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Ungerechtigkeit

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) ist die Geschichte einer riesengroßen Ungerechtigkeit. Es war schon mindestens unhöflich, dass der jüngere Sohn vorzeitig um sein Erbe bat, um sich damit ein schönes Leben zu machen. Es war verantwortungslos, das ganze Geld in kürzester Zeit auf den Kopf zu hauen. Doch es ist in höchstem Maße ungerecht, dass der Vater den zurückgekehrten Sohn, der gerade ein Großteil seines Vermögens verschleudert hat, auch noch mit einem Fest belohnt.

Der Zorn des älteren Bruders ist da nur allzu verständlich. Er arbeitet jahrelang fleißig auf dem Hof seines Vaters und bekommt nicht einmal einen Ziegenbock, den er mit seinen Kumpels hätte verspeisen können. Für den Jüngeren dagegen, der gerade einen riesengroßen Bock geschossen hat, lässt der Vater sogar das Mastkalb schlachten. Im Zorn spricht der große Bruder aus, wo der kleine Bruder das Geld gelassen hat: bei Dirnen, bei Frauen also, die für Geld mit fremden Männern ins Bett gehen.

Und nun wird er nicht bestraft für seine Verfehlungen, sondern auch noch belohnt? Ja, schlimmer noch: Offensichtlich hat das Fest begonnen, ohne dass der große Bruder dabei sein konnte, denn er war ja noch auf dem Feld bei der Arbeit. Niemand hat ihn gerufen. Hat ihn überhaupt einer vermisst?

Doch wenn das Fest ungerecht ist, was wäre die Alternative? Der Vater könnte sagen: Was willst Du eigentlich? Du hast bekommen, was Du wolltest. Geh weg, ich will Dich nie wieder sehen. Wäre das gerecht? Vielleicht. Wäre es auch gut? Ganz sicher nicht. An der Oberfläche wäre vielleicht der Gerechtigkeit Genüge getan. Die Chance aber, alles wieder gut zu machen, die wäre vertan. Dieses Gutsein, diese Güte des Vaters ist völlig unverdient. Die hat sich der jüngere Sohn nicht verdient, ganz im Gegenteil. Die bekommt er einfach so.

Aber war es nicht sein gutes Recht gewesen, seinen Teil des väterlichen Erbes einzufordern und damit zu machen, was er wollte? „Fight For Your Right To Party“, singen die Beastie Boys. Kämpft für Euer Recht auf Party! Macht das Beste aus Eurem Leben. Feiert, bis der Arzt kommt oder das Geld alle ist. Oder beides. Was dagegen? Und weiter: Wenn es schief geht, wenn das Geld alle ist und ihr ganz unten angekommen seid, dann ist doch immer noch Zeit genug, zum Vater zurückzukehren. Ihr könnt Euch sicher sein: Euer Vater wird Euch nicht zurückweisen, sondern umarmen – und ein Fest mit Euch feiern.

Hat der jüngere Sohn vielleicht von Anfang an so kalkuliert? War das sein Plan, sich zwar von seinem Vater zu trennen und eigene Wege zu gehen, aber früher oder später zurückzukehren, im sicheren Wissen, jederzeit willkommen zu sein? Wenn wir genauer hinschauen, sieht es nicht so aus. Denn erst als sein Geld alle ist und die wirtschaftliche Lage im Land sich so verschlechtert hat, dass er auch keine Arbeit findet, als er weniger zu essen hat als die Schweine, die er hüten muss – da fällt ihm auf, dass selbst die Tagelöhner seines Vaters mehr zu essen haben als er. Die Tagelöhner sind Arbeiter, die immer nur für einen einzigen Tag beschäftigt werden, die am Abend ihren Lohn bekommen und am nächsten Tag sehen müssen, ob sie wieder Arbeit bekommen oder nicht.

Erst am absoluten Tiefpunkt beginnt der jüngere Sohn zu kalkulieren: Ein Tagelöhner seines Vaters zu sein wäre besser als Schweinehirt zu bleiben und weiterhin zu hungern. Er hat nichts mehr zu verlieren, sein Weg hat ihn in die Sackgasse geführt. Jetzt erst bereut er, was er getan hat. Jetzt kehrt er um und geht zu seinem Vater zurück. Er ist bereit, als Tagelöhner für ihn zu arbeiten. „Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein.“ Doch schon bevor er das überhaupt sagen kann, fällt ihm der Vater um den Hals. Der Vater kommt ihm mit seiner Liebe zuvor. Die Tatsache, dass sein Sohn umgekehrt ist, dass er zurückgekommen ist, ist ihm Freude genug. Der Vater weiß vermutlich schon, was er sagen will, bevor er es aussprechen kann.

Stellen wir uns eine andere Wendung dieser kleinen Geschichte vor: Was wäre geschehen, wenn der Sohn zurückgekommen wäre, ohne Reue zu zeigen? Wenn er nicht eingestanden hätte, dass es falsch war, das väterliche Erbe zu verschleudern und schließlich buchstäblich im Dreck zu enden?

Vor einigen Wochen gab es eine breite Diskussion darüber, ob Terroristen, die zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren, vorzeitig freigelassen werden dürfen. Es ging um Verbrecher, die seit ungefähr 25 Jahren im Gefängnis sitzen und nun demnächst auf ihre Freilassung hoffen können.

Eine der großen Fragen in dieser Debatte war, ob diese Leute jetzt eigentlich Reue zeigen müssen für ihre einstigen Untaten. Müssen sie vielleicht die Angehörigen ihrer Opfer um Vergebung bitten? Müssen sie den Ideen abschwören, die sie damals zu Attentaten veranlasst hatten?

Wenn die Diskussion ein Ergebnis hatte, dann war es, dass der Rechtsstaat und die Justiz mit Reue und Vergebung nicht viel anfangen können. Ob ein verurteilter Straftäter aus seiner Haft entlassen wird, hängt von anderen, leichter greifbaren Kriterien ab. Zum Beispiel davon, wie er sich in der Haft verhalten hat und ob zu befürchten ist, dass er in Freiheit erneut Verbrechen begehen würde. Zeichen der Reue und die Bitte um Vergebung mögen für eine Freilassung sprechen – eine zwingende Voraussetzung sind sie nicht.

Das wäre nämlich zu viel verlangt. Das Böse hat seine eigene Logik. Es verschleiert die klare Sicht auf die Dinge. Wäre es anders, dann hätte der Sohn schon viel früher erkennen müssen, dass er auf dem falschen Weg ist. Doch erst als er ganz unten ist, merkt er, was los ist. Jetzt bereut er seine Sünden und bemüht sich um Schadensbegrenzung. Der Sohn wagt es nicht einmal, um Vergebung zu bitten – er ist bereit, auf seinen Platz als Sohn des Hauses zu verzichten und wie ein einfacher Tagelöhner für seinen Vater zu arbeiten.

Doch dies lässt die Gnade des Vaters nicht zu. Mit der Reue und dem Eingeständnis seines Scheiterns ist der Weg zur Versöhnung frei. Weil der Sohn seine Sünden bereut, kann der Vater auf die gerechte Strafe verzichten und ein rauschendes Fest feiern. „Auch im Himmel wird mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren“, heißt es bei Lukas (15,7) unmittelbar vor unserem Gleichnis. Und man bemerkt vielleicht den etwas herablassenden Ton, mit dem von den „neunundneunzig Gerechten“ die Rede ist. Es geht um mehr als nur um Gerechtigkeit – es geht um Güte, es geht um Gnade, es geht um die Liebe des Vaters zum Sohn.

Aus Güte, aus Gnade und aus Liebe ruft der Vater uns zur Umkehr. Reue, Umkehr, Buße und Vergebung sind die Themen der Fastenzeit, mit der sich die ganze Kirche auf Ostern vorbereitet. Ostern ist der Sieg der Liebe über den Tod. Der heutige vierte Fastensonntag gibt schon einen Ausblick auf dieses Ziel. Der Eröffnungsvers der Messe heißt:

Freue dich, Stadt Jerusalem!
Seid fröhlich zusammen mit ihr, alle, die ihr traurig wart.
Freut euch und trinkt euch satt an der Quelle göttlicher Tröstung.

Hier klingt die festliche Freude an über die Rückkehr des verlorenen Sohns. Die Freude des heutigen Sonntags ist die Freude Gottes über den Sünder, der umkehrt. Gott freut sich, wenn er einem Sünder vergeben kann. Gott liebt die Menschen auch dann, wenn sie schuldig geworden sind. „Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete“, schreibt Paulus im zweiten Korintherbrief (5,19). Und er fordert uns auf: „Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (5,20) Gott tut dazu den ersten Schritt. Er ist mehr als einfach nur gerecht. Gott ist Liebe (1 Joh 4,16).

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