Hanns-Georg Rodek bespricht den Film „Die große Stille“, der morgen in den Kinos anläuft:
„‚Die große Stille‘ ist ein Film, den im Fernsehen oder auf DVD zu betrachten schlicht unvorstellbar ist. Das liegt nicht an spektakulären Schauwerten, sondern an dem, was Regisseur Philip Gröning mit seinen Besuchern anzustellen sucht: Sie sollen vor der Leinwand die gleiche Erfahrung machen wie die Menschen auf ihr. Dazu braucht es Abgeschiedenheit, Disziplin und einen Raum, der nur einem Zweck geweiht ist. Ein Kino eben. Man könnte auch sagen: ein Kloster.
Die Menschen auf der Leinwand sind die Mönche der ‚Grande Chartreuse‘, dem Mutterhaus des Kartäuserordens in Frankreichs Alpenmassiv. Seit seiner Gründung 1084 spielt sich das Leben dort mehr oder minder unverändert ab, in Form von Gebeten, Studien, Arbeit und Gottesdiensten, darunter ein zweistündiges Offizium ab Mitternacht, gefolgt von drei Stunden Schlaf und der Morgenmesse. Die Kartäuser sind ein Schweigeorden, gesprochen wird nur beim wöchentlichen Spaziergang. […]
Wahrscheinlich war es gut, daß die Grande Chartreuse 15 Jahre überlegte, bevor sie Gröning angerufen hat. Ohne neu entwickelte High-Definition-Kamera hätte er gar nicht in dem düsteren Gemäuer filmen können; sein Gerät trug gerade die Seriennummer neun. Vor ein paar Jahren hätte es auch kein Publikum für ‚Die große Stille‘ gegeben, aber heute, da wir alle heftig nach den Ursprüngen europäischer Kultur graben, läßt sich wohl keine tiefer liegende Wurzel finden als der Kartäuserorden.
Das erstaunlichste Mitbringsel, das man aus dieser Reise zu den Grundlagen des Christentums vor die Kinotür nehmen kann, dürfte etwas gar nicht Existentes sein: die Abwesenheit von Angst innerhalb der Klostermauern. Dieser Urgrund von Vertrauen in einen gütigen Gott ist Europa im Lauf der Jahrhunderte verloren gegangen, abgegraben von den Ablaßverkäufern und den großen Kriegen und den Predigern des Leistungsethos. In der ‚Großen Stille‘ könnte man fast zum Glauben zurückfinden.“ [Perlentaucher]