Sehr schön, wozu das Elefantengleichnis so alles herhalten muss. Ja, ich kenne es. Die jüngste Belegstelle hatte ich erst vor kurzem hier als Link…
Am Ende des zweiten christlichen Jahrtausends befindet sich das Christentum gerade im Raum seiner ursprünglichen Ausdehnung, in Europa, in einer tiefgehenden Krise, die auf der Krise seines Wahrheitsanspruches beruht. Diese Krise hat eine doppelte Dimension: Zunächst stellt sich immer mehr die Frage, ob der Begriff Wahrheit sinnvoller Weise überhaupt auf die Religion angewandt werden könne, mit anderen Worten, ob es dem Menschen gegeben ist, die eigentliche Wahrheit über Gott und die göttlichen Dinge zu erkennen.
Der Mensch von heute findet sich viel eher in dem buddhistischen Gleichnis vom Elefanten und den Blinden wieder: Ein König in Nordindien habe einmal alle blinden Bewohner der Stadt an einem Ort versammelt. Darauf ließ er den Versammelten einen Elefanten vorführen. Die einen ließ er den Kopf betasten. Er sagte dabei: „So ist ein Elefant.“ Andere durften das Ohr betasten oder den Stoßzahn, den Rüssel, den Rumpf, den Fuß, das Hinterteil, die Schwanzhaare. Darauf fragte der König die einzelnen: „Wie ist ein Elefant?“ Und je nachdem, welchen Teil sie betastet hatten, antworteten sie: „Er ist wie ein geflochtener Korb … Er ist wie ein Topf … Er ist wie eine Pflugstange … Er ist wie ein Speicher … Er ist wie ein Pfeiler … Er ist wie ein Mörser … Er ist wie ein Besen.“ Daraufhin – so sagt das Gleichnis – kamen sie in Streit, und mit dem Ruf „Der Elefant ist so und so“ stürzten sie aufeinander und schlugen sich mit den Fäusten zum Ergötzen des Königs.
Der Streit der Religionen erscheint den Menschen von heute wie dieser Streit der Blindgeborenen. Denn blind geboren sind wir den Geheimnissen des Göttlichen gegenüber, so scheint es. Das Christentum befindet sich für das heutige Denken keineswegs in einer positiveren Perspektive als die anderen – im Gegenteil: Mit seinem Wahrheitsanspruch scheint es besonders blind zu sein gegenüber der Grenze all unserer Erkenntnis des Göttlichen, durch einen besonders törichten Fanatismus gekennzeichnet, der das in eigener Erfahrung betastete Stück unbelehrbar für das Ganze erklärt.
Nachtrag: Ralf erklärt, warum das Elefantengleichnis auf einen Gott, der sich offenbart, nicht zutrifft.
Lustig, habe ich auch gerade bei mir aufgegriffen, dieses Geschichtchen (und nicht so kompliziert wie beim Jupp).
Selbst die Römische Kirche hat doch nach anderthalb Jahrtausenden begriffen, was Paulus schon vor zweitausend Jahr erklärt hat: Gott hat mit Seinem Volk einen Sonderweg vor, der die christlichen Missionsversuche widersprechen.
Da ist es also akzeptiert, daß Gott sich unterschiedlich offenbart. Aber anderswo nicht?
Da finde ich es geradliniger, an eine Wahrheit zu glauben, die auf unterschiedliche Weise in die Enge des menschlichen Verstandes gezwängt wird, als an zwei irdisch erfaßbare Wahrheiten, die Gott gültig nebeneinander stellt.
Du bist nicht darauf eingegangen, warum ich den Elephanten ins Spiel gebracht habe: eine Absage an einen interreligiösen Selbstbedienungsladen. Wenn einer anfängt, sich seine Elephantenvorstellung aus Rüssel (ist hohl), Stoßzähnen (ist glatt), Beinen (sind dick) und Schwanz (ist biegsam) zusammenzubauen, kommt er immer weiter weg von der Wahrheit. Auch wenn man sich der Beschränktheit der eigenen Erkenntnis bewußt ist und der fremden Ansicht auch einen Teil göttlicher Wahrheit zugesteht, muß man seinem Glauben treu sein. „Ein Prise Wiedergeburt und noch ein Schuß Tiefenspychologie“ macht alles kaputt.
Diesen Gedanken empfinde ich als untrennbaren Bestandteil des Gleichnisses.
Die Frage, die den Machtwillen des auf die Religionen gedeuteten Elefantengleichnisses aufdeckt, ist: Wer ist denn der König im Gleichnis?
Der Pluralist, der für sich selbst einen überlegenen Standpunkt, was die Wahrheitserkenntnis betrifft, reklamiert. Denn nur er weiß, was die Blinden wirklich vor sich haben …