Mit Folklore ist keinem gedient

Ein Kommentar zu meiner jüngsten Notiz stellt die Vermutung auf, es ginge darum,

irgendeine noch undefinierte Form zu suchen, „diese Leute loszuwerden“.

Nichts liegt mir ferner. Nun ist es zwar so, dass diese Leute de facto schon verloren sind, und zwar je nach Lesart entweder als zukünftig noch Kirchensteuer zahlende Kunden oder auch als gläubige Christen und Katholiken. Niemand wird auf Dauer für eine Leistung teuer bezahlen, die er kaum oder gar nicht in Anspruch nimmt. Deshalb befindet sich der Kulturkatholizismus seit mindestens Jahrzehnten in einer langsamen, aber stetigen Abwärtsspirale. Doch dies betrifft nur die zeitliche Organisationsform, die immer im Wandel ist und sein muss.

Schwerer wiegen die Konsequenzen für das Seelenheil. Statt diesen Leuten wirklich zu dienen, geben wir ihnen häufig Steine statt Brot. Mit Folklore ist ihnen nämlich nicht gedient. Es ist und bleibt zwar richtig, dass die Sakramente ex opere operato wirken, doch was nützt eine bestenfalls sporadische Sakramentenpraxis ohne Kohärenz, und hier insbesondere ohne Beichte? Wer also unwürdig von dem Brot isst und aus dem Kelch des Herrn trinkt, macht sich schuldig am Leib und am Blut des Herrn. (1 Kor 11,27)

Die Kirche dient den Kulturkatholiken nicht, indem sie ein folkloristisches Beiwerk zu einem ansonsten gottlosen Leben liefert. Sie muss stattdessen das Wort verkünden und dafür eintreten, ob man es hören will oder nicht. Den Kirchensteuerzahlern nach dem Munde zu reden und ihnen, koste es was es wolle, ihre Wünsche zu erfüllen, ist keine Lösung. Es ist weder nachhaltig noch dient es dem Seelenheil.

Deshalb ist es kein Fehler, die derzeitige Praxis zu beenden, um die freiwerdenden Kräfte und Mittel anderweitig einzusetzen. Als Orientierung sollte dabei dienen, zu fördern, was wächst. Was schrumpft und zusammenbricht, muss nicht künstlich am Leben erhalten werden. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Kulturkatholizismus

Wie erklärt sich eigentlich, dass die große Mehrzahl der Katholiken nur sehr punktuell am kirchlichen Leben teilnimmt? Das beginnt schon mit der Taufe. Nicht alle Kinder katholischer Eltern werden getauft, aber doch erheblich mehr als nur die Kinder der regelmäßigen Kirchgänger. Nicht alle katholisch getauften Kinder gehen zur Erstkommunion, aber doch die meisten, auch wenn sie weder vorher noch nachher am Gemeindeleben teilnehmen. Viele von ihnen lassen sich als Jugendliche firmen, obwohl sie seit der Erstkommunion nur selten eine Kirche von innen gesehen haben. Und selbst der Wunsch nach einer kirchlichen Hochzeit, zwar generell rar geworden, führt immer noch Katholiken in die Kirche, die sonst höchstens zu Weihnachten und eventuell noch Ostern dort erscheinen.

Warum tun die das? Meine Vermutung ist, dass es sich hier um ein Phänomen handelt, das im angelsächsischen Raum als Cultural Catholicism beschrieben wird. Der kaum geläufige deutsche Begriff dafür lautet Kulturkatholizismus. Es handelt sich um katholisch getaufte und aufgewachsene Menschen, die ihren Glauben nicht oder nur eingeschränkt praktizieren, die zum Teil auch gar nicht mehr glauben, aber sich weiterhin als katholisch bezeichnen, in Deutschland in der Regel auch Kirchensteuer zahlen und zu verschiedenen Gelegenheiten kirchliche Dienstleistungen wie Taufe, Erstkommunion, Firmung, Hochzeit, Beerdigung oder den feierlichen Gottesdienst zu Weihnachten in Anspruch nehmen. Gemessen an der Differenz zwischen der Zahl regelmäßiger Kirchgänger und der Zahlen der Täuflinge, Erstkommunionkinder und Firmlinge, was selbstverständlich nur ein grobes Indiz sein kann, handelt es sich hier um einen großen Markt.

Mit anderen Worten: Der Kulturkatholizismus ist in Deutschland eigentlich die vorherrschende Strömung innerhalb des Katholizismus. Es handelt sich um den Rest der einstigen Volkskirche. Zu den Kerninhalten des katholischen Glaubens verhält sich der Kulturkatholizismus bestenfalls indifferent, häufig aber offen ablehnend. Anekdotischer Beweis: Es gibt Firmbewerber, die nicht an die Auferstehung Christi glauben. Das sind nicht einmal wenige. Der Kulturkatholizismus dürfte auch innerhalb der kirchlichen Apparate inzwischen die Mehrheit erreicht haben, was für viele Phänomene jedenfalls eine plausible Erklärung ist, die nicht auf bösen Willen rekurriert, sondern auf Unwissenheit und Indifferenz.

Der Kulturkatholizismus hat sich von der ihn umgebenden Mehrheitskultur absorbieren lassen und vom Katholizismus nur den folkloristischen Teil behalten. Wo die katholische Lehre im Konflikt zur Mehrheitskultur steht, da steht der Kulturkatholizismus sicher auf Seiten der Mehrheit. Der Fairness halber muss hinzugefügt werden, dass der Kulturkatholizismus auch unter regelmäßigen Kirchgängern weit verbreitet sein dürfte und umgekehrt auch unter Heiligabendchristen und anderen sporadischen Kirchenbesuchern noch gläubige Christen zu finden sind.

Diese Situation stellt die Kirche vor ein nahezu unlösbares Dilemma. Es ist klar, dass der Kulturkatholizismus mittel- und langfristig keine Zukunft hat, die über den Status folkloristischen Beiwerks zu einem ansonsten gottlosen Leben hinausgehen würde. Zudem überfordert die Anspruchshaltung der Kulturkatholiken schon heute die ausgedünnten und überalterten Kerngemeinden wie auch die hauptamtlichen Apparate. Eine schöne Taufe, Erstkommunion, Firmung, Hochzeit, Beerdigung oder Messe zu Weihnachten ist auf Ressourcen angewiesen, die der kirchensteuerfinanzierte Apparat nicht selbst herstellen kann. Die Qualität des Angebots lässt nach, und damit sinkt auch die Nachfrage. Auf der anderen Seite lässt sich der Riesentanker Kirche hier kaum umsteuern, ohne in schärfste Konflikte mit seinen Kirchensteuer zahlenden Kunden zu geraten.

Es wird schwer werden, dieses Phänomen auch nur offen zu diskutieren. Alle relevanten Kulturkatholiken, die also an entsprechenden Schaltstellen sitzen, werden die Diagnose auf das Schärfste zurückweisen und wie gewohnt ins Wolkige ausweichen, sobald es ans Eingemachte geht. Die gängigen Leerformeln sind seit Jahrzehnten gelernt und bestens bekannt. Im Kern heißt ihre Devise auch nur: Weiter so. Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Dabei ist eine Rückwärtsbewegung ohnehin so gut wie ausgeschlossen. Es kann im Grunde nur um einen Neubau gehen. Ob der Kulturkatholizismus vorher erst zusammenbrechen muss oder ob auch schon früher mit dem Neubau begonnen werden kann, bleibt abzuwarten. Ein Umbau, eine echte Re-Formation, wäre nur um den Preis echter Umkehr zu haben.