Als sich Anfang des Jahres die Gerüchte zu verdichten begannen, der Papst würde während seines Deutschlandbesuches auch das Eichsfeld besuchen, da war mir klar: Ich als alter Eichsfelder durfte dort nicht fehlen. Dass ein Papst, noch dazu ein Deutscher und ein großer Intellektueller, meinen Heimatlandstrich aufsuchen würde, erschien mir sofort als ein Jahrtausendereignis. Einmal im Leben.
Den Hildesheimer Bischof Norbert Trelle überkam nach seinen Worten während der Feier der Chrisammesse der Heilige Geist mit der Vision von einer Jugendwallfahrt aus Duderstadt nach Etzelsbach. Ohne sich vorher rückversichert zu haben, lud er noch in der gleichen Messe die Jugend des Bistums zu just jener Wallfahrt ein. Dazu muss man wissen, dass im Bistum Hildesheim seit bald 30 Jahren die Chrisammesse in der Karwoche als große Jugendmesse gefeiert wird, und zwar am Mittwoch vor dem Gründonnerstag – ich weiß, das ist ein Tag zu früh, aber in einem Flächenbistum wie Hildesheim mit langen Anfahrtswegen kaum anders zu machen.
Der Südturm von St. Cyriakus am Morgen des 23. September 2011
Die Priester des Bistums reisen also nicht mehr oder weniger alleine zum Bischofssitz, um an der Weihe der Heiligen Öle teilzunehmen, sondern sie nehmen ihre Pfarrjugend mit. Der Dom oder, da die Bischofskirche derzeit saniert wird, St. Godehard platzen aus allen Nähten, Jugendliche sitzen überall auf dem Boden, eine Band spielt. So habe ich es seinerzeit in den achtziger Jahren als Jugendlicher erlebt, und so erleben es auch die Jugendlichen von heute. Liturgisch ist das vielleicht nicht das Nonplusultra, es hat aber binnen einer Generation einen starken Sinn für die Gemeinsamkeit im Bistum und die Verbundenheit mit dem Bischof geschaffen.
In dieser besonderen Situation also sprach unser Diözesanbischof die Einladung an die Jugend aus, mit ihm zusammen von meiner Heimatstadt Duderstadt aus nach Etzelsbach zu pilgern. Wie sich später herausstellte, ist das eine Strecke von gut 13 Kilometern, also ein ordentlicher Halbtagsmarsch. Spätestens seit dieser Einladung, die später noch auf alle Altersgruppen ausgeweitet wurde, war mir klar, dass ich dabei sein würde. So fuhr ich also am Donnerstag direkt aus dem Büro in Hamburg südwärts. In Rhumspringe, nicht weit von Duderstadt entfernt, traf ich noch unseren ehemaligen Kaplan und jetzigen Pfarrer, der dort mit den Weltjugendtagspilgern seiner Pfarreien auf eine Gruppe aus dem Dekanat Unterelbe wartete – meinem Dekanat.
Die Fußwallfahrt begann am Freitagmorgen mit einem Aussendungsgottesdienst in meiner alten Heimatkirche St. Cyriakus. Von dort brachen wir in 22 Gruppen zu je 50 Personen auf, die Rede war von insgesamt 1.150 Teilnehmern, was mathematisch nicht ganz stimmen kann. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass sogar 1.400 Fußwallfahrer mitgegangen sein sollen, was durchaus möglich ist, da sich unterwegs unentwegt weitere Pilger anschlossen. In Etzelsbach, so hieß es noch am gleichen Abend, sollen insgesamt 90.000 Pilger gewesen sein.
Ich bin kein Freund von Zahlenhuberei. Doch um zu verstehen, was diese Zahl bedeutet, ist ein Blick in die Statistik unvermeidlich. Das kleine Bistum Erfurt zählte 2009 insgesamt 156.021 Katholiken. Wenn die Marienvesper in Etzelsbach und die Heilige Messe in Erfurt insgesamt 120.000 Teilnehmer anzogen, dann waren das 76,9 Prozent aller Katholiken des Bistums, vom Säugling bis zum Greis.
Nun waren einige Teilnehmer bei beiden Gottesdiensten dabei, und nicht wenige kamen so wie ich auch aus den Nachbarbistümern. Trotzdem schmälert dies nicht das Verdienst der tapferen Erfurter um die enorme Mobilisierung. Während es vorher klar war, dass der Erfurter Domplatz nicht mehr als 30.000 Menschen fassen würde, war das Etzelsbacher Pilgerfeld auf 100.000 Pilger ausgelegt. Angesichts der freien Flächen hätten es auch noch mehr werden können, oder aber die Zahl von 90.000 war deutlich übertrieben – ich weiß es nicht.
Auf der nahegelegenen Autobahn, die für diesen Tag gesperrt und zum Busparkplatz umfunktioniert wurde, standen über 800 Busse. Was bei 50 Passagieren pro Bus allein schon mehr als 40.000 Pilger ergeben würde. Dazu kamen die Bahn, die einen Pendelverkehr zu zwei nahegelegenen Bahnhöfen eingerichtet hatte, sowie Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger. Alle hatten mehr oder weniger weite Fußwege zurückzulegen. Die Straßen im weiten Umkreis waren komplett gesperrt, die Schulkinder hatten frei. Das öffentliche Leben, soweit es nicht in und um Etzelsbach stattfand, kam praktisch zum Erliegen.
Diese Grafik gibt einen groben Eindruck davon, wie große Teile des Obereichsfelds auf die Wallfahrt vorbereitet waren und welche Wege zurückzulegen waren. Duderstadt liegt etwa vier Kilometer nördlich von Teistungen, das am oberen Bildrand zu sehen ist. Wir kamen über den Pilgerweg St. Kilian, der in pink eingezeichnet ist.
Im Vergleich zur Erfurt und Etzelsbach nehmen sich die Zahlen aus Berlin und Freiburg eher bescheiden aus. 61.000 Teilnehmern im Olympiastadion stehen immerhin 392.958 Katholiken im Erzbistum Berlin (ca. 15,5 Prozent) gegenüber. Ganz zu schweigen von 130.000 Teilnehmern an den beiden Freiburger Gottesdiensten – das Erzbistum Freiburg zählt fast zwei Millionen Katholiken (ca. 6,5 Prozent).
In Etzelsbach war also buchstäblich alles, was laufen kann, auf den Beinen. Schon in unserer Pilgergruppe war vom Kind bis zum Rentner jede Altersgruppe vertreten. Ein ähnliches Bild zeigte sich dann auch auf dem Pilgerfeld. Meine Eltern, beide im achten Lebensjahrzehnt, und mein Bruder, Onkel und Tanten, Freunde und Bekannte aus alten Zeiten wie auch aus der norddeutschen Diaspora – alle waren dabei. Ich traf eine einzelne Pilgerin aus dem nahen Göttingen, die aus dem Saarland stammt und sich auf den Fußweg gemacht hatte.
Es war schier unglaublich, das alles zu erleben. Doch genug für heute. Im nächsten Teil folgt mein Bericht von der Fußwallfahrt selber.
Viva la Diaspora! 🙂