Zuletzt habe ich mich an dieser Stelle über binäres Denken und die zunehmende Polarisierung beschwert. Doch wie fast alles im Leben hat auch die Polarisierung zwei Seiten.
Ich kann mich noch gut an den Bundestagswahlkampf 1976 erinnern. Damals war ich sieben Jahre alt und großer Fan von Bundeskanzler Helmut Schmidt. „Freiheit statt Sozialismus“ lautete seinerzeit der zentrale Slogan der CDU. Bei der CSU hieß die Formulierung „Freiheit oder Sozialismus“. Das waren doch mal Alternativen.
Man kann sich das heute vielleicht nur noch schwer vorstellen, aber wir hatten Mitte der 70er ein Dreiparteiensystem aus CDU/CSU, SPD und FDP. Die SPD war wie heute im linksautoritären Feld positioniert, die FDP seit Beginn der sozialliberalen Koalition in meinem Geburtsjahr 1969 im linksliberalen Feld. CDU/CSU deckten die beiden rechten Politikfelder ab. Dank eines Bundeskanzlers, der auch bürgerliche Wähler ansprach, und der rechtsliberalen Restbestände in der Wählerschaft der FDP hatten SPD und FDP zusammen eine knappe Mehrheit gegen CDU/CSU.
„Freiheit statt Sozialismus“ war als Slogan ganz klar auf jene Wähler der Mitte gemünzt, die sich mit dem linksliberalen Projekt (das damals nicht so hieß) gerade wegen seines linksautoritären Übergewichts nicht anfreunden konnten. Fast hätte es zu einer Mehrheit für den Kanzlerkandidaten Helmut Kohl gereicht. Die Polarisierung war damals ähnlich krass wie heute, und es ging ja auch um etwas. Dieser Slogan brachte das ganz gut auf den Punkt, auch weil sich die SPD damals wie heute zu einem gewissen Demokratischen Sozialismus bekannte.
Nach 1989 brachte dieses Bekenntnis die SPD zunehmend in Schwierigkeiten, als sich eine weitere Partei mit den gleichen drei Buchstaben in anderer Reihenfolge etablierte, die sich ebenfalls dazu bekannte. Gerhard Schröder musste seinerzeit, Ende der 90er, um seine Partei regierungs- und mehrheitsfähig zu machen, weit in die bürgerliche Mitte rücken und die „Neue Mitte“ ausrufen. Linke Wähler zog damals die PDS ab, die wiederum keine Machtperspektive zur Ablösung der Regierung Kohl bot.
Als die SPD 2005 den Mittekurs Schröders nicht mehr mittragen wollte, war seine Kanzlerschaft beendet. Da sich in einem Fünfparteiensystem nicht mehr ohne Weiteres Zweiparteienkoalitionen bilden lassen, kam es damals zu einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Kanzlerin Angela Merkel. Das war im Prinzip eine Mitte-Links-Koalition.
In den 80ern hatte Heiner Geißler als Generalsekretär der CDU die Lagertheorie entwickelt. Das Parteiensystem hatte sich damals durch das Erscheinen der Grünen zum Vierparteiensystem erweitert. Die FDP war mit ihrer Wende 1982 ins bürgerliche Lager gewechselt und hatte Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt. Das linke Lager bestand damit aus SPD und Grünen, das rechte, bürgerliche Lager aus CDU/CSU und FDP. Der Lagertheorie zufolge musste es darum gehen, Wählerstimmen der Mitte für das eigene Lager zu gewinnen, statt Stimmen innerhalb des eigenen Lagers zu verschieben, was ein Nullsummenspiel wäre.
Wir sehen hier ein Muster. Polarisierung dient letztlich dazu, die Mitte zu gewinnen und die Frontlinie von dort ins jeweils gegnerische Lager zu verschieben. Was heißt das nun für die gegenwärtige politische Situation? Bei der Bundestagswahl 2013 ist das Parteiensystem durch das Scheitern der FDP auf vier Parteien geschrumpft. Da auch die AfD nicht in den Bundestag einzog, sind nun drei linksautoritäre Parteien und eine Partei der Mitte im Parlament vertreten.
Diese Konstellation bildet das Wählerspektrum nur unvollkommen ab, zumal auch die Merkel-CDU stark sozialdemokratisiert erscheint und von den Wählern inzwischen als linke Partei wahrgenommen wird. Es gibt also im Bundestag ein Mitte-Links-Lager, das die Regierung stellt, und eine schwache linke Opposition. Die stärkere Opposition befindet sich außerhalb des Parlaments und nennt sich kongenial Alternative für Deutschland.
Diese Situation erklärt, dass wir momentan eine Lagerbildung zwischen Mitte-Links-Parlament einerseits und einer außerparlamentarischen Opposition andererseits sehen. Eine solche Situation gab es in der deutschen Nachkriegsdemokratie zuletzt 1968, damals allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Es regierte das Kabinett Kiesinger mit Willy Brandts SPD als Juniorpartner der ersten Großen Koalition. Die parlamentarische Opposition war schwach und bestand nur aus der damals noch rechtsliberalen FDP.
Die SPD konnte seinerzeit das linke Aufbegehren nicht aufnehmen, da sie selbst an einer Regierung mit deutlichen rechtsautoritären Anteilen beteiligt war. Im Unterschied zu heute war damals allerdings nur ein politischer Sektor unbesetzt, der linksliberale nämlich. Diese Lücke konnte die FDP mit ihrem ersten Wendemanöver hin zur linksliberalen Koalition im Jahr 1969 füllen. Es sollte dann noch ein Jahrzehnt bis zur Gründung der Grünen und damit zur vollständigen Integration der 68er ins parlamentarische System dauern.
Aus all dem folgt, dass wir 2017 mit hoher Wahrscheinlichkeit die Rückkehr der FDP in den Bundestag sehen werden. Sie müsste sich schon sehr dumm anstellen, um das brachliegende liberale Wählerpotential nicht wenigstens anzapfen zu können, sodass es für den Sprung über die Fünfprozenthürde reicht. Nun ist allerdings bei der FDP bekanntlich alles möglich, also auch ein erneutes Scheitern, was dann früher oder später zur Herausbildung einer neuen liberalen Partei führen dürfte.
Ebenso wahrscheinlich ist der Einzug der AfD in den Bundestag, sofern sie sich nicht bis dahin selbst zerlegen sollte. Das Resultat wäre ein Sechsparteiensystem, ein viertes Kabinett Merkel – sofern die Kanzlerin die laufende Legislaturperiode im Amt übersteht – und eine Fortsetzung der gegenwärtigen Koalition als der einzig möglichen Zweiparteienregierung. Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün sind unwahrscheinlich, wenn die AfD in den Bundestag kommt.
Für eine linksgrüne Dreierkoalition ist keine Mehrheit zu erwarten. SPD, Linke und Grüne haben sich im linksautoritären Politikfeld eingemauert und sind für Wähler der Mitte eher unattraktiv. Es wird also 2017 zwei Lager mit jeweils drei Parteien geben, doch koaliert wird weiterhin in der Mitte. Was mittelfristig eher zur Stärkung der Oppositionsparteien führen dürfte.
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