in Catholica

Die Gottesfrage

Der eigentliche Grund in den Gründen gegen das Bekenntnis zur Jungfräulichkeit Marias liegt nicht im Bereich historischer (exegetischer) Erkenntnis, sondern in weltbildlichen Vorgaben; die exegetischen Gründe explizieren diese Vorgaben mit den Mitteln des historischen Denkens, ohne selbst von diesem her zwingende Geltung zu haben. […] Die Ursache des Nein liegt im Weltbild, aber dessen Folgen berühren das Gottesbild. Der eigentliche Disput findet also nicht, wie es meist hingestellt wird, zwischen historischer Naivität und historischer Kritik statt, sondern zwischen zwei Vorstellungen vom Verhältnis Gottes zu seiner Welt. Denn in der Vorstellung, daß das weltlich ganz Unwahrscheinliche auch das für Gott Unmögliche sei, steckt die stille Voraussetzung, daß Gott die irdische Geschichte nicht erreichen kann und sie ihn nicht; sein Einflußfeld wird auf den geistigen Bereich beschränkt. Damit ist man aber bei einer heidnischen Philosophie angelangt, wie Aristoteles sie mit einer einzigartigen Konsequenz durchgearbeitet hat […] So geht es hier, wenn man Voraussetzungen und Konsequenzen des Ganzen nachgeht, keineswegs um Beiläufiges, sondern um die zentralen Fragen: Wer war dieser Jesus?, wer oder was ist der Mensch?, letztlich aber um die Frage aller Fragen: Wer oder was ist Gott? […] Ist Gott irgendwo eine Tiefe des Seins, die sozusagen alles unterspült, man weiß nicht recht wie, oder ist er der Handelnde, der Macht hat, der seine Schöpfung kennt und liebt, ihr gegenwärtig ist, in ihr wirkt, immerfort, auch heute?


Joseph Ratzinger: Die Tochter Zion, S. 58f.

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