In letzter Zeit ist mir noch klarer geworden, was ich schon länger ahnte, ja eigentlich wusste: Die hiesige Kirche hat ein Führungsproblem, und zwar ein gewaltiges. Es handelt sich, und das ist der neue Teil dieser Erkenntnis, um ein systemisches Problem. Was insbesondere heißt, dass dieses Führungsversagen nicht in erster Linie einzelnen handelnden Personen anzulasten ist.
An dieser Stelle ist ein Hinweis auf ein sehr gelungenes Blogprojekt mit dem Namen Kirchenentwicklung angezeigt. (Nebenbei sagt es übrigens auch einiges aus, dass diese Domain offensichtlich noch 2015 zu haben war. Aber das steht auf einem anderen Blatt.) Einen der Autoren dieses Blogs kenne und schätze ich aus der Zeit meiner Ausbildung zum Diakon, und im Unterschied zu mir hat er die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen und ist heute Diakon.
Das Blog pflegt einen systemisch orientierten Blick auf den derzeitigen Stand der Kirchenentwicklung in Deutschland. Was dort geschrieben wird, ist sprachlich relativ weit entfernt vom üblichen Pastoraljargon, der ja auch, geben wir es ruhig zu, nur schwer erträglich ist. Mir ist schon klar, dass dort ebenfalls ein Jargon kultiviert wird, nur halt ein anderer – in diesem Fall eben der Jargon der Organisationsberatung. Das schafft jedoch einen gewissen Verfremdungseffekt und dadurch frische Erkenntnis.
Dass und warum die hiesige Kirche ein Führungsproblem hat, ist mir bei der Lektüre des Buches „Exponential“ von Dave und Jon Ferguson aufgefallen. Die Autoren sind amerikanische Freikirchler, was so seine Vor- und Nachteile hat. Sie beschreiben jedenfalls Führung als einen sehr systematischen, also systemischen Prozess. Schon auf der, einmal abgesehen von der Familie, kleinsten Ebene der Gemeindebildung, nämlich in den small groups, gibt es Führung und Führungspersonen, weil es sie geben muss. Das setzt sich dann über alle Ebenen hinweg fort, und dabei denken die Fergusons alles andere als klein. Im Gegenteil, wie der Name des Buches schon anzeigt, geht es hier um sehr große Strukturen und entsprechende Ambitionen.
Einen weiteren Hinweis in die gleiche Richtung bekam ich aus Episode 87 des exzellenten Rebuilt Podcast. Tom Corcoran spricht in dieser Folge mit Matt Manion, dem Direktor des Catholic Leadership Institute. Dieses Institut hat sich der Ausbildung von Führungskräften für die katholische Kirche verschrieben. Diese Führungskräfte sind zunächst einmal Bischöfe und Priester. Wir kommen ja historisch aus einer sehr stark hierarchisch geprägten Führungskultur. Diese Kultur ist etwa seit dem II. Vatikanischen Konzil einigermaßen erodiert, ohne jedoch eine stabile und funktionale neue Führungskultur hervorzubringen.
Ich habe manchmal den Eindruck, dass nun jeder – Bischof, Priester, Laie, vielleicht auch der Papst – tun kann, was er will, und das zum Teil auch tut. Das Resultat ist Chaos, Verwirrung und Verfall. Alte Strukturen lösen sich auf, ohne dass neue Strukturen entstehen würden. Systemisch betrachtet ist das ein Desaster, weil es eben auch die einzelne handelnde Person innerhalb des erodierenden Systems strukturell überfordert. Strukturen und Führung entlasten ja gerade den Einzelnen von Entscheidungen, die er nicht zu treffen hat. Gleichzeitig legen sie fest, was von wem zu entscheiden ist.
Wir haben noch eine schwache Ahnung, dass Führung auf jeder Ebene gefordert ist. Es gibt noch Gruppenleiter für Gruppen aller Art, es gibt Führungsgremien mit Namen, die auf -rat oder -vorstand enden und Vorsitzende haben. Doch was fehlt, ist ein durchgängiges Verständnis von Führung. Besonders krass fällt mir dieses Fehlen in den Lokalen Leitungsteams auf. Der Begriff enthält ja drei Elemente: Lokal ist zunächst ganz schlicht der jeweilige Ort des Handelns, also meistens die Gemeinde, die nun nicht mehr wie früher mit der Pfarrei zusammenfällt. Leitung ist ein anderes Wort für Führung, doch was genau da wie geleitet werden soll, erscheint eher unklar. Geht es um einen Ersatz für den nicht mehr vorhandenen Pfarrer? Oder eher um die Nachfolge des früheren Pfarrgemeinderates? Und das Wort Team verschärft noch einmal das Problem.
Denn ein Team hat, dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, ein gemeinsames Ziel. Ein Gemeindeleitungsteam braucht eine Vision und ein Leitbild für die lokale Gemeinde, sonst kann es nicht arbeiten. Und damit sind wir nun beim Kern des systemischen Versagens. Denn in der Praxis werden solche Teams, soweit ich das beurteilen kann, mit diesen Fragen alleine gelassen. Das kann schon aus rein systemischen Gründen nicht funktionieren. Denn Lokale Leitungsteams arbeiten nicht im luftleeren Raum. Sie sind Teil der Gemeinde, der Pfarrei, des Dekanates, des Bistums und sonstiger kirchlicher Strukturen. Eine Vision und ein Leitbild, die ein lokales Leitungsteam entwickelt, müssen daher kompatibel zu den Visionen und Leitbildern der anderen Ebenen sein.
Und das heißt: Ein lokales Leitungsteam muss sich mit den Leitbildern der Pfarrei und des Dekanates ebenso auseinandersetzen wie mit den entsprechenden Vorgaben der übrigen Führungsebenen. Tatsächlich gibt es diese Vorgaben ja, jedenfalls auf den höheren Ebenen. Im Bistum Hildesheim wäre da das Hirtenwort zur österlichen Bußzeit 2011 zu nennen, in dem Bischof Norbert Trelle für Lokale Kirchenentwicklung wirbt. Die Deutsche Bischofskonferenz hat 2015 ein Wort zur Erneuerung der Pastoral mit dem Titel „Gemeinsam Kirche sein“ veröffentlicht. Und Papst Franziskus hat seinen Plan 2013 im nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute vorgelegt.
Nun ist Papier bekanntlich geduldig. Was noch fehlt, sind die entsprechenden Prozesse und eine Führungskultur, die das Hören auf diese Worte befördern würde. In Deutschland steht uns dabei nach wie vor der gute, alte antirömische Affekt im Wege. Auch die enorme Popularität von Papst Franziskus hat daran im Grunde nicht viel geändert. Bestenfalls wird selektiv wahrgenommen, was aus Rom kommt. So leben es auch die deutschen Bischöfe vor, und so setzt es sich systemisch über die Ebenen hinweg fort. Der Diözesanbischof schert sich nicht groß um Papiere der Bischofskonferenz. Hildesheim ist weit weg, denkt man sich im Dekanat. Und auch die einzelnen Gemeinden innerhalb der Pfarrei wollen am liebsten nichts miteinander zu tun haben. Schlimm genug, dass man sich den Pfarrer teilen muss und keinen „eigenen“ Priester mehr hat. Jeder macht seins.
Pfarrer sind häufig keine überzeugenden Führungskräfte. Liegt es an der mangelnden Ausbildung, am Menschenschlag oder fehlen einfach nur überzeugende Rollenmodelle? Damit wird es schwierig. Wie wollen Laien in dieser Situation Führung übernehmen? Führung wird im Grunde nicht goutiert. Dabei möchte ich, um Missverständnisse zu vermeiden, keineswegs einer autoritären Führung alten Stils das Wort reden. Führung hat viel damit zu tun, Verantwortung zu delegieren. Das muss aber sauber geschehen und passiert nicht einfach im Vakuum fehlender Führung von alleine. Bottom-up geht das nicht.
Für Laien sehe ich da nur eine Option: Kleine Christliche Gemeinschaften zu gründen und dort Führung einzuüben und zu lernen. Solche Gemeinschaften brauchen jeweils einen Leiter und einen Stellvertreter, der die Aufgabe hat, selbst zum Leiter zu werden und dann die Leitung einer anderen Gemeinschaft zu übernehmen oder eine neue Gemeinschaft zu gründen. Auf diese Weise entstehen regelmäßig neue Gemeinschaften, die zugleich über personelle Verflechtungen miteinander vernetzt sind. Aus dem Pool der Leiter lassen sich dann auch Führungskräfte für höhere Aufgaben rekrutieren. So bildet sich mittelfristig eine Führungskultur von unten, die auch Auswirkungen auf das etablierte, führungsschwache System hat.