in Catholica

Unsortiert

Ein paar ungeordnete Gedanken zu den Diskussionen der letzten Tage:

Das Christentum ist ja nicht interessant wegen seiner Ethik oder Moral. Im Gegenteil erhebt die Sittenlehre selbst keinerlei Anspruch auf Originalität, sondern versteht sich als prinzipiell der natürlichen Vernunft zugänglich. Niemand wird Christ wegen der christlichen Sittenlehre.

Und doch: Sie ist eine konzise und von vorne bis hinten durchdachte Antwort auf die Frage „Wie sollen wir leben?“. Sie beschreibt ein Ideal, immer im Wissen um die Fehlerhaftigkeit der allermeisten Menschen, die sich diesem Ideal allenfalls asymptotisch annähern können.

Der Verweis auf eine Realität, die von diesem Ideal abweicht, hilft dabei keinen Zentimeter weiter. Welchen Sinn hätte es, das Ideal der Realität anzunähern? Die Realität würde ohne Zweifel sofort wieder den gewohnten Abstand zum Ideal annehmen. Es wäre nichts gewonnen, aber viel verloren: Die Welt würde nicht besser, sondern schlechter.

Beispiele dafür sind Legion. Zehn Jahre nach Einführung der geltenden Abtreibungsgesetzgebung sind nach einer Emnid-Umfrage 49 Prozent der Bundesbürger der Meinung,

die geltenden Gesetze erlaubten Abtreibungen bis zum dritten Monat ohne jede Einschränkung. Unter den 14- bis 29-Jährigen sitzen diesem Irrtum sogar 63 Prozent auf. Dagegen wussten nur 28 Prozent, dass Abtreibungen grundsätzlich gegen das Gesetz verstoßen, aber unter bestimmten Voraussetzungen nicht bestraft werden. [Rheinischer Merkur]

Anders als seinerzeit intendiert, sind die Abtreibungszahlen nicht gesunken, sondern relativ zur Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter sogar gestiegen. Hier hat die Realität auf brutale Weise den Abstand zur gesenkten Norm wiederhergestellt.

Hinzu kommt, dass sich nach diesem Muster alles und jedes rechtfertigen lässt. Wenn der Abstand zwischen Ideal und Realität nicht ertragen werden kann, sondern das Ideal auf das Maß der Realität reduziert werden muss, dann gibt es keine gültigen Maßstäbe. Anything goes. Diktatur des Relativismus, anyone?

Das Leben besteht daraus, aus einer Fülle von Möglichkeiten Entscheidungen zu treffen – und damit die Zahl künftiger Möglichkeiten zu verringern. Mit jedem Lebensjahr steigt die Zahl der getroffenen Entscheidungen und sinkt die Zahl der offenen Möglichkeiten. Nur weil heute die meisten Menschen der westlichen Hemisphäre mindestens in jungen Jahren eine nie gekannte Vielzahl von Möglichkeiten haben, die sie niemals auch nur annähernd überblicken können, ist dieses Grundgesetz des Lebens nicht mehr so deutlich zu erkennen wie in früheren Zeiten.

Aber es gilt dennoch. Und es ist ein kollektives wie individuelles Versagen, buchstäblich lebensnotwendige Entscheidungen aufzuschieben oder ganz zu verweigern – angesichts der Fülle von Möglichkeiten und der damit verbundenen Schwere der Entscheidungen. Die Zahl der Möglichkeiten wird auch ohne unser Zutun mit Zeitablauf kleiner, aber diese Form der Passivität vergibt und vertut sie unnötigerweise.

Wie bei einer Pyramide, die sich zur Spitze hin verjüngt, gibt es am Ende des Weges nur noch ganz wenige Möglichkeiten. Das Allermeiste ist entschieden, unzählige Möglichkeiten sind keine mehr – aber das Wenige, was dann bleibt, ist der Gipfel. Und der ist nicht ohne einen hohen Preis zu erreichen.

Zölibat und Ehe haben hier viel mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint.

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Kommentar

  1. Zitat Martin: „Das Christentum ist ja nicht interessant wegen seiner Ethik oder Moral. […] Niemand wird Christ wegen der christlichen Sittenlehre.“

    Dem muss ich (vielleicht sogar überraschenderweise) widersprechen, denn ich bin gewissermaßen der lebende Beweis. Gerade die christlich moralischen Werte führten mich als Atheisten letztendlich zum Glauben, der anfnags nur ein „Sich-entscheiden für ein Bezugssystem“ war (wie Wittgenstein sagt), sich aber zunehmend zu einem gottvertrauenden Glauben entwickelte. Denn ich erkannte, dass das Christentum nicht nur die Grundlage unseres heutigen Wertesystems ist, sondern mir auch aktuelle Lebensfragen beantworten und somit auch ein spirituelles Bedürfnis decken konnte.