Von Zeit zu Zeit läuft mir ein Argumentationsmuster über den Weg, das ich nicht so recht verstehen kann. Kurz gefasst lautet es: Da wir nicht durch Werke des Gesetzes gerecht (erlöst, gerettet) werden, sondern durch den Glauben an Jesus Christus (Gal 2,16), brauchen wir uns um die Gebote der Kirche eigentlich nicht so recht zu kümmern. Denn das wäre ja wahlweise „Werkgerechtigkeit“ oder eben das Einhalten jenes Gesetzes, das Paulus eben für obsolet erklärt habe.
Nun bezieht sich aber Paulus erstens glasklar auf das jüdische Gesetz, dass er zweitens für Juden und Judenchristen auch weiterhin für gültig erachtet:
Ich versichere noch einmal jedem, der sich beschneiden lässt: Er ist verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten. Wenn ihr also durch das Gesetz gerecht werden wollt, dann habt ihr mit Christus nichts mehr zu tun; ihr seid aus der Gnade herausgefallen. Wir aber erwarten die erhoffte Gerechtigkeit kraft des Geistes und aufgrund des Glaubens. (Gal 5, 3-5)
Wie kann man also Paulus gegen die Gebote der Kirche wenden? Oder anders gefragt: Was haben die Gebote der Kirche mit dem jüdischen Gesetz zu tun? Oder ist das einfach nur ein rhetorischer Trick, das jüdische Gesetz mit den Geboten der Kirche gleichzusetzen und dann Paulus als argumentative Waffe zu verwenden? Im Galaterbrief zumindest ist der Kontext glasklar:
Wir sind zwar von Geburt Juden und nicht Sünder wie die Heiden. Weil wir aber erkannt haben, dass der Mensch nicht durch Werke des Gesetzes gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir dazu gekommen, an Christus Jesus zu glauben, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird niemand gerecht. Wenn nun auch wir, die wir in Christus gerecht zu werden suchen, als Sünder gelten, ist dann Christus etwa Diener der Sünde? Das ist unmöglich! Wenn ich allerdings das, was ich niedergerissen habe, wieder aufbaue, dann stelle ich mich selbst als Übertreter hin. Ich aber bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich für Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat. Ich missachte die Gnade Gottes in keiner Weise; denn käme die Gerechtigkeit durch das Gesetz, so wäre Christus vergeblich gestorben. (Gal 2, 15-21)
Warum die von Paulus geforderte Beachtung aller Gesetze und die Gerechtigkeit durch Glauben gegeneinander ausspielen wollen? Religiöse Gesetze sind nicht um ihrer Eigenschaft willen, Gesetze zu sein, sinnvoll und wichtig und also zu beachten, sondern erhalten ihren näheren Sinn durch den Bezug auf Gottes Ordnung. Das jüdische Gebot, den Sabbat zu heiligen, erhält seinen Sinn dann, wenn man begreift, welche Rolle der Sabbat im Leben eines Juden haben soll. Wenn Jesus vordergründig dieses Gebot mißachtet, so erhält dies doch einen tieferen Sinn, den die Schriftgelehrten damals aber nicht zu erfassen imstande oder willens waren.
Die Gesetze der Kirche sind sicher etwas anderes als die jüdischen Gebote, aber einen Bezug gibt es schon alleine deshalb, weil das Christentum ohne das Judentum nicht denkbar ist. Wir werden zwar nicht durch Werke des Gesetzes gerecht, aber ich denke, Gottes Gebote dienen dazu, uns Christen einen Ordnungsrahmen zu geben, der uns davon befreien kann, jeden Tag unser Leben neu nach eigenen Regeln strukturieren zu müssen.
M. W. bezieht sich Paulus im ersten Zitat auf die Heidenchristen, von denen manche verlangten, sie müssten ERST zum Judentum übertreten und sich beschneiden lassen. Er spricht sich dagegen aus. Mit dem Argument: Wer das tut, wer sich beschneiden lässt, um über diesen „Umweg“ Christ zu werden, der muss aber auch alle Gesetze halten – die die Judenchristen ja auch weiterhin hielten. Es ist eher eine Ermutigung gegenüber den Heidenchristen, einfach zu glauben. Paulus war ja der Heidenapostel und er war der Meinung, dass neubekehrte Christen einfach in dem Glauben gerechtfertigt waren, und das Beschneiden nicht nötig sei – da ja Beschnittene die Gesetze halten müssten usw.
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Paulus setzt zwar „Werke des Gesetzes“ gegen den „Glauben“ und besteht darauf, daß wir durch letzteren gerecht und gerettet werden, aber da muß man beachten was „Werke des Gesetzes“ heißt: wenn wir tun, was das Gesetz verlangt aus dem Grund weil es das Gesetz verlangt, dann ist das zwar gehorsam, aber eben nicht ausreichend und wohl auch im Endeffekt nicht durchhaltbar. Erst der Glaube macht das Ganze lebendig und lebbar.
Damit wendet sich aber Paulus nicht gegen das Gesetz – er selbst befolgt es ja bei seinem Jerusalembesuch. Es gibt aber einen Unterschied zwischen den Judenchristen und den Heidenchristen. Erstere sind natürlich an die Gebote des Gesetzes gebunden, letzteren werden sie aber nicht auferlegt, von groben Prinzipien abgesehen. Hier ist der erste Ursprung, zwischen ethnisch-kultureller und religiöser Identität zu unterscheiden, wenn auch das „jüdische“ Gesetz nicht rein ethnisch ist.
Da machen es sich auch viele zu einfach. Gott hat das Gesetz nicht gegeben, damit es eine Zeit befolgt würde und dann weggelegt. Das ist letzlich Marcionismus. Grade in Jesus hat das keine Rechtfertigung, da er ganz anders spricht (und nein, Jesus bricht nirgendwo den Sabbat – er bricht nur die Vorstellungen anderer vom Sabbat) – und Paulus kann da auch nicht angeführt werden, weil bei einem etwaigen Widerspruch, immer noch Jesus der Vorzug gegeben werden müßte.
Allerdings ist es so, daß manches, was im Gesetz steht, heute nur noch typologische Geltung hat, da es ja eben keinen zentralen Tempelkult mehr gibt bzw. der Neue Bund in der Eucharistie ein neues Zentrum gewonnen hat (womit ich aber nicht sagen will, daß die Zerstörung des Tempels eine Konsequenz christlichen Glaubens wäre – die Apostel konnten die Existenz des Tempels ja auch aushalten).