in Liturgia

Das Missale von 1969/1970

Teil 3 meiner kleinen Reihe zur Liturgie (Teil 1: Die heutige liturgische Praxis, Teil 2: Die Liturgiereform)

Zu den größten liturgischen Schätzen gehören die Orationen des Römischen Messbuches. Der größte Teil von ihnen

ist in den Sakramentarien des 5.-7. Jahrhunderts überliefert. In all diesen Texten ist – zumal unter dem eigentlichen literarischen Gesichtspunkt – die Substanz des Missale Romanum gegeben: Schöpfungen von hoher theologischer Aussagekraft, nach den Regeln spätlateinischer Kunstprosa gestaltet. Gebilde von monumentaler Einfachheit und bestechender Präzision. Sie sind von einer solchen Vollendung, daß sie, im wesentlichen unverändert bewahrt, bis heute die Gebetsform der katholischen Kirche geblieben sind. (Kindlers Literaturlexikon Bd IV, 1968, Sp. 2721; zit. nach Martin Mosebach: Häresie der Formlosigkeit, S. 112)

Der Autor dieser Zeilen, der Laacher Benediktiner Burkhard Neunheuser, schrieb zwanzig Jahre später im nämlichen Lexikon (Art. Missale romanum Bd. 19 der Studienausgabe, 125; zit. nach Gunda Brüske: Mosebachs Essays im Kontext von Jugendbewegung und liturgischer Erneuerung. Ein illegitimer Sproß der liturgischen Bewegung? in: konturen. Rothenfelser Burgbrief 02/03) dem Missale von 1969/1970

die Erschließung des ganzen Reichtums der Orationen und Präfationen aus den klassischen römischen Sakramentaren

zu. Es mag durchaus sein, dass dies die Intention der Schöpfer jenes Messbuches war, zu denen auch Neunheuser gehörte. Doch ob das Werk gelungen ist, darüber gibt es verschiedene Meinungen. Nehmen wir als Beispiel die Oration vom ersten Adventssonntag. Bis 1968 lautete sie:

Excita, quæsumus, Domine, potentiam tuam, et veni: ut ab imminentibus peccatorum nostrorum periculis, te mereamur protegente eripi, te liberante salvari: Qui vivis et regnas cum Deo Patre in unitate Spiritus Sancti Deus: per omnia sæcula sæculorum. Amen.

Robert Ketelhohn übersetzt so:

Erwecke, so bitten wir, Herr, deine Macht, und komm, auf daß wir den drohenden Gefahren unserer Sünden durch deinen Schutz entrissen und durch deine Befreiungstat gerettet zu werden verdienen, der du lebst und herrschest mit Gott dem Vater in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Die Konstitution über die heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“ wurde am 4. Dezember 1963 verkündet. Papst Paul VI. promulgierte das neue Missale am 3. April 1969, auf den Tag drei Monate vor meiner Geburt, und am ersten Adventssonntag des gleichen Jahres trat es in Kraft. Nur etwas mehr als fünf Jahre vergingen also zwischen diesen beiden Meilensteinen des liturgischen Umbruchs.

Seit Advent 1969 lautet die gleiche Oration:

Herr, unser Gott, alles steht in deiner Macht; du schenkst das Wollen und das Vollbringen. Hilf uns, daß wir auf dem Weg der Gerechtigkeit Christus entgegengehen und uns durch Taten der Liebe auf seine Ankunft vorbereiten, damit wir den Platz zu seiner Rechten erhalten, wenn er wiederkommt in Herrlichkeit. Er, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in alle Ewigkeit. ‹Amen.›

Robert kommentiert die Neuerung so:

Die Oration beginnt im neuen deutschen Meßbuch nicht mit dem »Maranatha« – »komm, Herr!« –, sondern mit einer unverbindlichen Feststellung. »Alles steht in deiner Macht« – na und? Der alte Text schrie nach Gott: »Komm, Herr, komm her und greif ein mit all deiner Macht!«

Und weiter: »Wir sind in tödlicher Gefahr durch unsere Sünden. Komm, Herr, du allein hast die Macht dazu: Reiß uns heraus, befreie uns aus den Banden der Hölle und rette uns!« Dagegen der neue Text: »Wir sind gerecht und gehen Christus entgegen, hurra! Aber hilf uns ein wenig dabei. Auch bei den guten Werken, die wir ja tun. Dafür steht uns dann der Platz zur Rechten Christi zu.«

Im übrigen fällt auf, daß das Gebet sich nicht mehr – wie in der alten Fassung – an Christus richtet, sondern an Gott Vater. Im Gebetsschluß wird auf deutsch weggelassen, was mit Sicherheit auch noch im lateinischen Text des neuen Meßbuchs steht: Die Akklamation Christi als Deus, als Gott: »… lebt und herrscht ‹als› Gott …«

Man lese Roberts Ausführungen im Zusammenhang – er befasst sich in gleicher Weise auch mit Graduale/Alleluia, Offertorium/Secreta, Communio und Postcommunio sowie den Texten des zweiten Adventssonntages, mit weiteren Sonntagsorationen sowie einigen Werktagsorationen zur Fastenzeit und kommt zu diesem Ergebnis:

Wenn du mal die Orationen des alten und des neuen Ordo Missæ vergleichst, dann wird dir vielleicht auffallen, daß darin heute ein anderer Geist herrscht. Die Rede von unserer Sünde, unserer Schwachheit und unserm Unvermögen ebenso wie der flehentliche Ruf um das Erbarmen Gottes wurden weitgehend eliminiert zugunsten frommen Selbstbewußtseins, das auf eigene Kraft und Gutheit setzt und gelegentlich, wenn uns nicht alles gleich ganz leicht gelingt, Gott um etwas Hilfe bittet, er möge uns doch mal eben zur Hand gehen.

Und an anderer Stelle:

Schaust du eine einzelne der neuen Sonntagsorationen an – zumal da du daran gewöhnt bist –, so fällt dir nichts weiter auf. Nein, häretisch ist sie nicht. Vergleichst du sie aber mit ihrer Vorgängerin aus dem alten Ritus, so bemerkst du auffällige Änderungen. Nimmst du dir alle Sonntagsorationen auf diese Weise vor, so findest du dieselbe Weise immer wieder. Man hat konsequent bereinigt, ein semipelagianischer Geist hat klammheimlich Einzug gehalten.

Ob dieser Vorwurf zutrifft oder nicht, mögen andere entscheiden. Schwer zu leugnen scheint mir indes der sprachliche Verfall im direkten Vergleich. Viele, allzuviele neue oder erneuerte Texte des Messbuches von 1969/1970 bleiben weit hinter ihren Vorgängern zurück. Und sie sind, das ist fast das Schlimmste, zwar platter, aber dadurch keinesfalls verständlicher geworden.

Das Bemühen um Verständlichkeit der Liturgie ist ohnehin mit äußerster Vorsicht zu üben. Denn es gehört geradezu zu ihrem Wesen, dass nicht alles verständlich, manches sogar äußerst unverständlich ist und erst in der Wiederholung langsam einzuleuchten beginnt. Moderne Plattheiten erleichtern keinesfalls das Verständnis, denn sie richten den Blick weg vom Geheimnis, dem Mittelpunkt aller Liturgie.

Das Messbuch Pauls VI. hat die Struktur der Messe deutlich verändert, einige Teile gestrichen (Stufengebet, Schlussevangelium), andere hinzugefügt (Fürbitten, Friedensgruß). Es hat an die Stelle des Canon Missae eine Vielzahl von Hochgebeten höchst unterschiedlichen Charakters gesetzt. Und es hat zahllose Wahlmöglichkeiten geschaffen – und damit der liturgischen Kreativität erst den Raum verschafft, die, so schreibt Ratzinger in „Der Geist der Liturgie“,

keine authentische Kategorie des Liturgischen sein kann. Ohnedies ist dieses Wort im Bereich der marxistischen Weltsicht gewachsen. Kreativität bedeutet, daß in einer an sich sinnlosen, durch blinde Evolution entstandenen Welt der Mensch nun schöpferisch eine neue und bessere Welt erschafft.

Was das Messbuch angeht, so wird nichts anderes bleiben als weitere Revisionen. Vom Missale Pius‘ V., promulgiert am 14. Juli 1570, bis zur ersten Revision vergingen nur 34 Jahre. Das Missale Johannes Pauls II., promulgiert am 20. April 2000 und damit gut dreißig Jahre nach 1969/1970, hat den deutschen Sprachraum noch gar nicht erreicht.

Das Missale Benedikts XVI. könnte ein revidiertes Messbuch von 1962 sein, das den Faden der Liturgiereformen von Pius X. und Pius XII. aufnimmt und weiterführt – wie es die Intention von „Sacrosanctum Concilium“ war.

Teil 4: Die Liturgiekonstitution

Schreibe einen Kommentar

Kommentar

16 Kommentare

  1. Man hat konsequent bereinigt, ein semipelagianischer Geist hat klammheimlich Einzug gehalten.

    … und bei „semipelagianisch“ ein Link zu dem im wesentlichen aus meiner Feder stammenden Wiki-Artikel. Danke, das freut einen doch! 🙂

    Scherz beiseite: semipelagianisch wäre ja nicht schlimm (gilt bei Hardcore-Katholiken zwar als Häresie, wird aber diesen von Hardcore-Protestanten quasi als katohlische Erbünde angekreidet — „da streiten sich die Leut‘ herum …“), aber die stilistische Dürftigkeit der Post-V2-Texte ist einfach schwer erträglich. Das klingt doch alles wie eine Fusiuonsküche aus „Wort zum Sonntag“ und „Einfach zum Nachdenken“ — m.a.W. ein Gemenge, das allen recht sein soll und doch niemandem so richtig munden will …

    Ob das freilich in einer Redaktion nach dem Gusto Paparatzis wirklich besser wird? Wenn ich mir seine Texte so ansehe: ja, sicher, was die Latinität betrifft — dieses total „übersetzt“ klingende „Egger-Latein“ (s. http://www.richardwolf.de/latein/egger.htm) war ja wirklich schwer auszuhalten — und was den Stil betrifft ist künftig wohl komplizierte Gedankentiefe (oder was dafür eben gehalten werden soll) angesagt. Aber sonst? Wait and see …

  2. Le Penseur,

    bei allem Respekt vor Eurem pelagianischen Glauben, aber Pelagianismus und seine Semiform gilt nicht nur bei „Hardcore-Katholiken“ als Häresie, sondern ist auf der Grundlage des katholischen Glaubens ganz eindeutig und objektiv eine solche.

    Und da es sich hier um die Liturgie der Kirche handelt, wäre eine solches Einsickern in die Texte wirklich schlimm, schlimmer als „stilistische Dürftigkeit“, denn ehrlich gesagt hat der Heilige Paulus auch keinen sehr guten Stil. Nicht, daß die neuen Texte nicht wirklich oft dergleichen aufweisen, aber Inhalt geht immer noch vor Form.

  3. jetzt scheint die ganze Diskussion hier Gefahr zu laufen, in ein bestimmtes ideologisches Eck zu abzurutschen Der Vorwurf, die Orationen des neuen röm Messbuches seien semipelagianisch angehaucht findet sich ja schon jahrelang in diversen Publikationen zum Thema. allerdings muss man da schon höllisch aufpassen, dass man sich nicht verirrt.
    Semipelagianismus ist und bleibt, wie str richtig bemerkt eine lupenreine Häresie; Teile des Messbuches auch nur in die Nähe von Häresie zu bringen, wird problematisch, denn auch für das gültige Messbuch gilt der alte Grundsatz „lex orandi lex credendi“…

    Etwas anderes ist die vielfach berechtigte Kritik der Plattheit der Übertragung in die deutsche Sprache. Übersetzung kann man das ja oft nicht nennen, wenn man die Originaltexte und deren deutsche Fassung, die zwar bemüht aber doch oft gerade deashalb so missraten sind, vergleicht.

    Was die zitierte Oration angeht, so versteigt sich Robert Ketelhohn insofern, als die zitierte Oration ja sehr wohl noch immer im Messbuch steht und zwar unverändert wenn auch erst am Samstag der ersten Adventwoche…. also von wegen gestrichen;
    die lat, Fassung der Orationzum ersten Adventsonntag lautet wie folgt:

    Da, quesumus, omnipotens Deus hanc tuam fidelibus voluntatem, ut,
    Christo tuo venienti iustis operibus occurentes, eius dexterae sociati, regnum mereamur possedere caeleste. Per Dominum etc..

    Wo findet man bitte in dieser Oration Plattitüden oder gar Häresien?
    Dass di dutsche Übersetzung im Vergleich mit dem Original deutliche Schwächen zeigt- keine Frage……..
    aber Vorsicht vor Ideologisierungen!
    Robert und sein ganzer „Kreuzgang“ neigen leider zu vorschnellen Verengungen, und das trotz der Mitgliedschaft Roberts beim, Neokatech. Weg……..

  4. Robert dürfte schon klar sein, dass der Pelagianismus eine Häresie ist. Und er sagt ja explizit, die neuen Orationen seien gerade nicht häretisch.

    Möglicherweise, aber da könnte man ihn vermutlich direkt fragen, war mit seiner oben zitierten Bemerkung nicht der Semipelagianismus als solcher gemeint, sondern eine Art halber Pelagianismus – also pelagianistische Tendenzen.

    Georg, es ist schon ein nicht unerheblicher Eingriff, eine Sonntagsoration auf einen Sonnabend zu verschieben und an ihre Stelle – ja, was eigentlich? Eine Neuschöpfung? Eine Frucht liturgischer Archäologie? Auf jeden Fall einen anderen und meist nicht besseren Text zu rücken.

  5. Also mein Eindruck ist nicht, daß die Neu-Orationen dezidiert semipelagianisch wären. Man darf sie natürlich nicht mit einem „calvinistischen Maß“ messen. Die Meinung, daß Gott uns in unserem Wollen unterstützt (wobei nicht gesagt wurde, daß er das Wollen nicht bewirkt hat) ist ja durchaus kompatibel mit der katholischen Lehre. Ja, in der Häufung ist dieser Gedanke schon etwas penetrant und mag sein, daß der Texter pelagiusgefährdet ist, vielleicht aber auch nicht. Der eigentlich Vorwurf, den ich gelten lassen würde, ist, daß wieder und wieder der Originaltext bei der Übersetzung angereichert wurde, was eigentlich nicht der Zweck des Übersetzens ist.

  6. @Str:
    bei allem Respekt vor Eurem pelagianischen Glauben, …
    Zuviel der Ehr — „Euer“ muß wirklich nicht sein! Ich bin schließlich kein Kirchenfürst, sondern bloß theologisch angekränkelter Wirtschaftsjurist.

    … aber Pelagianismus und seine Semiform gilt nicht nur bei “Hardcore-Katholiken” als Häresie, sondern ist auf der Grundlage des katholischen Glaubens ganz eindeutig und objektiv eine solche.
    … weiß ich doch, theoretisch wenigstens! Nur: in der Praxis war der Semipelagianismus im Mittelalter weitgehend Realität, erst unter dem Druck der Lutheraner und Calvinisten mußte die RKK die faktische Herrschaft der (semi-)pelagianischen Tendenzen (offiziell) korrigieren — und, wenn man sich die Jesuitentheologie (z.B. die Position des Molinismus im Gnadenstreit) ansieht, war nicht einmal das von längerer Dauer. Die gesamte Aufklärungstheologie des Josephinismus war im Effekt pelagianisch, erst wieder im Neothomismus des 19. Jhs. wird versucht, die Strenge der Augustinischen Doktrin auch faktisch wieder durchzusetzen.

    Tief im Herzen sind „Otto-Normalverbraucher“-Katholiken aber wohl zu allen Zeiten mehr oder weniger Semipelagianer (wenn nicht gar Pelagianer) gewesen, und darüber liegt bloß ein dünner Firniß von Verbal-Augustinismus. Wenn dieser nämlich nicht bloß verbal vorgetäuscht, sondern ernstgenommen würde, würden der RKK heute wohl die Schäfchen in Scharen davonlaufen, wage ich einmal zu prophezeien …

    Und da es sich hier um die Liturgie der Kirche handelt, wäre eine solches Einsickern in die Texte wirklich schlimm, …
    Sehe ich (was Sie nicht verwundern wird) ein bisserl anders — es ist bzw. wäre m.E. einfach eine Annäherung der Rheorik an die Realität …

    … schlimmer als “stilistische Dürftigkeit”, denn ehrlich gesagt hat der Heilige Paulus auch keinen sehr guten Stil. Nicht, daß die neuen Texte nicht wirklich oft dergleichen aufweisen, aber Inhalt geht immer noch vor Form.
    Nun, ich bin wirklich kein Connaisseur des Bibelgriechischen, aber muß Ihnen (als blutiger Laie auf diesem Gebiet) wohl rechtgeben: Paulus scheint in der Tat kein begnadeter Gräzist gewesen zu sein (seine Textes lesen sich so circa wie Heideggers „Sein und Zeit“ in Erkan-Deutsch, nur unverständlicher 😉 Deshalb bevorzuge ich hier auch die Texte ganz entschieden in ihrer Vulgata-Übersetzung.
    „Inhalt vor Form“ ist zwar in der Theorie völlig zutreffend, in der Praxis aber habe ich vom schönsten Inhalt nichts, wenn die Form unter aller Kanone ist — da klappt man dann einfach die Ohren zu, was die Sinnhaftigkeit eines solchen „Gebetes“ doch erheblich relativiert.

  7. @mr94
    Die Oration Excita…war eine feststehende Oration für die ganze erste Adventwoche; dass man in der erneuerten Liturgie die Orationen vermehrt hat und dass es dadurch auch zu Verschiebungen gekommen ist, darüber kann man geteilter Ansicht sein;
    der Rückgriff auf alte liturg. Texte, die nicht(mehr) Eingang ins Missale Pius V‘ gefunden hatten und die Formulierung neuer Texte ist an sich nichts verwerfliches und hat mit Archäolgismus noch nichts zu tun; denn würde man dieser Argumentationsschiene konsequent folgen, dann wäre auch die einseitige Konzentration auf die normative Funktion des trident. Messbuches nur eine weitere Variante dieser in die Irre führenden Geisteshaltung.
    Veränderung und Variationen hat es in der Liturgiegeschichte des Westens wie des Ostens immer gegeben, auch wenn sich das durch die strenge Legistik nach dem Tridentinum in erster Linie in der Rubrizistik ausgedrückt hat, die zu einer Spezialwissenschaft geworden ist, und zum letzten Mal 1962 von Johannes XXIII bekanntlich reformiert wurde…
    Ich halte in der ganzen Diskussion nicht nur Archöologismus für irreführend sondern auch jede Form von Histor(iz)imus. Die Liturgie läßt sicht nicht nur aus ihrem Gewordensein verstehen.
    Die derzeitige Misere der Liturgie ist auch nicht einfachhin die Frucht der Reform im Anschluß an das II. Vatikanum sondern vielmehr eine Frucht eines jahrhunderte alten Auseinanderdriftens katholischer Frömmigkeit hier und katholischer Liturgie dort. Das hat nicht erst mit der devotio moderna begonnen.Erste Ansätze dafür finden sich schon im frühen Mittelalter etwa in der Frömmigkeit der Medikantenorden, die der Liturgie einen mehr funtionalist. Charakter zugemessen haben -ex opere operato- und ihr eine das Volk begeisternde Volksfrömmigkeit zur seite gestellt haben, die zuweilen im ländl. Bereich bis heute die eigentliche Liturgie bei weitem an Bedeutung übertrifft.
    Die im 20. Jahrhundet v.a. im Umkreis der benediktin. Gemeinschaften entstandenen liturg. Bewegung blieb leider weitgehend auf elitäre Kreise beschränkt und verstieg sich daher auch da und dort in Einseitigkeiten….
    Die aktuelle liturg. Misere ist also ein jahrhundetrte altes Defizit liturg. Lebens im katholischen Volk.
    Hier müsste eine ganz neue liturgische Bewegung ansetzen. Keine Wiederaufnahme der schon erwähnten. Sondern eine ganz neue, die die Liturgie als Quelle und Höhepunkt katholischer Spiritualität und katholischen Alltags wieder belebt. Es ist schön, dass sich der Rosenkranz wieder so großer Beliebtheit erfreut. Es ist schön, dass die eucharistische Anbetung wieder so beliebt wird. Es ist schön, dass die Herz Jesu und die Heiligenverehrung wieder populär werden.
    Aber noch schöner wäre es, wenn die Katholiken die Eucharistiefeier und das Stundengebet wieder ganz neu entdecken würden, die ja die Quellen aller anderen Frömmigkeistäußerungen sind.
    Nicht dass das „Excita“ vom Sonntag auf den Samstag verlegt (eigentlich beschränkt) wurde, ist das Problem, sondern, dass sich seit Jahrhunderten im Westen die Litugie von außerliturg. Frömmigkeit in den Schatten gestellt wird und die Liturgie etwas für „Liebhaber“ oder Spezialisten geworden und geblieben ist. Dass da nicht mehr in Bewegung geraten ist, ist das eigentliche Versagen der liturg. Erneuerung des Vatik. II

  8. LePenseur,

    Was die Anrede angeht: es ist im Netz weitgehend das „Du“ verbreitet. Ich benutze es auch, ohne mir groß was dabei zu denken. Da Sie es aber nicht mögen, wie Sie bereits gesagt haben, ich aber andererseits das „Sie“ nicht leiden kannt (weil es die dritte Person ist, somit grammatikalisch eigentlich falsch, und hiermit meiner Ansicht ein Geschwür in der Deutschen Sprache ist), ich aber selbst mir dennoch eine Höflichkeitsform wünsche, habe ich Post, die an Sie gerichtet war zum Spielfeld in dieser Hinsicht gemacht.

    „weiß ich doch, theoretisch wenigstens!“

    Weiß ich, daß Sie das wissen, aber ich wollte es nur mal klarstellen.

    „Nur: in der Praxis war der Semipelagianismus im Mittelalter weitgehend Realität, erst unter dem Druck der Lutheraner und Calvinisten mußte die RKK die faktische Herrschaft der (semi-)pelagianischen Tendenzen (offiziell) korrigieren — und, wenn man sich die Jesuitentheologie (z.B. die Position des Molinismus im Gnadenstreit) ansieht, war nicht einmal das von längerer Dauer.“

    Hier werden wir haben keine Übereinstimmung erzielen. Das ist wiederum alles mit der Calvinistisch-Jansenistischen Brille betrachtet. Die Bedeutung von Augustinus und Thomas im Mittelalter wird dabei auch ganz übersehen. Auch den Molinismus kann man nicht ernsthaft als (Semi-)Pelagianisch betrachten. Es sei denn, Ihr Pelagianismus ist gar nicht so pelagianisch.

    Der Josephinismus ist eher eine politische Herrschaftskonzeption. Die Aufklärung war ohnehin zutieftst unchristlich, weil sie solche Dinge wie Mystik, Frömmigkeit (die durchaus absonderliche Formen kennt), Askese letztlich abgelehnt und auch verfolt hat und den Glauben auf Moral und Anständigkeit verkürzen wollte. Diese Haltung wirkt bis heute nach.

    Im übrigen ist der Augustinismus oder der Thomismus nicht mit dem katholischen Glauben gleichzusetzen. Das ist genau der Fehler der Jansenisten, wie – unter anderen Vorzeichen – der Protestanten (die ja eine Kirchenväterreihe ala Luther bzw. Calvin – Augustinus – Paulus haben, wobei es letztlich nur erste sind, weil die anderen nur in deren enger Interpretation vorkommen)

    Warum sollten die Schäfchen weglaufen, wenn sie den katholischen Glauben praktizieren. Andererseits gilt das Augustinuswort von der „societas permixta“ auch heute noch.

    „Sehe ich (was Sie nicht verwundern wird) ein bisserl anders“

    Natürlich, Sie sind ja auch Pelagianer (oder meinen es zumindest, siehe oben) – andererseits wäre es schlimm, denn warum eigentlich soll sich immer das Ideal der ohnehin schon allenthalben anzutreffendenn Realität anpassen. Das ist ja auch die Frage an diverse „kirchenkritische Kreise“: warum werdet ihr dann nich Protestanten und laßt die Kirche die Kirche sein – aber nein, nichts weniger als deren Zerstörung ist genug.

    Ich bin übrigens auch Laie in bezug auf Griechisch und beziehe mein Wissen hierzu aus zweiter Hand. Dieses Faktum ist übrigens der Grund, warum jemand einen Briefwechsel Pauli mit Seneca dazufälschte: Paulus sollte bildungsbürgerlich akzeptiert werden.

    Natürlich muß auch die Form stimmen, um den Inhalt zu übertragen. Aber die Form kann man, so oder so, wieder ändern, der Inhalt muß bleiben.

  9. Die Bedeutung von Augustinus und Thomas im Mittelalter wird dabei auch ganz übersehen.
    Keineswegs. Doch darf ich Prof. Karl Adam (1876-1966), Uni Tübigen, röm.kath. Theol Fakultät, zitieren: „Die auf die spezifisch germanische Seelenhaltung zurückgehende Entwicklung zu »einem verschleierten Semipelagianismus und einem äußerlichen Moralismus« ist vielmehr eine solche, die beim »Durchschnittsgläubigen nur allzu leicht und immer wieder« eintritt“ (in: Kirche und Seele. Theol. Quartalschr. 106, 231–239). Das Faktum ist auch von anderen (Johan Huizinga etc.) so gesehen worden — über seine Bewertung natürlich kann man streiten …

    Auch den Molinismus kann man nicht ernsthaft als (Semi-)Pelagianisch betrachten.
    Nun, das hat die überwältigende Mehrheit der Kommission über den Gnadenstreit anders gesehen: die meisten ihrer Mitglieder wollten in der Tat den Molinismus als Pelagianismus zensuriert sehen — eine Meinung, der sich allerdings der Papst in seiner Entscheidung vom 5.9.1607 nicht angeschlossen hat, sodaß die Frage (theoretisch) bis heute ungeklärt blieb.

    Das ist ja auch die Frage an diverse “kirchenkritische Kreise”: warum werdet ihr dann nich Protestanten und laßt die Kirche die Kirche sein
    Gott mög‘ abhüten, daß ich Protestant werde! Glaube ich schon nicht einmal das, was mir die heilige Mutter Kirche zu glauben vorlegt, werd ich dann glauben, was mir ein Ketzer sagt? 😉

  10. Das ein solcher Pelagianismu beim »Durchschnittsgläubigen nur allzu leicht und immer wieder« eintritt, dem kann ich zustimmen. Das war im Mittelalter so und auch heute. Aber ich bestreite, einfach das Mittelalter als generell (semi)pelagianisch anzusehen.

    „eine Meinung, der sich allerdings der Papst in seiner Entscheidung vom 5.9.1607 nicht angeschlossen hat“

    Eben! Und daher ist die Frage nicht theoretisch, sondern praktisch bis heute ungeklärt und der Molinismus eine nicht häretische theologische Richtung.

    Das mit den Protestanten war auch nicht gegen Sie gerichtet, sondern gegen jene Kirchenkritiker/Volksbegehrler/Ökumene-einfordernde Politiker etc. die letztlich damit der Katholischen Kirche das Recht auf eine eigenständige Existenz abspricht.

  11. Noch eins zum Thema Pelagianismus, was mir erst vor ein paar Tagen beim nochmal Lesen aufgefallen ist. Ob sich in der Mehrzahl der Texte Pelagianismus findet, weiß ich nicht aber sicherlich ist

    „… du schenkst das Wollen und das Vollbringen …“ (siehe oben)

    gerade nicht pelagianisch, sondern im Gegenteil die Ausschlußformel gegen den Pelagianismus (der lehrte das wir selbst allein und ohne den Herrn unseres Glückes Schmied sind) und den Semi-Pelagianismus (der lehrte, Gott schenke zwar das Vollbringen, aber das Wollen müßten wir selbst beisteuern). Letzteres zeigt auch, warum Einwürfe seitens des Protestantismus oder des Herrn Penseurs fehl gehen, die Lehre der Kirche mit Pelagianismus zu identifizieren: ja, wir müssen auch mittun, aber Gott ist es der nach obiger Formel Wollen und Vollbringen schenkt.

  12. dieser ganze Unsinn, die Orationen des neuen Messbuches seien semi- oder ganz und gar pelagianisch sind, ist ja v.a. eine These, die die Traditionalistenecke schon seit Jahren via Medien herumstreut (z.B. auch via 3ogiorni) und vielfach gedankenlos wiederholt wird, weil man sich sicher sein kann, dass die Mehrzahl der Leser zwar maximal im Hinterkopf hat, dass es sich dabei um Häresien handelt aber keinen Schimmer davon hat, was sie eigentlich beinhalten (aber wer gibt das schon gern zu?!!)…eine Art subtile Verleumdungskampagne also…

  13. Nicht das ich mißverstanden werde, stilistisch gibt es an oben zitiertem einiges auszusetzen und auch theologisch mag manches mißverständlich sein, aber ob dies gleich häretisch und wenn ja dann(semi)pelagianisch ist?

    Eine Frage habe ich allerdings: ist 30giorni denn traditionalistisch? Und wenn ja, wie viel?

  14. Nein, 30giorni ist nicht traditionalistisch im engeren Sinn,-ich lese es sehr gerne. Allerdings gibt es dort immer wieder auch Autoren, die den traditionalist. Kreisen verbunden sind.
    Was wir hier mit Recht als theologisch fragwürdig aber- wie du richtig anmerkst- deswegen noch lange nicht häretisch bezeichnen, sind die oft sehr freien Übertragungen der lat. Originale der Orationen des Missale Romanum.
    Die Kritik, die man u.a. in 30giorni lesen kann, bezieht sich jedoch eigentlich auf die lat.Orgininaltexte selber, wobei die Argumentationen eben sehr wenig schlüssig und allzu offensichtlich tendenziös eingefärbt sind.

  15. Georg, danke für die schnelle, ausführliche und ausgewogene Antwort.

    Ich bin ganz allgemein für Offenheit und Sachlichkeit Deiner und Martins (um nur die hier vertretenen zu nennen) Beiträge in diesem Komplex dankbar.

Webmentions

  • Commentarium Catholicum » Wie ein Krimi 27. November 2006

    […] Interessant: Auch dieser Aufsatz hat keine Antwort auf die Frage, warum um alles in der Welt das Missale von 1969/1970 die Oration (Collect) des ersten Sonntags im Advent durch eine, überdies textlich veränderte, Postcommunio der Adventszeit ersetzte. Selbst nach Bugninis Revisionsprinzipien lässt sich keine Begründung dafür finden, und das Quellenmaterial ist bemerkenswert dürftig für einen Vorgang, der gerade vierzig Jahre zurückliegt. […]

  • Commentarium Catholicum » Die Liturgiereform des XX. Jahrhunderts 27. November 2006

    […] Das Missale von 1969/1970 […]

  • Commentarium Catholicum » Der hölzerne Volksaltar 27. November 2006

    […] Posted by mr94 on 13 Nov 2006 at 09:40 pm | Tagged as: Liturgia Bei der Rekonstruktion der Liturgiereform ließ ich mich bislang von der Annahme leiten, das große Kirchenumbauprogramm sei erst auf das Missale von 1969/1970 gefolgt. Inzwischen weiß ich aber, dass die gotische Hallenkirche meiner Heimatstadt schon sehr viel früher den neuen Choraltar erhielt. Er wurde bereits am 8. September 1965 durch Bischof Heinrich Maria Janssen geweiht. […]

  • Commentarium Catholicum » Die Liturgiereform 27. November 2006

    […] Teil 3: Das Missale von 1969/1970 […]

  • Commentarium Catholicum » Weit hinaus 27. November 2006

    […] Das Missale von 1969/1970 […]