Der Freitag resümiert die ehemalige Leitkultur-Debatte und haut dann kräftig auf die Kacke:
„Den Begriffen ‚deutsche Leitkultur‘ und ‚christliches Abendland‘ ist gemeinsam, dass sie als gegeben unterstellen, was es nie gegeben hat. Die Vorstellung einer ethnisch homogenen Nation oder einer nationalen Kultur – sie ist ebenso Legende und Mythos wie die zum Idyll verklärte Wertegemeinschaft, die eine sozial zerklüftete Gesellschaft einzuebnen meint. Um das ‚christliche Abendland‘ steht es kaum besser, außer Christen gab es in Europa immer auch Heiden, Ketzer, Juden, Muslime und Atheisten. Die zitierten Begriffe leben von Chauvinismus und religiösem Dünkel. Mit ihnen sollen in pluralistischen Gesellschaften Mehrheiten zusammengeleimt werden. Tatsächlich bilden sie Instrumente zur Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten, Andersgläubigen und Andersdenkenden.“
Na dann…
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Nur blöd. Es wird so getan, als sei jede Gesellschaft prinzipiell das Gleiche wie eine andere.
Und dass es im Mittelalter Atheisten gegeben haben soll, ist mir auch neu.
(Der liebe Autor sollte übrigens mal nach Saudi-Arabien reisen – und schauen, wie es in einer wahhabitischen Leitkultur so ausschaut…)
„Und dass es im Mittelalter Atheisten gegeben haben soll, ist mir auch neu.“
Gehört aber zu den festen Glaubenswahrheiten des Atheismus – sie sind nur alle von der bösen Kirche umgebracht worden oder haben keine Spuren hinterlassen, um nicht umgebracht zu werden…
Aber gerade Saudi-Arabien ist doch ein Paradebeispiel für eine Art von Gesellschaft, die der Autor eben nicht will: Eine Gesellschaft, in der es nur eine Leitkultur gibt, nach der sich alle richten müssen. Welchen Erkenntnisgewinn würde der Autor also haben?
Eine Leitkultur im Sinne eines Minimums an gemeinsamen Werten halte ich für notwendig. Aber das ist schon sehr gut in der ersten Artikeln des Grundgesetzes zusammengefasst. Braucht es noch mehr?
Und in einem Punkt hat der Autor des Artikels recht: Von der gemeinsamen Nation oder Religion wird immer dann viel gesprochen, wenn in der Gesellschaft Risse sichtbar werden, wenn die Löhne gesenkt werden müssen, um “den Standort zu sichern“, usw. Sie wurden hochgehalten, wenn ein Kaiser mal wieder Soldaten brauchte, um sie in sinnlosen Kriegen zu verheizen…
Deshalb wird mir auch immer ganz anders, wenn die herrschenden Eliten mal wieder die Wichtigkeit der gemeinsamen Nation, Religion usw. ausrufen.
Andererseits: Wenn ich mir die Debatte um die Sterbehilfe anhöre, könnten ein paar fest verankerte katholische Werte nicht schaden.
Die Debatte um die “Leitkultur” findet eigentlich immer statt. Bei allen neu auftauchenden Entwicklungen muss eine Gesellschaft neu klären, wie sie damit umgehen will. Die Entwicklung der Gentechnik zum Beispiel führt dazu, dass wir neu diskutieren, was geht und was nicht.
Diese Diskussion um die Leitkultur scheint mir aber darauf hinauszulaufen, einen sehr umfassenden, für alle zwingend gültigen, sehr lange Zeit haltbaren Satz von “Werten” zu schaffen. Insofern also dem schlechten Beispiel der wahhabitischen Leitkultur folgend.
Und ob es nun im Mittelalter Atheisten gegeben hat oder nicht ist eher nebensächlich. Streich sie, die restlichen Beispiele reichen immer noch.
Der liebe Autor hält zwar die Forderung nach „Einordnung“ in die deutsche Gesellschaft für bizarr – doch was macht ein Staat mit Massen von Bürgern, die nicht nach seinen Werten leben wollen (ich meine jetzt keine religiösen, sondern demokratische)? Was 1998 für den Linksintellektuellen noch lächerlich klang, ist es heute gar nicht mehr.
Außerdem finde ich ziemlich seltsam, dass der Autor versucht, mit dem Hinweis auf Minderheiten jegliche eindeutige Prägung einer Kultur wegzuerklären. Nur weil im mittelalterlichen Europa auch Juden lebten, heißt das nicht, dass die Gesamtgesellschaft nicht christlich geprägt war. (Und es heißt übrigens auch nicht, dass Minderheiten in solchen Gesellschaften automatisch verfolgt werden. Vielmehr kommt es zu solchen Verfolgungen immer dann, wenn die Gesellschaft selbst brüchig wird.)
Aber wenn die Gesamtgesellschaft nicht einmal mehr über eine eindeutige kulturelle Prägung eine Übereinkunft erzielen kann („demokratische Werte“ ist zwar was, aber ziemlich schwach; Sprache und Kultur könnten’s sein, wollen aber die lieben Deutschen nicht; Religion könnte es zwar auch sein, aber das ist ja überhaupt pfui), dann ist Feuer am Dach.
Ach ja, die Franzosen haben übrigens derartige Skrupel nicht: dort wird in der Schule selbstverständlich die französische Literatur und Philosophie und die französische Geschichte gelehrt: auch den Senegalesen, den Marokkanern und den Algeriern – ohne Herumgejaule, dass man womöglich deren Sensibilitäten verletze. Eine Leitkulturdebatte gibt’s dort auch gar nicht, weil es völlig klar ist, was die Leitkultur ist. (In Fr. gibt’s übrigens auch eine religiöse Leitkultur, wenn auch ex negativo: den Laizismus.)
Die Deutschen hingegen, die sich in der Schule schon fast schämen, Schiller zu lesen, weil das irgendwie „deutsch“ ist, haben echt ein Problem – und wir werden sehen, was daraus noch kommen mag…
Natürlich sollten Einwanderer die deutsche Sprache lernen und sich an die im Grundgesetz niedergeschriebenen Grundregeln halten.
Ebenso albern wie ein Verzicht auf diese Forderung ist aber auch die Verschwörungstheorie, durch ein Einwanderungsgesetz hätte Rot-Grün systematisch eine Art Wählerimport gefördert. Dummheiten gibt es auf allen Seiten.
Aber lassen wir die Einwanderungsdebatte doch mal einen Augenblick ruhen. Denn die Leitkulturdebatte ist erst einmal eine Debatte unter Deutschen (egal welcher Blutsherkunft). Wie wollen wir leben? Nach welchen Regeln? Und vor allem: Wie umfassend und wie bindend soll denn so eine Leitkultur sein?
Und da geht es schon los: Der Begriff “Kultur” in diesem Zusammenhang ist viel zu schwammig. Jeder meint damit doch etwas anderes.
Am einfachsten wird noch die Verständigung auf eine gemeinsame politische Kultur sein. Das Grundgesetz wird nur von einer sehr kleinen Minderheit in Frage gestellt. Das wird es immer geben.
Und wenn der Staat wirklich einmal von einer breiten Masse abgelehnt wird, dann wird er auf Dauer keinen Bestand haben. Deshalb geht es auch darum, diese politische Kultur in jeder Generation neu zu verankern.
Sprache und Kultur (jetzt grob als Kunst + Wissenschaft verstanden)? Ja, warum nicht? Das passiert doch schon. Einstein wurde dieses Jahr z.B. auf jeden Fall gefeiert. Und keiner hat sich darüber aufgeregt. Oder habe ich etwas verpasst? Und der Film über das “Wunder von Bern”? Und der Luther-Film (in Ordnung, falsches Forum ;-)?
Mein letzter Schulbesuch ist schon 17 Jahre her. Vielleicht ist heute alles anders, aber wir haben sehr wohl deutsche Geschichte und deutsche Literatur gelernt. (Besonders Literatur zu wenig, wie ich heute finde; das aber nicht, weil wir so viel Literatur aus anderen Ländern gelesen hätten.) Aber ich glaube es eigentlich nicht. Denn ich kenne Lehrer und ich weiß, was die mit ihren Schülern lesen: Deutsche Literatur.
Und wer jault den rum, dass in der Schule keine deutsche Geschichte mehr unterrichten werden soll? Das habe ich noch nie gehört. Obwohl ich jahrelang TAZ gelesen habe (auf das Milieu hast du doch wohl angespielt?)
Bleibt Religion. Da gibt es entweder eine Leitreligion, dann wird sie auch öffentlich wirksam sein. Oder Religion spielt eben keine Rolle mehr, dann lohnt es sich auch nicht, darüber zu diskutieren.
Außerdem ist die christliche Religion doch eindeutig Leitreligion: Sie wird in den Schulen unterrichtet – mit wenigen Ausnahmen , es gibt vom Staat bezahlte Militärseelsorger, derselbe Staat zieht das Geld für die Kirchen ein und bei jeder staatlichen Feierlichkeit sind die Vertreter der beiden großen christlichen Kirchen dabei.
Staatliche Neutralität zu Religionen fände ich übrigens eine gute Leitkultur.
Demokratische Werte findest du schwach? Sehe ich ganz anders. Gesellschaften, die nach demokratischen Werten aufgebaut sind, sind die friedlichsten und erfolgreichsten Gesellschaften, die wir bisher hatten. Das ist gar nichts? Freiheit und Solidarität – keine Werte?
Ich gehöre auch zu denjenigen, die skeptisch werden, wenn mal wieder eine Leitkultur ausgerufen wird. Nicht weil ich gemeinsame Werte für überflüssig halte. Aber ich werde den Verdacht nicht los, das die Wortführer dieser Debatte mehr wollen: Nämlich eine Festlegung jedes Einzelnen auf eine sehr umfassende Leitkultur. Was ist mit denen, die in Teilbereichen von der Leitkultur abweichen wollen? Darf es z.B. noch “wilde” Ehen geben? Oder ist das schon staatsgefährdend?
Das Grundgesetz reicht als Leitkultur, als Fundament der Gesellschaft aus. Auf dieser Grundlage wird es immer wieder Debatten geben und die Gesellschaft wird immer neu einen Konsens über strittige Themen finden. Und diesen Konsens auch ändern.
Wo Du gerade auf Luther anspielst: Heike Schmoll schrieb gestern in der FAZ einen höchst aufschlussreichen Leitartikel, der sich zwar nicht explizit mit der Leitkultur-Frage befasste, aber durchaus als Kommentar dazu gelesen werden kann.