in Catholica

Prophet

Ein vehementes Buch. Meinhard Miegel, notorischer Geradeausdenker und jahrzehntelanger Prophet des demographischen Wandels, sieht eine Epochenwende.

Verblendet von dem historisch einzigartigen Wohlstandsniveau und im Vertrauen auf das alles durchdringende Geflecht von Zwangssolidariäten, meinen viele in den frühindustrialisierten Ländern, auf die Gemeinschaft nicht mehr angewiesen zu sein und ihr Leben nach höchst individuellen Vorstellungen gestalten zu können. Ein Frank Sinatra hat es ihnen tausendmal vorgesungen: I did it my way.

Die Konsequenzen dieses egoistischen, lediglich auf materiellen Werten basierten Verhaltens: Hohe Scheidungsraten, hohe Singleraten, niedrige Geburtenraten. Mit fatalen Folgen für die Sozialsysteme: Denn die Gesellschaft altert und niemand rückt nach. Die gesetzliche Alterssicherung – wie wir sie jahrzehntelang in Deutschland kannten – ist finanziell nicht mehr tragbar. Das gilt auch für den Gesundheitsbereich und die Arbeitslosenversicherung.

So heute eine Rezension im Deutschlandfunk. Bei der Ursachenforschung kommt Miegel auch auf die protestantische Ethik zu sprechen. In den Worten der Rezensentin:

Während in den vergangenen Jahrhunderten der Westen nach Expansion und Wachstum strebte, müsste er sich, so der Autor, nunmehr neuen Tugenden unterwerfen: Bescheidenheit und materieller Bedürfnislosigkeit. So wie sie auch im frühen Christentum verstanden worden sind. Erst mit der Reformation setzte ein Wertewandel in Europa ein, so Miegel.

In seiner Spätzeit schließlich sieht Luther in der Erfüllung innerweltlicher Pflichten den einzigen Weg, um Gott wohlzugefallen. Sein Zeitgenosse Calvin geht mitsamt seiner puritanischen Bewegung noch weiter. Wer nicht arbeitet, sündigt.

Mit diesem Bewusstseinsmodell und dem Glauben an unbändiges Wachstum konnte der Westen jahrhundertelang seine Vormachtstellung behaupten. Auch Gefahren – Miegel sieht diese in Kriegen, Terror, Drogen und Diebstahl – konnten dieser Dominanz letztendlich nichts anhaben.

Am Ende wird Miegel grundsätzlich.

Alles in den westlichen Staaten sei einem Prinzip unterworfen: dem der Flüchtigkeit. Alles ist eine Frage der Zeit. Auch das Verhältnis Erwachsener zu Kindern.

Wozu überhaupt Kinder, wenn diese, kaum dass sie geboren sind, in Krippen, Horten, Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen verschwinden? Auf Anhieb mag manchem die Vorstellung einer Rundumbetreuung recht verlockend erscheinen. Nach einiger Zeit dürften sich jedoch immer mehr fragen, was an diesem Wesen, das sie gezeugt oder geboren haben, ihr Kind sein soll. Die Probleme des Westens sind grundsätzlicher.

Sie werden offenbar, wenn die EU-Kommission nicht nur eine Verminderung der Arbeitslosenquote anstrebt – das ist geboten-, sondern zugleich auch eine Erhöhung der Erwerbstätigenquote, namentlich derjenigen von Frauen. Das ist nicht geboten.

Und bei solchen Sätzen wird die Rezensentin, das ist nur zu verständlich, schließlich ärgerlich. Die messerscharfe Diagnose hört sie gern, allein die Folgerungen daraus schmecken nicht. Also meint sie, Miegel mit dem Hinweis erledigen zu können, das westliche Gesellschaftsbild habe sich eben gewandelt. Pech nur, dass eben jenes gewandelte Bild ein wesentlicher Teil des Problems ist – es passt nicht mehr zur Wirklichkeit. Aber auch dazu hat Miegel etwas zu sagen:

Umfragen zufolge sind zwei Drittel aller Deutschen gegen Kürzungen im Sozialsystem.

Miegel: Auch das ist verständlich. Aber die Wirklichkeit läßt sich hiervon nicht beeindrucken. Sie setzt sich durch, gleichgültig ob zwei Drittel der Deutschen für oder gegen sie sind.

Meinhard Miegel: Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft? Propyläen Verlag Berlin 2005, 312 Seiten, 22 Euro.

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