalls Minderheiten ausgrenzen (und auch das halte ich für keine gute Idee), nicht aber die Mehrheit.

Binäres Denken muss aber auch deshalb scheitern, weil es die Unterscheidung zwischen Person und Argument aufgibt. Wer dem falschen Lager angehört, der kann sagen, was er will, es kann nur falsch sein. Umgekehrt muss alles richtig sein, was von den richtigen Leuten kommt. Es ist leicht zu erkennen, dass beides nicht stimmen kann.

Ähnlich verhält es sich mit der Zuordnung von Personen zu Lagern. Bestimmte Aussagen führen quasi automatisch zur Einordnung in ein bestimmtes politisches Lager. Damit verbunden ist die Unterstellung, auch andere diesem Lager zugeordnete Aussagen zu teilen. Für differenzierte Positionen bleibt da wenig Platz. Es fehlt an der Bereitschaft, Argumente ohne Ansehen der Person zu betrachten und offen, an der Sache und nicht an vermeintlichen Lagern orientiert zu argumentieren.

Es muss nicht eigens betont werden, wie schädlich dieses binäre Denken für eine freie, demokratische Gesellschaft ist. Es fließt sehr viel Energie in Abgrenzungen und Scheindebatten, in einen Kampf zwischen zwei Lagern, die eigentlich durchlässig wären. Wenn nicht eine lautstarke linksautoritäre Minderheit die Polarisierung vorantriebe.

Man muss nicht alles gut finden, was sich in den vier Sektoren des politischen Feldes bewegt. Keine Frage. Das meiste bewegt sich aber im Rahmen dessen, was in einer Demokratie gedacht und gesagt werden darf.

Und übrigens auch sollte, denn der Ausschluss relevanter Bevölkerungsgruppen und ihrer Themen schadet der Demokratie selbst. Mit außerparlamentarischer Opposition hat dieses Land noch niemals gute Erfahrungen gemacht. Wenn relevante Bevölkerungsgruppen ihre Interessen nicht mehr parlamentarisch vertreten sehen, erodiert die Demokratie.

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Diskursverbote

Was mich am linksautoritären Habitus, der sich seiner selbst nicht bewusst ist, fast am meisten nervt, ist die lange und immer länger werdende Liste von Diskursverboten, die er verhängt. Mehr und mehr Positionen, Publikationen und Publizisten werden auf den Index gesetzt und aus dem legitimen Meinungsspektrum auszugrenzen versucht. Dies verengt die Debatte völlig unnötigerweise und steht in keiner guten Tradition.

Die katholische Kirche kannte bis in die 60er Jahre hinein den Index Librorum Prohibitorum. 1933 wurden in Deutschland Bücher verbrannt, wie auch, ebenfalls im 20. Jahrhundert, in der Sowjetunion. Die katholische Kirche hatte immerhin gute Gründe, nämlich das Seelenheil, was sich von linken und rechten Sozialisten nicht gerade behaupten lässt.

Political_chart_DEHeute trifft es sowohl liberale als auch rechte Positionen, also praktisch alles, was nicht dem links-autoritären Dogma gehorcht oder sich wenigstens noch irgendwie in der ominösen Mitte bewegt. Doch selbst die Mitte ist ein gefährlicher Ort geworden, da zu ihr auch (gemäßigt) rechtsautoritäre, rechtsliberale und linksliberale Anteile gehören.

Am härtesten geht der linksautoritäre Habitus mit profilierten rechtsliberalen Positionen ins Gericht. Das ist klar, weil sich hier auf beiden Achsen Abstoßungsreaktionen zeigen. Dem Linken ist der Rechte nicht geheuer, und dem Autoritären missfällt der Liberale.

Das prominenteste Beispiel dafür ist die Junge Freiheit, zugleich ein gutes Beispiel, weil sie sowohl relativ weit rechts als auch relativ liberal positioniert ist. Diese beiden Positionierungsmerkmale schließen sich tatsächlich nicht aus, auch wenn das linksautoritäre Dogma dafür blind ist.

Dieses Dogma glaubt im Kern an den starken Sozialstaat, dem sich die freie Gesellschaft ebenso unterzuordnen hat wie Recht und Ordnung sowie die freie wirtschaftliche Betätigung der Bürger. Die liberale Idee der Meinungsfreiheit ist dem linksautoritären Dogma ein Greuel, jedenfalls soweit sie andere Meinungen als die eigene betrifft.

Ein typisches liberal-konservatives Blatt ist der Cicero, dem zwischenzeitlich sogar einmal ein Linksruck bescheinigt wurde und der neuerdings eines Rechtsrucks bezichtigt wird. Die taz, die diesen Vorwurf erhebt, ist selbst eher ein Projekt des linksautoritären Habitus mit entsprechendem Standbein, hatte aber immer auch ein linksliberales Spielbein.

The European wird in der englischsprachigen Wikipedia als „moderate“ geführt und hat laut Gründungschefredakteur Alexander Görlach keine eigene politische Position. Obwohl dort regelmäßig rechtsliberale Autoren publizieren, scheint The European bis jetzt noch vom Diskursverbot ausgenommen zu sein – wahrschein­lich, weil dort auch Liane Bednarz zum Autorenkreis zählt. Nicht so das libertäre eigentümlich frei, das als rechtsliberales Blatt zu genau ins Beuteschema des linksautoritären Dogmas passt.

Interessanterweise befindet sich der Rechtsfaschismus ja gerade nicht im rechtsliberalen Politikfeld, sondern stellt das rechtsautoritäre Extrem dar (was wiederum näher am linksautoritären Extrem – dem Linksfaschismus – liegt als es auf den ersten Blick scheint). Weil dem so ist, greift der gern gebrauchte Faschismusvorwurf für das rechtsliberale Politikfeld auch nicht.

Dass er trotzdem gebraucht wird, hat mit mangelnder Differenzierungsfähigkeit entlang der Achse liberal-autoritär ebenso zu tun wie mit der Blindheit des linksautoritären Habitus, der sich seiner selbst nicht bewusst ist. Alles, was nicht ins linksautoritäre Dogma passt, rührt er zu einer einzigen Soße zusammen. Eine sinnvolle Analyse sieht anders aus.

Was auf der autoritäten Seite nicht verstanden und auch anders gehandhabt wird: Wirkliche Liberale lassen auch die Gegenseite zu Wort kommen und bewerten den freien Austausch auch konträrer Meinungen höher als dogmatische Linientreue. Weshalb in rechtsliberalen Blättern eben auch rechtsautoritäre, aber ebenso linke Autoren zu Wort kommen.

Mir persönlich würden zwei Ausschlusskriterien genügen. Da wäre zum einen der Faschismus, aber bitte in beiden Varianten, Links- wie Rechtsfaschismus, also die links- und rechtsautoritären Extreme. Das zweite Kriterium ist die latente oder offene Gewaltbereitschaft, die zum größten Teil wahrscheinlich bereits durch den Ausschluss des Faschismus ausgeschlossen ist.

Mir jedenfalls sind keine gewaltbereiten links- oder rechtsliberalen Extremisten bekannt. Doch wer weiß, ich mag mich irren.

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Die ominöse Mitte

In den letzten Monaten habe ich mich recht intensiv mit dem Politischen Kompass und seiner Anwendung auf die aktuelle politische Situation in Deutschland befasst. Dabei habe ich den vier Feldern jeweils einige Aufmerksamkeit gewidmet. Bis jetzt zu kurz gekommen ist allerdings die Mitte.

Dies verwundert, da dort bekanntlich Wahlen gewonnen werden. Angela Merkel hat die CDU erfolgreich in die Mitte gerückt und damit der SPD die Luft zum Atmen genommen. Die SPD muss im links-autoritären Politikfeld mit der Linken und großen Teilen der Grünen konkurrieren, während die Grünen selbst wiederum in die von Merkel besetzte Mitte drängen.

Political_chart_DEWas ist also diese ominöse Mitte? Die Mitte ist zunächst einmal definiert als Schnittpunkt der beiden Achsen links-rechts und liberal-autoritär. Wer sich politisch in der Mitte positioniert, versteht sich also weder als links noch als rechts und weder liberal noch autoritär. Aber was dann, so möchte man fragen.

Für Deutschland trifft wohl am ehesten der Begriff Soziale Marktwirtschaft auf diese Mitte zu. Sie vereint das eher links-autoritäre sozialstaatliche Umverteilungsmoment mit der eher rechts-liberalen freien Marktwirtschaft, die aber einer rechts-autoritär gedachten staatlichen Regulierung bedarf, ohne jedoch die links-liberal verstandene freie Gesellschaft unnötig einzuengen.

Das klingt wie das katholische „et-et“ (sowohl – als auch), eines der Grundprinzipien katholischen Denkens. So gesehen hat im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft jedes der vier Felder seine eigene Berechtigung, ohne die jeweils anderen ausschließen zu wollen. Die Mitte ist, dialektisch gedacht, quasi die zweidimensionale Synthese der beiden politischen Grundwidersprüche.

Für den Regulierungsgedanken gibt es den selbst wieder schillernden Begriff des Ordoliberalismus, der sich nicht leicht auf ein einzelnes Politikfeld festlegen lässt. Kerngedanke der sozialen Marktwirtschaft ist jedenfalls, dass der Staat sowohl den Ordnungsrahmen für die Wirtschaft setzen als auch für einen gewissen sozialen Ausgleich sorgen muss, ohne die freie wirtschaftliche Betätigung der Bürger unnötig einzuschränken.

Die so verstandene Mitte ist zahlreichen Gefährdungen ausgesetzt. Die autoritäre Gefahr ist eine mögliche Übermacht des Staates, der Gesellschaft und Wirtschaft stranguliert. Die liberale Gefahr ist eine Schwächung des Staates, die seine Aufgaben beeinträchtigt. Die linke Gefahr ist eine überbordende Umverteilung, die zulasten der wirtschaftlichen Entwicklung geht. Und die rechte Gefahr ist eine Überbetonung der Wirtschaft, die zulasten der wirtschaftlich Schwachen geht.

Die Mitte ist der Ort zahlloser Kompromisse, die widerstreitende Interessen ausbalancieren. Sie ist kein Ort für Links- oder Rechtsradikale, für autoritäre oder liberale Extremisten. Wenn sich die Verteilung der Wähler entlang der beiden Achsen jeweils in Form einer Gaußkurve bewegt, dann ist in relativer Nähe zur Mitte die große Mehrheit aller Wähler zu finden.

Volksparteien müssen sich daher in der Mitte aufhalten. Je mittiger die größte Partei positioniert ist, umso schwieriger wird es für andere Volksparteien. Um sich zu unterscheiden, müssen sie von der Mitte wegrücken. Dadurch verlieren sie allerdings Wähler. Sich ebenfalls mittig zu positionieren, führt zum Verlust des eigenen Profils.

Was diese Zwickmühle bedeutet, ist derzeit gut am Beispiel der SPD zu besichtigen. Auch die Grünen laufen mit einem Kurs Richtung Mitte Gefahr, ihr Profil zu verlieren. Doch für die Grünen wären 20 Prozent der Wählerstimmen ein großer Erfolg, während der gleiche Wert für die SPD nahezu einer Katastrophe gleichkommt.

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Der linksautoritäre Habitus

Es gibt einen linksautoritären Habitus, der sich seiner selbst nicht bewusst ist. Um ihn zu verstehen, ist noch einmal ein Blick auf den Politischen Kompass nötig. Diskurspolitisch verbinden sich im linksautoritären Habitus die Ausgrenzung des rechten und des liberalen Sektors gleichermaßen. Damit bleibt der linksautoritäre Sektor als einzig legitimes Politikfeld übrig.

Political_chart_DEDer rechte Sektor wird durch eine Gleichsetzung ausgegrenzt, die nicht mehr zwischen konservativ, rechts, rechtspopulistisch, rechtsradikal oder rechtsextrem unterscheidet. Alles rechts der Mitte gilt pauschal als „rechts“, und rechts heißt mindestens rechtspopulistisch, eher aber rechtsradikal und rechtsextrem. Die alte Unterscheidung gilt nicht mehr, nach der es die latente oder offene Gewaltbereitschaft war, die zum Ausschluss aus dem legitimen politischen Spektrum führte.

Ähnliches gilt für den liberalen Sektor. Hier fungiert der Neoliberalismus als Vehikel, um liberale Ideen per se zu verdammen. Angesichts einiger Auswüchse des Neoliberalismus ist die Kritik daran zwar verständlich und legitim. Allerdings überzieht der Diskursausschluss, indem er zum Beispiel geflissentlich übersieht, dass auch der Neoliberalismus nur eine Gegenbewegung zum starken Ausbau des staatlichen Sektors war. Dieser Ausbau geschah in den 70er Jahren als Antwort auf die Wirtschaftskrise.

Diese Pauschalisierung und Polarisierung hat sehr viel Raum für neue politische Parteien geschaffen. Das Spektrum der etablierten Parteien ist praktisch im linksautoritären Sektor plus der Mitte zusammengeschnurrt. In der liberalen Hälfte des politischen Feldes irrlichtert einsam die parlamentarisch nur schwach vertretene FDP umher, in der rechten Hälfte irrlichtert ebenso und ebenso einsam die AfD herum, die ursprünglich als rechtsliberales Projekt gestartet war und zwischenzeitlich ihren rechtsautoritären Flügel gestärkt hat.

Zur besonderen Ironie der Lage gehört, dass sich der linksautoritäre Habitus seines autoritären Gestus gar nicht bewusst ist, sondern „autoritär“ einseitig mit dem rechtsautoritären Sektor zu verbinden sucht. Dies macht blind dafür, dass die Einengung des akzeptablen politischen Raumes auf den linksautoritären Sektor selbst eine autoritäre Figur des Denkens und Handelns ist. Sie kann sich sogar antiautoritär geben, obwohl sie dies gerade nicht ist. Denn antiautoritär wäre ja liberal.

Diese Analyse fußt auf der Akzeptanz des Politischen Kompasses und damit der These, dass die Achse links-rechts orthogonal zur Achse liberal-autoritär steht. Wer hingegen links pauschal mit liberal gleichsetzt und rechts mit autoritär, wird meinem Argument nicht folgen können. Er hat dann allerdings das Problem, wie er die Ablehnung des Neoliberalismus erklären kann.

Dies kann dann wohl nur mit einer Argumentationsfigur der Uneigentlichkeit geschehen, der zufolge der Neoliberalismus kein wirklicher Liberalismus wäre, sondern eine Perversion des Liberalismus. Eine solche Argumentation scheint mir allerdings wenig haltbar zu sein. Ich würde den Neoliberalismus eher im rechtsliberalen Politikfeld ansiedeln.

Rechts- wie linksautoritäre Politik eint ihr Ruf nach einem starken Staat. Sie unterscheidet nur, was als vorrangige Staatsaufgabe angesehen wird. Während rechtsautoritäre Politik eher auf Recht und Ordnung besteht, verlangt linksautoritäre Politik nach mehr Sozialstaat und Umverteilung des Wohlstands.

Rechts- und linksliberale Politik eint hingegen ihr Misstrauen gegenüber einem übermächtigen Staatswesen. Während rechtsliberale Politik eher auf die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung setzt, fordert linksliberale Politik eher eine freie Gesellschaft, die weder durch den Staat noch durch die Wirtschaft dominiert werden soll.

In einer lebendigen Demokratie sind alle vier Felder parlamentarisch vertreten und ringen gemeinsam um Wählerstimmen sowie um politische Lösungen. So gesehen ist die Entstehung der AfD eher eine gesunde Reaktion auf die Räumung des rechten Sektors durch die CDU/CSU. Eine Neubesetzung des liberalen Sektors hingegen, den die FDP zuletzt praktisch verwaisen ließ, steht einstweilen noch aus.

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Die EU, die Briten, die Demokratie und das liebe Geld

Als Katholik glaube ich ja nicht an die Demokratie. Deshalb kann ich mir auch andere Regierungsformen vorstellen. Als Politikwissenschaftler staune ich allerdings über die Stabilität der Nachkriegsdemokratie in Deutschland. Die bisherigen großen Verwerfungen (1968/77 und 1989/90) hat sie gut verarbeitet, und auch für die Verarbeitung der Verwerfung von 2015ff. stehen die Chancen gut.

Die Briten jedoch bewundere ich für die Stabilität ihres politischen Systems, das schon so einiges weggesteckt hat. Ich denke, dass diese Stabilität auch mit der Monarchie zu tun hat. Die Queen symbolisiert quasi die Einheit des Königreiches in Raum und Zeit. So ein EU-Referendum ist angesichts der britischen Geschichte nicht viel mehr als eine Fußnote.

Den britischen Wählern, jedenfalls einem signifikanten Teil jener 52 Prozent, die sich für den Brexit ausgesprochen haben, wird nun vorgeworfen, in Unkenntnis wichtiger, entscheidungsrelevanter Fakten entschieden zu haben. Was sind denn das, einmal abgesehen von den hinlänglich bekannten und diskutierten Zahlungen an die EU, für Fakten, deren Kenntnis die britischen Wähler vermissen ließen, die aber unbedingt hätten bekannt sein müssen?

Geht es um mehr oder weniger detaillierte Kenntnisse des politischen Systems der EU? An diesem System lässt sich völlig zu Recht bemängeln, dass es an einer wirklichen Gewaltenteilung fehlt. Europäische Legislative und Judikative sind unterentwickelt, die Exekutive wird von den Regierungen der Mitgliedsstaaten dominiert. Das lässt nach wie vor viel zu wünschen übrig. Demokratiedefizit lautet seit Jahrzehnten das Stichwort.

Die europäische Währung ist in der Summe kein Erfolgsprojekt, und Großbritannien ist daran ebenso wenig beteiligt wie an Schengen. Die beiden wirklichen Erfolgsprojekte, Schengen und der Binnenmarkt, sind beide nicht an eine EU-Mitgliedschaft gebunden. Großbritannien wird auch nach dem Austritt Teil des Europäischen Wirtschaftsraumes bleiben.

Ich komme immer wieder auf die Nettozahlereigenschaft Großbritanniens zurück. Die Leave-Kampagne hat hier offensichtlich einen Nerv getroffen, das zeigen die zahlreichen bellenden Hunde. Übrigens ist das auch ein echtes Problem für die EU, denn wer soll eigentlich die nach einem Brexit fehlenden Mittel aufbringen? Oder muss etwa der EU-Haushalt massiv gekürzt werden?

Die EU müsste mal erklären, wozu sie eigentlich gut ist. Dies scheint vielen EU-Bürgern nicht mehr so recht einleuchten zu wollen. Bei Lichte besehen ist es eher erstaunlich, dass immerhin 48 Prozent der britischen Wähler in der EU bleiben wollten.

Der Brexit und die Demokratie

Politische Entscheidungen sind keine Sachentscheidungen, sondern Wertentscheidungen. Es gibt dafür keine fachlich richtigen Lösungen, sondern politische Fragen müssen politisch entschieden werden.

Eine Mehrheitsentscheidung ist dafür ein mögliches Verfahren, sei es in der direkten oder in der parlamentarischen Variante. Alternativen sind Monarchie oder Diktatur. Eine Technokratie, also eine Form der Expertenherrschaft, liegt näher an der Diktatur als an der Demokratie.

Die Entscheidung über den Verbleib in der EU ist eine klassische Wertentscheidung, die sich durch zwei klare Varianten auch gut für einen Volksentscheid eignet. Es ist die Frage nach dem höheren Wert: Ist es die EU und damit der Verbleib in derselben oder die relative Unabhängigkeit, wie sie zum Beispiel auch die Schweizer oder die Norweger gewählt haben? Die Folgen dieser Entscheidung sind dann letztlich zweitrangig und außerdem selbst wieder politisch zu gestalten.

In einer funktionierenden westlichen Demokratie sind Sachentscheidungen vorrangig Sache der Verwaltung. Die stellt fest, ob bestimmte Sachverhalte gegeben sind, und setzt entsprechendes Handeln in Gang. Die Regeln dafür bestimmt die Legislative, und die Judikative überprüft, ob alles mit rechten Dingen zugeht.

Politische Entscheidungen sind demgegenüber im Kern gerade keine Sachentscheidungen, sondern quasi Meta-Entscheidungen: über Grundsätze, über Regeln, über Werte, die gelten sollen. Deshalb ist die Legislative der eigentliche Ort des Politischen. Die Exekutive hat das Ergebnis demokratischer Willensbildung auszuführen.

Im konkreten Fall des Brexit war an jener umstrittenen Zahl der Netto-Überweisung letztlich nicht entscheidend, wie hoch sie nun genau ist. Sondern entscheidend ist, dass Großbritannien zu den Nettozahlern der EU gehört. Und es ist eine absolut legitime Frage, ob dieses Geld des britischen Steuerzahlers eigentlich gut investiert ist oder besser, zum Beispiel, ins einheimische Gesundheitswesen fließen sollte.

Das ist letztlich keine Sachentscheidung, sondern eine politische Entscheidung und wurde auch als solche verstanden. Ich bin wirklich überrascht über die zahlreichen Versuche, der Wählermehrheit mangelnde Kenntnis zu unterstellen. Ich finde es auch ziemlich arrogant, nun so zu tun, als habe es nur einer besseren Kenntnis allerlei vermeintlicher oder tatsächlicher Fakten bedurft, um zu einer anderen Entscheidung zu kommen.

Die Mehrheit der Briten hat entschieden, dass sie der EU in ihrer heutigen Form nicht länger angehören wollen und stattdessen einen Verhandlungsprozess mit ungewissem Ausgang, aber sicherem Ende der EU-Mitgliedschaft beginnen wollen. Da Großbritannien Nettozahler ist, wird in jedem Fall kein Geld mehr nach Brüssel fließen. Das ist durchaus eine legitime politische Entscheidung, ob man sie nun gutheißt oder nicht.

Irgendwie ist Demokratie zwar ganz nett, aber nur, solange die Ergebnisse stimmen? Da wäre mal eine Entscheidung angebracht, ob nun die Bürger selbst über ihre ureigenen Belange entscheiden sollen oder ob das nur Menschen dürfen, die sich hinreichend mit wirklichen oder vermeintlichen Fakten vertraut gemacht haben.

Auf der Suche nach den Linksliberalen

Gibt es eigentlich eine linksliberale Partei in Deutschland? Der Politische Kompass mit seinen vier Feldern legt die Vermutung nahe, dass sich im linksliberalen Feld etwa ein Viertel aller Wähler aufhalten. Aber welche Partei ist dort klar positioniert?

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Die FDP ist nicht im Bundestag vertreten. Die SPD ist zwar nicht so autoritär wie die Linke, aber nicht gerade liberal. Die Grünen oszillieren je nach Thema und Parteiflügel zwischen autoritär und liberal, zum Teil sogar rechts (sic!), da konservativ.

Es bleibt die CDU, die zwar von den Wählern als links der Mitte wahrgenommen wird — aber wird sie auch als liberal betrachtet? Zum Teil vielleicht, aber sicher nicht durchgängig. Und für die CSU gilt dies in etwa ebenso.

In der Konsequenz sind also drei von vier Feldern des Politischen Kompasses derzeit quasi unbesetzt oder Spielfeld von FDP und AfD, während sich alle etablierten Parteien im links-autoritären Feld oder eben in der Mitte bewegen, also weder ausgeprägt autoritär noch besonders liberal erscheinen. So gesehen liegt das Wählerpotential für AfD, FDP und eventuelle andere, mehr oder weniger neue Parteien bei bis zu 75 Prozent. Das passt auch zu einer Umfrage, derzufolge fast drei Viertel der Befragten die etablierten Parteien für realitätsfremd halten.

Von diesen drei Vierteln, die den theoretischen Höchstwert bilden, sind die Wähler der Mitte abzuziehen, die von CDU/CSU, SPD und Grünen gebunden werden können. Das dürften schon noch einige Wähler sein. Allerdings war die Wahl des österreichischen Bundespräsidenten in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Es bedurfte einer ungeheuren Kraftanstrengung praktisch aller Parteien gegen eine, nur um einen hauchdünnen Vorsprung zu gewinnen.

Der grüne Kandidat war quasi das letzte Aufgebot gegen die FPÖ, die aus den unbesetzten Feldern rechts-autoritär, rechts-liberal und wahrscheinlich sogar links-liberal fast eine Mehrheit gewinnen konnte, während die Allianz des links-autoritären Politikfeldes inklusive der Reste jener einst dominanten Mitte dies nur mit Ach und Krach zu verhindern wusste.

Mit anderen Worten: Wenn praktisch das gesamte Parteienspektrum im links-autoritären Feld zusammenschnurrt und die anderen drei Felder mehr oder weniger freigibt, dann ist — zumal in einem Land mit quasi struktureller bürgerlicher Mehrheit — der Weg frei für neue Mehrheiten jenseits aller etablierten Parteien. Dass es einer einzelnen Partei wie der AfD oder der FPÖ gelingen wird, eine absolute Parlamentsmehrheit zu gewinnen, ist zwar unwahrscheinlich, aber eben auch nicht unmöglich.

Grafik: Church of emacs (Lizenz)