Man könnte meinen, der Religionsphilosoph René Girard habe mykath.de gelesen… Jedenfalls widerlegt er (im Interview mit der Zeit) gleich eine ganze Reihe dort verwendeter Standardargumente gegen Religion im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen. So grenzt er zunächst das Christentum gegen archaische Religionen ab:
Nach Christus können wir unschuldige Opfer nicht mehr töten wie zu Zeiten der archaischen Religion, jedenfalls einige von uns können das nicht. Ich würde sogar sagen: Der gesamte Geist unserer religiösen Kultur opponiert gegen das gewaltsame Opfer und eine vermeintlich heilige Gewalt. Wir suchen uns zwar immer noch Sündenböcke, aber wir missbilligen diese Praxis zutiefst. Dagegen beruhen archaische Religionen fundamental auf dem System des Sündenbocks – der Opferung Unschuldiger.
Islamische und andere Fundamentalisten interpretieren hingegen Girard zufolge ihre Religion (ob das richtig oder falsch ist, sei dahingestellt) als archaische Opferreligion und fallen damit hinter die Standards zurück, die das Christentum gesetzt hatte und die auch schon im alttestamentarischen Monotheismus angelegt waren. Girad:
Die biblische Tradition zeigt immer wieder Menschen, die denken, sie seien tugendhaft, aber in Wahrheit töten sie Unschuldige. Die Bibel, und diese Stellen empfinden wir ja immer noch als großartig, hat von Anfang an das Blutopfer sabotiert.
Die Bibel delegitimiert Gewalt – und das gilt gerade für von Christen und der Kirche ausgeübte Gewalt.
Die Gewalt, die wir ausüben, ist unsere Gewalt. Und von nichts anderem spricht das Christentum. Es entlastet uns nicht. Es spricht über die Ursünde der Gewalt und unsere gegenwärtigen Sünden. Natürlich scheitern wir immer wieder an der Gewalt, aber deshalb brauchen wir das Christentum ja. Das Christentum ist ein unvermeidliches Wagnis und ersetzt den Sündenbock der archaischen Religion. Es ist ein Ersatz des Ersatzes. […] Wenn das Christentum über eschatologische Dinge spricht, dann spricht es nicht über die Zerstörung der Welt durch Gott. Es spricht über die Zerstörung der Welt durch die Menschen selbst. Die Fundamentalisten haben für diesen gravierenden Unterschied keinen Sinn. Hinter ihren religiösen Begriffen denken sie immer noch in archaischen Kategorien.
Trotzdem wird der Monotheismus gern für die moderne Gewalt verantwortlich gemacht, während das Heidentum angeblich tolerant und friedfertig (gewesen) sein soll. Girard dazu:
Das Lob des Heidentums zeigt eigentlich nur, dass sich die Menschen dem Evangelium nicht aussetzen wollen oder ihm nicht gewachsen sind. Denn in gewisser Weise ist das Christentum eine extrem komplexe Religion. Auf den ersten Blick scheint es sich gar nicht so sehr von dem zu unterscheiden, was vorher war. Das Christentum kann als Opferreligion gelesen werden, und das war im Mittelalter durchaus der Fall. Inzwischen lesen wir das Christentum aber anders. Wir verstehen immer besser, dass es vor allem eines fordert – nämlich Frieden. […] Derjenige, der uns die eigene Gewalt vor Augen führt und enthüllt, sitzt plötzlich auf der Anklagebank. Unsere eigene Gewalt wehrt sich heftig gegen eine Religion, die es uns verbietet, Gewalt einzusetzen. Deshalb ist das Christentum der perfekte Sündenbock, und es hat sich ja selbst so bezeichnet. Auch Jesus war ein freiwilliger Sündenbock. Er hat uns eine Religion hinterlassen, die den Gewalt- und Opfermechanismus in unserem Zusammenleben bloßgelegt hat. Deshalb provoziert er die Menschen, die christliche Religion auf alle mögliche Art und Weise zu leugnen und zu Grabe zu tragen. Doch damit ruft man den Gott der Gewalt ein zweites Mal an, und das wäre dann wirklich der Weg in ein neues Heidentum. Aber vielleicht liegt darin auch eine tiefe Ironie. Denn wenn sich alle Welt gegen die Religion verbündet, dann wird die Menschheit vielleicht friedlich. Das wäre sozusagen der Gipfel der Humanität. Wir erfüllen die Botschaft des Christentums, indem wir es nach Kräften verleugnen.
Insbesondere unter europäischen Intellektuellen gehört die Kritik des Monotheismus heute offenbar zum guten Ton – auch gegen die Faktenlage.
Mir scheint, wir sind heute dabei, alle Übel dieser Welt den biblischen Religionen aufzubürden, und das tun wir ziemlich gut. Anstatt das Faktum anzuerkennen, dass Religion in erster Linie von der menschlichen Gewalt handelt, machen wir sie zum Sündenbock. So entlasten wir uns selbst. Wir vermeiden damit, der Wahrheit ins Auge blicken zu müssen – nämlich unserem eigenen Verhältnis zur Gewalt. Wenn das Christentum an allem schuld ist, dann müssen wir uns unsere heimliche Komplizenschaft mit der Gewalt nicht mehr eingestehen.
Ich möchte auf die Sendung des Bayerischen Rundfunks „Kritik am Opferglauben“(Bayern2Radio)am OSTERSONNTAG um 8.00 Uhr hinweisen. Er könnte eine gute Ergänzung zum blogg-Eintrag darstellen.
Dagmar Neuhäuser stellt den Literaturwissenschaftler und
Kulturanthropologen René Girard vor. Der gebürtige Franzose hat sich, ausgehend von antiken mythisch-religiösen Erzählungen, mit dem Opferglauben auseinandergesetzt, der auch in der Bibel zu finden ist. Angesichts des Kreuzestodes Jesu Christi aber kommt Girard zu dem Schluss, dass die Opfertheorie überwunden ist.
Danke für den Hinweis! Bayern2Radio kann man übrigens auch im Internet hören. Mehr zu Sendung steht hier.