in Normae

Werte brauchen Gott?

Mich hat das ganze Wertegequassel auch schon lange gestört. Jetzt kommt der erklärte Atheist und WamS-Journalist Alan Posener und bringt auf den Punkt, wo das Problem liegt:

Nein, wenn Gott eine Notwendigkeit ist, dann doch wohl nicht, weil es ohne ihn Fleiß und Disziplin, Liebe und Treue nicht gäbe; sondern weil es ohne ihn (in den Augen dessen, der glaubt) weder die Welt noch die Liebe noch die Menschen noch ein Leben nach dem Tod noch einen Sinn im Leben gäbe. Es ist die große Leistung Martin Luthers, mit dem Protestantismus das Christentum zurückgeführt zu haben auf jene Freiheitsvision des Zeltmachers Paulus, der da sagte: Ihr braucht nicht das Gesetz zu erfüllen, um gottgefällig und also erlöst zu sein. Die Rechnung ist schon durch den Tod Jesu beglichen. Ihr seid frei. Und also könnt ihr das Gesetz nun aus freien Stücken erfüllen, aus Liebe.Man lönnte allenfalls sagen: Gott braucht Werte. Eine eher jüdische Haltung, denke ich, bei der die Erfüllung des Gesetzes den Alltag heiligt. Aber wie man sieht: das Gesetz ist nicht Zweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Beim Slogan „Werte brauchen Gott“ ist es umgekehrt.

Ich bin Atheist. Es könnte mir also gleichgültig sein, wenn die Kirchen Gott derart klein machen, dass er sozusagen eine funktionale Leerstelle für eine Leute ausfüllt, die anscheinend auf Vernunft und Einsicht nicht setzen und an die Wirksamkeit von Strafe und Belohnung nicht glauben. Ist es aber nicht.

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Kommentar

17 Kommentare

  1. Der Herr hat aber Unrecht: Wenn es keinen Gott gibt, wieso soll ich mich dann an irgendwelche Werte halten? Wieso soll ich den Armen und Schwachen schützen oder auf Kosten von ihnen mir Vorteile erarbeiten? Damit ich vor mir selbst sagen kann: Mann, bin ich menschlich? Neee, wenn es keinen Gott geben würde, dann wäre den Armen beizustehen lediglich nett. Als Materialist würde ich ganz nach dem Motto „survival of the fittest“ gehen, das wäre die logische Folgerung dieses Weltbildes.

    Ganz anders beim christentum: Ich brauch gar nicht mit einem richtenden Gott zu kommen, der für die Ausbeutung der Armen etc. mich dann nach meinem Tod bestrafen würde. Wär auch für sich stehend ähnlich bescheuert wie die Werte ohne Gott, denn es wären Werte ohne Sinn: Wir erfüllen sie aus reinem Gehorsam.
    Warum aber nun sind wir verpflichtet, den Nächsten zu lieben? Warum können wir als Christen nicht mit Ellenbogen uns nach vorne arbeiten? Weil jeder, EIN JEDER MENSCH Kind Gottes ist. Das gibt jedem Menschen einen Wert, der von keinem kleinen weltlichen Vorteil aufgewogen werden kann! DAS ist der tiefe Grund, warum es Werte gibt.
    So, meine 2 cent darauf…

  2. @fingo:
    Sie schreiben: „Der Herr hat aber Unrecht: Wenn es keinen Gott gibt, wieso soll ich mich dann an irgendwelche Werte halten? […] Neee, wenn es keinen Gott geben würde, dann wäre den Armen beizustehen lediglich nett. Als Materialist würde ich ganz nach dem Motto „survival of the fittest“ gehen, das wäre die logische Folgerung dieses Weltbildes.“
    Sicherlich – man könnte es auch so betrachten, aber wohl nur bei kurzsichtiger Betrachtung. Alan Posener führt das in seinem Artikel, an ein Zitat von Salman Rushdie anknüpfend, auch sehr plausibel aus:
    [Rushdie:]“… Wenn Sie sich die Geschichte ansehen, werden Sie feststellen, dass es die Erkenntnis, was gut oder böse ist, immer schon vor den jeweiligen Religionen gab. Die Religionen wurden erst im nachhinein von den Menschen erfunden, um diese Idee auszudrücken. Ich jedenfalls brauche, um ein moralisches Wesen zu sein, keinen obersten heiligen Schiedsrichter.“

    Ich auch nicht. Und Sie auch nicht. Sie brauchen nur den Grundsatz: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füge keinem anderen zu.“ Reine Vernunft. Denn selbst der Stärkste, der glaubt, des Mitleids, der Solidarität und der Hilfe der anderen nicht zu bedürfen („Der Starke ist am mächtigsten allein“ sagt Schillers tumber Held Wilhelm Tell) – selbst er kann sich ausrechnen, dass er eines Tages in eine Situation kommen könnte, in der er schwach und andere stark sind. Egoismus und Evolutionsbiologie lassen den Altruismus als gute Überlebensstrategie erscheinen, ganz besonders wenn es KEINEN Gott gibt, der einen zur Not aus der Scheiße raushaut.
    Nun, hier könnte man durchaus einhaken und kritisch vermerken, daß die beste Überlebensstrategie schließlich die wäre, den anderen moralisches Verhalten abzuverlangen, selbst jedoch insgeheim unmoralisch zu handeln – m.a.W.: Heuchelei.

    Nur (und dieses Risiko wird der Heuchler zu bedenken haben): erfahrungsgemäß funktioniert das nicht – zunmindest nicht auf Dauer.

    Ihre andere Anmerkung: „Ich brauch gar nicht mit einem richtenden Gott zu kommen, der für die Ausbeutung der Armen etc. mich dann nach meinem Tod bestrafen würde. Wär auch für sich stehend ähnlich bescheuert wie die Werte ohne Gott, denn es wären Werte ohne Sinn: Wir erfüllen sie aus reinem Gehorsam“ ist an sich das, was Posener bereits sagte:
    Ist Gott denn nichts anderes als eine Art Schuldirektor oder Anstaltsleiter, der Verstöße gegen moralische Regeln ahndet? Es ist genau diese Vorstellung von Gott als notwendiger Voraussetzung der Moral, die mit dem Schwinden des Glaubens an Gott die Moral erschüttert hat …

    Poseners kühne These, daß es nicht „Werte brauchen Gott“ sondern „Gott braucht Werte“ heißen sollte, ist natürlich gewöhnungsbedürftig (ich weiß nicht, ob ich mich daran gewöhnen möchte ;-), aber im Kontext verständlich. Natürlich braucht ein Glaube an Gott auch eine Verbundenheit mit Werten (die, wohl gemerkt, an sich auch ohne Gott sinnvoll argumentierbar sind!), will man nicht aus Gott einen Schreck-Popanz machen. Und das ist doch wohl ein Gottesbild, das wohl keiner von uns anstrebt …

  3. [Rushdie:]“… Wenn Sie sich die Geschichte ansehen, werden Sie feststellen, dass es die Erkenntnis, was gut oder böse ist, immer schon vor den jeweiligen Religionen gab. Die Religionen wurden erst im nachhinein von den Menschen erfunden, um diese Idee auszudrücken. Ich jedenfalls brauche, um ein moralisches Wesen zu sein, keinen obersten heiligen Schiedsrichter.“

    Aber wieso, wenn ich mich und die anderen Menschen nicht als mit etwas höherem zusammenhängend sehe, wieso sollte ich diese dann wohl von Menschen gemachten Regeln befolgen? Wieso bräuchte ihc Ethik, aber keinen Gott? Nur weil es vernünftig ist? Mal kraß gesagt: Was bringt die Vernunft, wenn Sie mit einem Messer im Bauch verrecken, weil ich mir dachte, scheiß auf „was Du nicht willst….“? Und was die Gefahr, daß man einem dann nicht mehr hilft, betrifft: Wenn ich merke, daß es mit mir bergab geht, dann kann ich ja immer noch mir eine Kugel in den Kopf jagen. Ich hatte meinen Spaß, die Scherben kann jemand anders auflesen.
    Außerdem ist es fromme Wundergläubigkeit zu denken, wenn man nett zu allen Menschen wäre, würde sich das immer und in jedem Fall auszahlen. Da gab und gibt es zu viele Beispiele, die das nicht bestätigen.

    Nein, Werte sind nicht ohne einen höheren Sinn arumentierbar.

  4. @fingo:
    Mal kraß gesagt: Was bringt die Vernunft, wenn Sie mit einem Messer im Bauch verrecken, weil ich mir dachte, scheiß auf „was Du nicht willst….“?
    Das ist natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen. Aber wenn jemand „Scheiß drauf!“ denkt, wird ihn vermutlich auch kein lieber (oder eben in solchen Fällen nicht so lieber 😉 Gott daran hindern. Das allein ist also m.E. kein wirklich zugkräftiges Argument.

    Und was die Gefahr, daß man einem dann nicht mehr hilft, betrifft: Wenn ich merke, daß es mit mir bergab geht, dann kann ich ja immer noch mir eine Kugel in den Kopf jagen.
    Ich hab’s zwar noch nicht ausprobiert (und gedenke es auch nicht zu tun) – aber ich glaube: Selbstmord begeht keiner so wirklich gern …

    Außerdem ist es fromme Wundergläubigkeit zu denken, wenn man nett zu allen Menschen wäre, würde sich das immer und in jedem Fall auszahlen.
    Damit haben Sie leider völlig recht! Aber das bestärkt mich in meiner Ansicht (die nicht mit der Ansicht Poseners ident ist!), daß es zwar nicht unumgänglich ist, zur Begründung ethischen Verhaltens einen vergeltenden Gott anzunehmen, daß aber – wenigstens für Grenzfälle – diese Annahme durchaus hilfreich ist. Natürlich könnte ich jetzt Spieltheorie und Rawles‘ Theorie von „Gerechtigkeit als Fairness“ erwähnen und so mein Posting zu stattlicher Länge aufblasen („size matters“ heißt es sprichwörtlich in Amerika – aber ich glaube, die meinen da was anderes :-D). Aber grosso modo ist, glaube ich, schon klar, was ich meine …

    Nein, Werte sind nicht ohne einen höheren Sinn argumentierbar.
    Richtig! Und dieser „höhere Sinn“ muß gefunden werden. Nur fürchte ich, daß er ncht für jeden Menschen in Gestalt eines personal-theistischen Vergelter-Gottes findbar ist. Denken Sie nur z.B. an den Buddhismus, so verlangt dieser wohl unbezweifelbar eine ethische Grundhaltung im Leben. Hier ist der „höhere Sinn“ aber eben die Erreichung des Nirvana, das sonst durch „negatives Karma“ verfehlt wird. Nein – es ist durchaus eine andere Begründung (sogar eine rein säkulare) für ethisches Handeln tragfähig. Fraglich ist nur, wie weit einen eine nicht-transzendentale Begründung seiner Ethik persönlich befriedigen kann. Und da bin ich durchaus skeptisch …

  5. Also erstens denke ich, dargestellt zu haben, daß ich keinen Vergelter-Gott brauche- letzer Absatz in meinem Kommentar. Und zweitens halte ich diese ganze Karma-Lehre erst recht für eine Vergeltungslehre – sie mag nicht persönlich gesteuert sein, aber sie ist eine Vergeltungslehre.

  6. @fingo:
    Also erstens denke ich, dargestellt zu haben, daß ich keinen Vergelter-Gott brauche- letzer Absatz in meinem Kommentar.
    Habe ich auch so verstanden und unterstelle Ihnen auch nicht.

    Und zweitens halte ich diese ganze Karma-Lehre erst recht für eine Vergeltungslehre – sie mag nicht persönlich gesteuert sein, aber sie ist eine Vergeltungslehre.
    Damit haben Sie schon recht. Der Verweis auf die Karma-Lehre war auch nur als Beispiel einer „Gott-losen“ Ethik gedacht.

    Aber um nochmals auf Ihr Eingangsposting zurückzukommen:
    Warum aber nun sind wir verpflichtet, den Nächsten zu lieben? Warum können wir als Christen nicht mit Ellenbogen uns nach vorne arbeiten? Weil jeder, EIN JEDER MENSCH Kind Gottes ist. Das gibt jedem Menschen einen Wert, der von keinem kleinen weltlichen Vorteil aufgewogen werden kann!
    Hier ist natürlich die Grundlage der Ethik nur so tragfähig, wie ich ebendiese Grundlage glaube.

    Während ein Glaube an einen Gott, der Vergelter ist (nach katholischer Dogmatik ist dieser Vergelter-Gott unter Verweis auf Hebr. 11,6 „…wer zu Gott kommen will, der muß glauben, daß er ist und daß er denen, die ihn suchen, ihren Lohn gibt“ heilsnotwendige Glaubenswahrheit!) und daher zu einem Gebotsgehorsam führt, im Effekt auch unter Weglassung des Gottesglaubens „funktionieren“ kann (hier wird der im Jenseits sanktionierende Gott eben durch die soziologische Erfahrung ersetzt, daß auch der Stärkste einmal hilfsbedürftig und abhängig ist), gilt das mit dem Satz der Gotteskindschaft nicht ebenso. Wenn ich keinen Gott habe, dann kann ich nur pathetische Appelle über die Gleichheit der Menschen aussprechen, aber der Wegfall des Glaubens entzöge hier m.E. auch der darauf fußenden Ethik den Boden.

    Sie können natürlich argumentieren, daß all das dem Glaubenden gleichgültig sein kann, da er ja um seine Gotteskindschaft wisse etc. — das ist ohne Zweifel richtig, löst uns aber nicht das Problem, wie ich ein — doch evidenterweise vorkommendes, und zwar häufig vorkommendes! — ethisches Verhalten des Nicht-Glaubenden begründen kann.

    Hier gibt es offenbar Mechanismen, die auch ohne Glauben (im „christlich-abendländisch“ Sinne) wirken. Denken Sie nur an die Schule von Epikur, an die Stoa, an Kants kategorischen Imperativ: hier greift m.E. die Formulierung „Neee, wenn es keinen Gott geben würde, dann wäre den Armen beizustehen lediglich nett“ einfach zu kurz.

    Und insbesondere heute, in einer Zeit, in der ein erheblicher Teil der Bevölkerung keinen Glauben an einen personalen Gott im christlichen Sinne mehr hat, hingegen von islamischen bis ostasiatischen Einflüssen bis zu esoterischen Wellnessreligionen so ziemlich alles „am Markt“ ist, ist das Problem einer Ethik-Begründung umso drängender.

  7. das hier schon öfter gebrachte Rushdie-zitat aus dem Spiegel:
    „Wenn Sie sich die Geschichte ansehen, werden Sie feststellen, dass es die Erkenntnis, was gut oder böse ist, immer schon vor den jeweiligen Religionen gab. Die Religionen wurden erst im nachhinein von den Menschen erfunden, um diese Idee auszudrücken. Ich jedenfalls brauche, um ein moralisches Wesen zu sein, keinen obersten heiligen Schiedsrichter.“
    ist doch wie das gesamte Interview mit ihm doch reichlich platt und widersprüchlich. Letztlich muss Rushdie in diesem Interview selber eingestehen, dass er eben nicht entscheiden kann, was in den brennenden weltpolitischen Fragen „gut“ und „böse“ ist.; schon sehr seltsam…

  8. LePenseur, schön daß sie Ihre Meinung so ausführlich dargestellt haben.
    Ich will auch nicht sagen, alle Atheisten seien charakterschweine oä. Nee, da kenn ich auch persönlich zu viele Gegenbeispiele. Aber für mich zieht da dann dieses „Teile Der Wahrheit“-Wissen, was die Kirche seit V2 lehrt.

    Nennen Sie mich stur (bin ich auch), aber ich bleibe trotzdem bei meiner Meinung. Schon als Atheist fand ich, daß die Philosophischen Systeme bei der Erklärung guten Verhaltens zu kurz greifen, genauso wie Konfuzius, wenn er postuliert, daß streben nach Tugenden glücklich macht.

    Ich stimme Ihnen aber zu, daß in einer Gesellschaft, in der recht viele Kulturen aufeinander treffen, sich diese Frage sicherlich stellt.

    Aber letztendlich ist der Hintergrund für dieses Interview ja dieser ganze „Ethik“-Quark, der nun an Berliner Schulen kommen soll – ein Fach, daß ich so unnütz wie einen Kropf finde, da ich es bisher eigentlich sehr gut fand, diese Ethik als wichtigen Zusatz beim sonstigen Unterricht mitzubekommen (wenn man in Geschichte/Sozialkunde die Entwicklung von Gedanken wie Naturrecht etc. behandelte, wenn man in Englisch durchaus sozialkritische Werke woe „Grapes of Wrath“ liest, wenn man in Deutsch in der Grundschule „Als Hitler das rosa Kanninchen stahl“ liest… da heißt es wirklich „non scolae set vitae discimus“) und außerdem es lächerlich ist ,wenn man den Fehler, den man bei Philosophiekursen und Informatik machte, wiederholt: Lehrer, die keine spezifische Ausbildung für dieses spezielle Fach, sondern ein bloßes Interesse daran haben, dafür abzustellen. Weiterhin ist es imho falsch, wenn man den Staat bzw. das Land mit seinen wechselnden Regierungen im Lehrplan Ethik festlegen läßt, was recht und was falsch ist.

  9. @fingo:
    Wenn ich sie sinngemäß zitieren darf:
    Fingo, schön daß sie Ihre Meinung so ausführlich dargestellt haben.
    Oder wie wir in Österreich sagen: „durch’s Reden kommen die Leut‘ z’samm“.

    Die Sache mit dem Ethikunterricht in Berlin/Brandenburg würde mir auch Magengeschwüre bereiten – weil dann nämlich die religiös-kirchenmäßige Indoktrinierung (pardon l’expression) einfach durch eine staatlich-zeitgeistig-schulverwaltungsmäßige ersetzt wird. Und – wie Sie sicher schon erkannt haben werden – gegen Indoktrinierungen (insbesondere Unmündiger) habe ich ganz prinzipiell etwas.

    Das ist nicht unbedingt ein Argument auch gegen den Religionsunterricht, wohl aber ein solches gegen einen angeblich „wertfreien“ (ich fürchte aber: bloß wertlosen!) „Ethikunterricht“, in dem ein Scheindiskurs unter Altmarxisten und Alt-Achtundsechzigern stattfindet, aufgemotzt mit ein paar linksliberalen Feigenblättchen, daß die Tendenz nicht gar so auffällig hervortritt … Also, da ist mir ein dröger Katechismus-Unterricht (den es so ja – leider! – auch überhaupt nicht mehr gibt) noch sympatischer …

    Mein Vorschlag wäre (aber was habe ich als geographisch völlig unzuständiger schon vorzuschlagen, ich weiß -): Ethik gehört als Fach zunächst in die Philosophie. Nur sollte man sich auch die Mühe nehmen, dieses Fach wirklich mit Fachkräften zu besetzen, und nicht nur „Restpostenverwertung im Lehererkollegium“ betreiben. Philosophie ist m.E. eines der zentralen Fächer jeder Oberstufe!

    Daneben sollte es einen Religionsunterricht geben, durchaus einen von jeder Religionsgemeinschaft getrennt – aber mit zwei klaren Vorgaben:

    1. Jede Religionsgemeinschaft ist verpflichtet, ihre Lehraussagen als klar „abprüfbares“ Wissen zu vermitteln. Gegen den heute (und auch schon zu meiner Schulzeit, leider!) üblichen betulichen Schmus bin ich etwas allergisch. Nein: die Katholiken sollen wissen, „was im Katechismus steht“, detto die Protestanten etc.

    2. Der Religionslehrer ist aber auch verpflichtet, einen Teil der Zeit mit der (möglichst objektiven, „katechismusmäßigen“) Darlegung anderer Glaubenssysteme zu verbringen – kein Ökumenismusgeschwafel, sondern Information.

    Das, und die „Schule des Denkens“ im Philosophieunterricht sollte die Schüler befähigen, selbst eine eigenverantwortliche Entscheidung zu finden – denn darauf kommt es doch letztlich an.

    Irgendwelche zeitgeistige Vernebelungsaktionen auf dem „Niveau“ eines Spiegel-Feuilletons braucht dagegen kein Schwein …

  10. Sicher gehört die Ethik ihrem Wesen nach zur Philosophie. Aber nur philosophisch eine religionsfreie Ethik zu begründen, ist offensichtlich auch mit «goldener Regel» ziemlich unmöglich.
    Wenn selbst ein Aristoteles zu Wertungen kommt, die uns Heutigen nach zweitausend Jahren christlicher Belehrung indiskutabel erscheinen, etwa daß man Sklaven und Kindern kein Unrecht zufügen könne, weil die wie ein Teil des Hausherrn seien (Nikomachische Ethik),
    wenn man die gegenwärtigen Auseinandersetzungen sieht, wen man als Menschen anerkennen soll – ungeborene Kinder haben kaum noch eine Chance, Schwerstbehinderte sind noch in der Diskussion –,
    dann bin ich dankbar dafür, daß ich in der jüdisch-christlichen Offenbarung überzeugendere Maßstäbe habe.

  11. @Peregrinus:

    Aber nur philosophisch eine religionsfreie Ethik zu begründen, ist offensichtlich auch mit «goldener Regel» ziemlich unmöglich.

    Nun, es gibt hier natürlich gewisse Abstriche gegenüber einer religiös fundierten Ethik, wobei aber fraglich bleibt, ob der Verlust kultischer Anbetungsgebote und sexueller Restriktionen wirklich ein solcher ist (darüber werden die Meinungen wenigstens geteilt sein). Für alle anderen Gebote findet man mit der „goldenen Regel“ im Prinzip das Auslangen.

    Wenn selbst ein Aristoteles zu Wertungen kommt, die uns Heutigen nach zweitausend Jahren christlicher Belehrung indiskutabel erscheinen, etwa daß man Sklaven und Kindern kein Unrecht zufügen könne, weil die wie ein Teil des Hausherrn seien (Nikomachische Ethik) …

    Jede Ethik ist in gewissem Sinne ein Kind ihrer Zeit und jede Ethik wird durch die persönliche Bequemlichkeit korrumpiert. Da Aristoteles die Vorteile von Sklaven durchaus zu schätzen wußte (er war ja keiner), beeinflußte ihn dies in seinem ethischen Urteil. Und so log er sich seine Argumente zurecht — was wohl gemerkt heute auch nicht anders gemacht wird, auch in religiös fundierten ethischen Systemen und auch in christlich fundierten ethischen Systemen. Denken Sie nur an die von den USA reichlich mit christlichen Motiven angereicherte „Kreuzzug gegen Terrorismus“-Kampagne …

    … dann bin ich dankbar dafür, daß ich in der jüdisch-christlichen Offenbarung überzeugendere Maßstäbe habe

    Na, da müssen Sie aber dezent eine ganze Menge Offenbarung ausblenden. Zunächst einmal sind die ethischen Anweisungen im Alten Testament (die ebenso von de facto Sklavenhaltung ausgehen wie Aristoteles) alles andere als vorbildlich: da wird aus Gründen kultischer und religiöser Reinheit die Ausrottung ganzer Völkerschaften befohlen und als gottgefälliges Werk bezeichnet. Da wird eine doppelte Ethik, eine für Religions- und Volksgenossen verkündet und für den Rest der Menschheit vertreten, usw. usf. …

    Doch auch im Neuen Testament zeigen die Gleichnisreden Jesu oft erschreckende Auffassungen. Wenn man freilich so circa alles bis auf die Bergpredigt ausblendet, dann kommt man so halbwegs durch, aber eben auch nur so halbwegs (nicht umsonst werden die bekannten „Stehsätze“ der Bergpredigt, z.B. der von der Feindesliebe, zwar gerne zitiert, aber in der Kommentierung fast bis zum Gegenteil verbogen — weil sie in einer realen Gesellschaftsordnung einfach zu unerträglichen Verhältnissen führen würden).

    Also gerade die „jüdisch-christliche Offenbarung“ ist hier als Argumentationshilfe nicht besonders geeignet — jedenfalls ungleich weniger als die christliche Glaubenstradition, insbesondere in ihrer Veränderung durch leitende Grundsätze des Humanismus und der Aufklärung, die in den letzten Jahrhunderten (und insbesondere den letzten Jahrzehnten) allmählich rezipiert wurden. Aber diese Ethik ist im Prinzip schon eine mehr oder weniger philosophisch begründete, mit ein paar religiösen Versatzstücken und Idiosynkrasien, wie z.B. den Gebot der Sonntagsmesse, Verbot der Ehescheidung etc.


  12. Au penseur:

    – .. wobei aber fraglich bleibt, ob der Verlust kultischer Anbetungsgebote und sexueller Restriktionen wirklich ein solcher ist.

    Meinem Schöpfer zu danken halte ich durchaus für moralisch begründet; und nach viel Arbeit als Therapeut und Berater muß ich feststellen, daß eine Moral ohne die sexuellen Restriktionen ziemlich viele Menschenleben ruiniert.

    – Für alle anderen Gebote findet man mit der “goldenen Regel” im Prinzip das Auslangen.

    Den ungeborenen Kindern jedenfalls reicht das “im Prinzip” nicht.

    – .. die von den USA reichlich mit christlichen Motiven angereicherte “Kreuzzug gegen Terrorismus”-Kampagne …

    Daß US-Fundamentalismus nichts mit Christentum zu tun hat, auch wenn er «christliche Motive» zum Dekorieren verwendet, sollte mittlerweile bekannt sein.

    – .. die ethischen Anweisungen im Alten Testament (die ebenso von de facto Sklavenhaltung ausgehen wie Aristoteles) …

    Sie gehen davon aus, aber entrechten die Sklaven nicht wie Aristoteles, sondern werten ihn als Menschen. Schon dort, und erst recht im NT, hat «servus res est» keine Chance.

    – .. sind die ethischen Anweisungen im Alten Testament alles andere als vorbildlich: da wird aus Gründen kultischer und religiöser Reinheit die Ausrottung ganzer Völkerschaften befohlen …

    Den Umgang des AT mit den Amalekitern zu deuten, überlasse ich lieber den Theologen. Aber das hat nichts mit ethischen Anweisungen für die Nachgeborenen zu tun.
    Auch im AT darf man Haggada und Halacha unterscheiden; in der at.lichen Halacha gibt es im Gegenteil ausgeprägte Rücksicht für die Fremdlinge.

    – .. gerade die “jüdisch-christliche Offenbarung … — jedenfalls ungleich weniger als die christliche Glaubenstradition …

    Ich bin katholisch; auf eine Unterscheidung von Offenbarung und Glaubenstradition lasse ich mich nicht ein.

    – .. die christliche Glaubenstradition, insbesondere in ihrer Veränderung durch leitende Grundsätze des Humanismus und der Aufklärung …

    Ab und zu braucht das Christentum eine Neubesinnung; das ist im Mittelalter durch die Gottesfriedens- und Armutsbewegung geschehen, später ein wenig durch den christlichen Humanismus, zuletzt peinlicherweise durch die Aufklärung, die in beachtlicher Bemühung um die Coïncidentia oppositorum genuin christliche Anliegen mit durchaus unchristlichen verband. Sie war Anlaß für uns zur Neubesinnung auf unsere Tradition, aber nicht zu deren Veränderung (Adam Smith zum Beispiel haben wir natürlich draußen vor gelassen, wenn er auch leider manchmal ins Kirchenvolk überschwappt).

  13. PS.
    – Da die Vorteile von Sklaven durchaus zu schätzen wußte (er war ja keiner), beeinflußte ihn dies in seinem ethischen Urteil. Und so log er sich seine Argumente zurecht.
    Aristoteles stellt hierin Sklaven und Kinder gleich (und Kind war er mal gewesen), Frauen stellt er etwas besser (Frau war er auch nie). Es ist also ungerecht, ihm eine zurechtgelogene «er war ja keiner»-Moral anstelle des durchgehaltenen Gedankengangs zu unterstellen.
    Für «Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten» findet man in der Tat «mit der “goldenen Regel” das Auslangen».

    Wenn selbst bei einem Aristoteles die Ethik so entscheidend «ein Kind ihrer Zeit» ist – wessen philosophisch begründetem Urteil könnte man da vertrauen?

  14. Meinem Schöpfer zu danken halte ich durchaus für moralisch begründet; und nach viel Arbeit als Therapeut und Berater muß ich feststellen, daß eine Moral ohne die sexuellen Restriktionen ziemlich viele Menschenleben ruiniert.

    1. Wenn es einen Schöpfer gibt, dürfen Sie ihm ruhig danken. Da Sie aber schwerlich beweisen können, daß es einen gibt, dürfen Sie andere, die dies glauben, auch nicht dazu zwingen. Und genau das wurde von Augustinus mit seiner abstrusen Interpretation des „compelle intrare“ betrieben und war spätere Grundlage der Inquisition!
    2. „Moral ohne sexuelle Restriktionen“ – davon redet ja keiner! Das wäre das alte „Wer zweimal mit der gleichen pennt gehört schon zum Establishment“ der 68er-Generation. Umgekehrt: sind Sie wirklich ganz sicher, daß gültig geschlossene Ehe nie (außer durch den Tod) geschieden werden dürfen? Auch wenn der Ehepartner mit einem neuen Partner auf und davon ist? (mich betrifft die Frage eher theoretisch, da ich seit vielen Jahren verheiratet bin und meine Frau bislang keine Fluchttendenzen gezeigt hat 😉 Und sind Sie als Therapeut ganz sicher, daß eine Ehe, die von zwei sexuell völlig unerfahrenen Partnern eingegangen wird, das anzustrebende Ideal darstellt – nein, muß ja nach der katholischen Morallehre heißen: die selbstverständliche und notfalls durch gesellschaftlichen Druck herzustellende Norm! (Gott sei Dank spielt’s das heute nicht mehr, kann ich nur sagen …)

    Den ungeborenen Kindern jedenfalls reicht das “im Prinzip” nicht.

    Warum? Auf die Frage „würden Sie es begrüßen, wenn Ihre Eltern Sie abgetrieben hätten“ wird wohl spontan in den meisten Fällen ein entschiedenes „Nein!“ kommen. Also klassischer Fall von goldener Regel, würde ich sagen. Daß Eltern in bestimmten Fällen sich nicht daran halten ist natürlich richtig, aber das Problem kann keine Ethik der Welt lösen. Es ist ein Wesensmerkmal einer Sollensordnung, daß sie zwar gesollt, aber nicht notwendig verwikrlicht ist.

    Daß US-Fundamentalismus nichts mit Christentum zu tun hat, auch wenn er «christliche Motive» zum Dekorieren verwendet, sollte mittlerweile bekannt sein.

    Na, das sagen Sie einmal einem Bible-Belt-Protestanten der USA! Viel Spaß … Und das dahinterliegende Problem ist: wie beweisen Sie ihm, daß er nichts mit Christentum zu tun hat?

    Sie gehen davon aus, aber entrechten die Sklaven nicht wie Aristoteles, sondern werten ihn als Menschen. Schon dort, und erst recht im NT, hat «servus res est» keine Chance.

    Sicher, die Stellung von Sklaven im alten Israel war eine Spur besser, als in Griechenland. Aber es war – auch noch in Gleichnissen Jesu! – eine untergeordnete, völlig fremdbestimmte Stellung. (vgl. Lk 17, 7-9: „Wer unter euch hat einen Knecht, der pflügt oder das Vieh weidet, und sagt ihm, wenn der vom Feld heimkommt: Komm gleich her und setz dich zu Tisch? Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: Bereite mir das Abendessen, schürze dich und diene mir, bis ich gegessen und getrunken habe; danach sollst du auch essen und trinken? Dankt er etwa dem Knecht, daß er getan hat, was befohlen war?“). Nicht böse sein – eine Ethik sieht da für mich etwas anders aus.

    Den Umgang des AT mit den Amalekitern zu deuten, überlasse ich lieber den Theologen. Aber das hat nichts mit ethischen Anweisungen für die Nachgeborenen zu tun.

    Es waren nicht nur die Amalekiter … lesen Sie z.B. 4. Mose 21, 1-3; 4. Mose 21, 34-35; 4. Mose 31, 3.7.9-10.14-15.17-18; 4. Mose 33, 52.55; 5. Mose 7, 1-3; 5. Mose 31, 3-6; Josua 1, 16.18; Josua 6, 21; Josua 7, 24-26a; Josua 8, 22-28; Josua 11, 8-15; Saul fällt bei Gott in Ungnade, weil er nicht alles mit Stumpf und Stiel ausgerottet hatte 1. Samuel 15, 7-9.33.3). Also – so etwas „überlasse ich nicht den Theologen“, sondern nenne es schlicht und ergreifend Greueltaten! Und was die Nachgeborenen betrifft: da die angebliche göttliche Anweisung regelmäßig lautete, restlos alles umzubringen, in milderen Fäällen auch nur die Männer und Knaben, wird es aus bekannten Gründen nicht zu viel „Nachkommen“ gekommen sein …

    Ich bin katholisch; auf eine Unterscheidung von Offenbarung und Glaubenstradition lasse ich mich nicht ein.

    Gut gekontert! Aber auch dann können Sie nicht bestreiten, daß die schriftliche Offenbarung jedenfalls ethisch höchst zweifelhafte Werte vertritt (s.o.). Übrigens habe ich mit „Glaubenstradition“ nicht den katholischen Terminus im Auge gehabt, welcher nach Ansicht der RKK als gleichberechtigter Teil der Offenbarung neben der Bibel steht. Ich meinte damit die Tradition, die sich in deutlich nachapostolischer Zeit in der faktischen Uminterpretation der überlieferten Glaubenslehre zutrug (wer Schriften aus der Zeit von Augustinus mit denen der Neuzeit und insbes. des 20. Jh. vergleicht weiß, wovon ich spreche).

    Wenn selbst bei einem Aristoteles die Ethik so entscheidend «ein Kind ihrer Zeit» ist – wessen philosophisch begründetem Urteil könnte man da vertrauen?

    Nun, da gäbe es genug. Kant fällt mir da z.B. mal ein. Weitere Hinweise finden Sie bei http://de.wikipedia.org/wiki/Ethik zuhauf. Daß ein „Philosoph der ersten Stunde“ wie Aristoteles es (fast) noch ist, Unvollkommenheiten in seiner Philosophie aufweist, sollte uns nicht verwundern. Und so, wie wir in der Erkenntnistheorie etc. mittlerweile Aristoteles weit hinter uns gelassen haben, so auch in der Theorie der Ethik. Aber ich gebe Ihnen Recht insoweit, als Zeitgenossen die Fehler ihrer Zeit nicht erkennen. Ob also Habermas einmal in den Olymp der Ethiker aufgenommen werden wird, können wir Zeitgenossen schwerlich wissen.

  15. Au penseur:

    Noch einmal: Haggada ist etwas anderes als Halacha.
    Wenn Jesus beschreibt, wie seine Zeitgenossen ihre Sklaven behandeln, dann ist das die Realität seiner Zeit; darin ist nichts an Rechtfertigung dieser Praxis enthalten.
    Der Grundunterschied bleibt: der Sklave, der bei Aristoteles ein Stück seines Herrn ist und bei den Römern «res», ist in der Bibel uneingeschränkt Mensch.

    Die Goldene Regel betrachte auch ich als grundlegend für die Moral (wenn sie auch nicht alle Fragen klärt); aber das Problem bleibt, daß verschiedene Menschen aus ihr sehr verschiedene Schlüsse ziehen.

    – Und so, wie wir in der Erkenntnistheorie etc. mittlerweile Aristoteles weit hinter uns gelassen haben, so auch in der Theorie der Ethik.

    Finden Sie? Ich habe eher den Eindruck, daß die allermeiste Philosophie der Neuzeit immer nur die alten Griechen neu variiert. Und dummerweise hat ein großer Teil der neueren Philosophen (Positivisten und dergleichen) sich dazu ausgerechnet den Langweiler Protagoras ausersehen.
    Und Kant? Sein Kategorischer Imperativ ist doch nichts anderes als die kompliziert ausgedrückte Goldene Regel – kompliziert und darum um so leichter umdeutbar (was wäre, wenn jemand im Hochgefühl der eigenen Kraft das Gesetz des Stärkeren zu jener Maxime erklärte?).
    Und sein Versuch, die Gültigkeit seines Imperativs aus dessen Wesen abzuleiten, ist ungefähr so schlüssig wie der ontologische Gottesbeweis. Grundvoraussetzung für Kants Imperativ ist, daß man dem anderen den gleichen menschlichen Wert zubilligt wie sich selbst. Warum soll man das? Nun, wegen der Goldenen Regel natürlich. Und schon haben wir einen schönen Zirkelschluß.

  16. Wenn Jesus beschreibt, wie seine Zeitgenossen ihre Sklaven behandeln, dann ist das die Realität seiner Zeit; darin ist nichts an Rechtfertigung dieser Praxis enthalten.
    In meinem Lukas-zitat Jesus nicht das Verhalten, sondern stellt es geradezu als richtig hin (besonders wenn Sie den folgenden Vers berücksichtigen, in dem analoges Verhalten gegenüber Gott eingefordert wird).

    Der Grundunterschied bleibt: der Sklave, der bei Aristoteles ein Stück seines Herrn ist und bei den Römern «res», ist in der Bibel uneingeschränkt Mensch.
    Das war eben ovn Land zu Land verschieden und ist kein brauchbares Unterscheidungskriterium zwischen biblischer und nicht-biblischer Moral. Sie finden z.B. im alten Ägypten ebenso de facto keine Sklaverei, sondern ähnliche Verhältnisse wie in Israel. In Babylon sieht es da ganz anders aus – da war Sklaverei völlig üblich. Die alten Germanen kannten sie wiederum nicht (nur eine Art „Frondienst“), dafür blühte die Sklaverei im christianisierten England des 10./11. Jhds. auf … Wir sollten uns da auch nicht in ein Detailproblem verbeißen, das für den Thread eigentlich nur periphär relevant ist.

    Ich habe eher den Eindruck, daß die allermeiste Philosophie der Neuzeit immer nur die alten Griechen neu variiert.
    Nihil novum sub sole, wußten schon die alten Römer (die diese Sentenz vermutlich bei den Griechen gehört hatten ;-))

    Und dummerweise hat ein großer Teil der neueren Philosophen (Positivisten und dergleichen) sich dazu ausgerechnet den Langweiler Protagoras ausersehen.
    Also ich finde dessen Skeptizismus ausgesprochen kurzweilig (aber Geschmäcker sind eben verschieden, wie ich ganz relativistisch sofort konzediere).

    Grundvoraussetzung für Kants Imperativ ist, daß man dem anderen den gleichen menschlichen Wert zubilligt wie sich selbst. Warum soll man das? Nun, wegen der Goldenen Regel natürlich. Und schon haben wir einen schönen Zirkelschluß.
    Natürlich: jede Ethik lebt von Verallgemeinerung, denn sie betrifft immer die „Allgemeinheit“ (der Schiffbrüchige auf der einsamen Insel braucht im Grunde keine Ethik). Allgemeinheit setzt natürlich voraus, daß die, die die allgemeinheit bilden, auch etwas (genauergesagt: ziemlich viel!) mit einander „gemein“ haben müssen.

    Außerdem ist der kategorische Imperativ – wie Sie richtig erwähnten – im Grunde nichts anderes als die gute alte „goldene Regel“ und beruft sich nicht bloß auf sie. Identität ist jedoch kein Zirkelschluß.

    P.S.: Da ich nicht weiß, ob Sie mein anderes Posting (14 Sep 2006 at 10:54 auf http://commentarium.de/2006/09/11/spaemann-im-spiegel/) gelesen haben, mein Hinweis: lesen Sie den dort erwähnten Link auf eine interessante Darstellung einer nicht-religiösen Ethik-Begründung.

  17. Mon très cher penseur,

    zwei Klärungen noch:
    Beim eigentlichen Immanuel ist die Erzählung haggadisch (so werden Sklaven behandelt), die Anwendung halachisch (so sollt ihr Euch Gott gegenüber verhalten) – so wie in allen moralischen Gleichnissen des NT.
    Wenn ich mit meinem grobschlächtig-neuzeitlichen Denken die Subtilität der Antike recht verstehe, exemplifiziert das Gleichnis die Goldene Regel: da ihr eure Sklaven so behandelt, müßt ihr euch Gott gegenüber so verhalten, wie ihr es von euren Sklaven euch gegenüber verlangt.
    Beim sekundären Immanuel besteht der Zirkel darin, daß der Kategorische Imperativ letztlich die Goldene Regel ist, seine Gültigkeit aber so begründet wird, daß dabei die Goldene Regel vorausgesetzt ist.

    Nachdem unsere Diskussion über Höcksken längst zu Stöcksken gelangt ist,
    nachdem auch der Hausmeister des Blogs sie nun in die Abstellkammer befördert hat,
    schlage ich vor, sie zu beenden.

    Monsieur mon adversaire,
    Votre bon adversaire
    Peregrinus in interreti