Bundestagspräsident Norbert Lammert hat ganz offensichtlich nicht vor, sich bei der zweiten Auflage der Leitkultur-Debatte mit dem Minimalkonsens zu bescheiden, es handele sich um den falschen Begriff für eine richtige Debatte. Im Interview der Woche des Deutschlandfunks spricht er wie folgt:
„Ich habe gar keinen Zweifel daran, dass es eine Reihe von Überzeugungen gibt, die breit geteilt werden, über die nur in einer Mischung aus Leichtsinn und Oberflächlichkeit am liebsten nicht geredet wird. Diese Gesellschaft vermeidet die Diskussion über das, was sie miteinander eigentlich verbindet.
Und anstelle einer solchen Verständigung finden dann solche Ersatzorientierungen statt – Ersatz jetzt gar nicht im negativen Wortsinne -, dass wir doch schließlich eine Verfassung hätten, die für alle gelte, und dass wir doch Gesetze hätten, die für alle richtig seien, und das müsse doch als geistiges Gerüst einer Gesellschaft reichen. Dies reicht als Gerüst eben nicht aus, weil jede historische Erfahrung und im übrigen auch die aktuelle Erfahrung in unserem Land uns zeigt, dass Verfassungen und Gesetze schon der Ausdruck zugrunde liegender Wertüberzeugungen sind.
Und wenn diese Wertüberzeugungen, warum auch immer, verloren gehen, werden diese Setzungen nicht Bestand haben. Und wir haben zu lange verdrängt, und offenkundig sind da in den vergangenen Jahren Einsichten wieder gewachsen, dass es eine Bereicherung und zugleich eine Herausforderung für eine Gesellschaft darstellt, wenn unterschiedliche kulturelle Traditionen und Erfahrungen miteinander konfrontiert werden, aber es ist eine treuherzige Beschreibung dieser Erfahrung, wenn man leugnen wollte, dass es kulturelle Differenzen gibt.
Und es wäre grob unredlich, zu bestreiten, dass solche kulturelle Differenzen auch praktische Bedeutung haben können. Der Anspruch beispielsweise auf Gleichberechtigung der Frau und der Anspruch auf Dominanz des Mannes, beides kulturell begründet, sind in ein und derselben Gesellschaft nicht zu haben. Der Anspruch auf Trennung von Staat und Kirche, von Religion und Politik, und der Anspruch auf unmittelbare Geltung göttlichen Rechts, auch im politischen und rechtlichen Handeln, jeweils kulturell begründet, sind in ein und derselben Gesellschaft nebeneinander nicht möglich.
Und wir haben zu viel Zeit mit der vielleicht gut gemeinten Illusion verloren, dies solle man am besten nicht einmal diskutieren, schon gar nicht klären. Und inzwischen ist immer deutlicher geworden, dass sich eine Gesellschaft diesen Klärungsbedarf nicht schenken kann.“