Worum geht es bei der Freigabe der alten Messe?

Fragt Regina Einig in der Tagespost, und es antwortet der Präsident der Kommission Ecclesia Dei, Darío Kardinal Castrillón Hoyos:

Der Heilige Vater hat ein enormes Feingefühl für liturgische Spiritualität und möchte einen Schatz der Kirche erhalten – und zwar nicht fürs Museum, sondern als lebendiges Erbe für die Gemeinschaft, damit die Menschen, die ein Gespür für Tradition haben, in den Genuss dieses Reichtums kommen. Mich überrascht immer wieder, dass junge Menschen, die den alten Ritus zuvor nicht kannten, die Ruhe und das Mysterium der alten Messe entdecken. Es kommt darauf an, beide Riten nicht gegeneinander auszuspielen, sondern die Schönheit und Heiligkeit in beiden zu sehen.

Orationen, statistisch betrachtet

Wieviele Orationen aus dem Missale Romanum von, sagen wir, 1962 waren 1970 im neuen Messbuch noch enthalten? Fr. John T. Zuhlsdorf hat die Antwort:

I found a useful, if tendentious, booklet by Anthony Cekada, The Prayers of the Modern Mass (Rockford: TAN Books and Publishers, 1991). This is what Cekada claims (p. 9):

Above we quoted a statement from Father Guy Oury that the Missal of Paul VI contains three-quarters of the Missal of St. Pius V. Surely such a statement would be accurate if the revisers had – as advertised – merely “touched up” and “enriched” the orations here and there.

The statistics, however, tell a different story: The traditional Missal contains 1182 orations. About 760 of those were dropped entirely. Of the approximately 36% which remained, the revisers altered over half of them before introducing them into the new Missal. Thus, only some 17% of the orations from the old Missal made it untouched into the new Missal.

Even this paltry percentage may be greatly reduced. The first figure of 1182 orations reflects only individual texts in the traditional Missal – it does not take into account the many times these texts were repeated in toto in several different Masses celebrated at various points during the liturgical year.

However one may compute it, the bulk of the traditional orations simply disappeared under the revisers’ busy blue pencils. In terms of numbers and statistics alone, therefore, the contents of Paul VI’s Missal represent a radical break with the Church’s liturgical tradition.

Cekada calculated that “about 425 of the old orations were used in the 1970 Missal. Of those 425, approximately 225 were changed in some way, and approximately 200 were left untouched” (p. 34 n. 15).

Wer hat Angst vor der alten Messe?

Die römische Liturgie gleicht einem uralten, knorrigen Baum. Im Jahr meiner Geburt wurde dieser Baum radikal gestutzt. Man hat ihm einen Ast aufgepropft, der seitdem kräftig gewuchert ist. Heute mühen sich manche Gärtner, an sich bewährter liturgiereformerischer Praxis entsprechend, die schlimmsten Wucherungen zurückzuschneiden.

Aus dem zur Unterlage gestutzten Baum sprießten indes von Anfang an auch wilde Triebe vom alten Holz. Hier griffen viele Gärtner mit sehr viel größerer Strenge durch. Was motivierte zum kräftigen Rückschnitt? Ich vermute, es war und ist Angst: die Angst vor der alten Messe.

Paul VI. musste 1969 fürchten, dass das neue Messbuch sich nicht sofort und flächendeckend durchsetzen würde. Also setzte er selbst es durch. Bis heute treffen sich die Kritiker der „vorkonziliaren“ Liturgie in der Scheu vor dem Wettbewerb mit eben dieser „alten“ Messe. Warum?

Wäre das Messbuch von 1969/1970 über jeden Zweifel erhaben, dann müsste es den Wettbewerb nicht scheuen. Würde jeder, der die Wahl hat, ohne Zögern zum neuen Messbuch greifen, dann hätte die alte Messe gar keine Chance. Könnte die „nachkonziliare“ Messe in der freien liturgischen Wildbahn überleben, dann müsste sie nicht vor der alten Messe geschützt werden.

Eines der häufigsten Argumente gegen eine mögliche Koexistenz ist die Furcht vor dem Biritualismus. Doch mit diesem Argument, ich schrieb es bereits, lässt sich das praktisch flächendeckende Verbot der alten Messe nicht begründen. Denn handelte es sich bei der neuen Messe um einen anderen Ritus, dann fehlte ihm die Legitimation der Tradition. Das Biritualismus-Argument richtet sich in letzter Konsequenz gegen die neue Messe, nicht gegen die alte.

Pius V. verbot 1570, als er das Missale Romanum für die ganze römische Kirche vorschrieb, nur jene Messbücher, die jünger als 200 Jahre waren. Altehrwürdige Riten sollten in Gebrauch bleiben. Nur die ketzerischen Neuerungen der Reformationszeit und der Zeit davor lehnte er im Geist des Konzils von Trient ab. Und damals ging es nicht um die Neufassung des Messbuchs ein- und desselben Ritus, sondern um eine althergebrachte liturgische Vielfalt.

400 Jahre später sehen wir ein komplett anderes Bild. Die meisten anderen Riten, die Pius V. damals faktisch unter Schutz gestellt hatte, sind inzwischen fast völlig verschwunden. Und der römische Ritus selbst ist einer fast brachial zu nennenden Reform unterzogen worden, die um ihrer Durchsetzung willen zu verzweifelten Mitteln greifen muss.

Statt der früheren organischen Vielfalt traditioneller Riten hat seitdem innerhalb des einen, reformierten römischen Ritus eine kreative, selbstgemachte Vielfalt Platz gegriffen. Die einst unverfügbare, hergebrachte Liturgie ist zur Verfügungsmasse von Klerus und selbsternannten Liturgiegestaltern geworden. Ist die Angst vor der alten Messe etwa die Angst davor, ein liebgewonnenes Spielzeug hergeben zu müssen?

Womöglich ist diese Angst sogar begründet. Vielleicht bricht das Kartenhaus des liturgischen anything goes tatsächlich zusammen. Denn heute geht liturgisch alles – nur eines nicht: die Messe nach dem Missale von 1962.

Was eigentlich genau soll passieren, wenn diese Messe wieder überall möglich wird? Würde das Messbuch von 1969/1970 sofort zur Seite gelegt? Würden alle Priester nur noch die alte Messe lesen?

Die Messe Pauls VI. ist so alt wie ich. In ihrem 38. Jahr ist sie auch schon ein Stück Tradition geworden. Sie wird vermutlich nicht einfach wieder verschwinden, und warum sollte sie es auch? Das Messbuch von 1969/1970 ist bereits revidiert worden und wird auch künftig revidiert werden. Liturgische Bestimmungen kommen und gehen. Neue Priestergenerationen werden die neue Messe würdig feiern oder auch nicht. Die unwürdige Feier des heiligen Messe hat es zu allen Zeiten gegeben.

Die alte Messe würde im Falle einer Freigabe aus ihrer traditionalistischen Nische befreit, aber weiterhin ein Nischenphänomen bleiben. Wahrscheinlich jedoch, stärker noch als unter den heutigen Restriktionen, ein wachsendes. Denn es setzten bald demographische Effekte ein, die binnen einer Generation das Bild genau dort stark verändern würden, wo schrumpfende, vergreisende Gemeinden der Generation Messbuch 1969/1970 den wachsenden, jungen Gemeinden gegenüberstehen, die die traditionelle Messe feiern. Zum Beispiel in Frankreich.

Ist das so schlimm? Sollte die Kirche in Europa etwa besser ganz aussterben? Angst ist kein guter Ratgeber, und die Angst vor der eigenen Tradition erst recht nicht. Mehr als eine Generation nach der Einführung des Messbuchs Pauls VI. ist es höchste Zeit, ein unbefangenes Verhältnis zu dieser Tradition des römischen Ritus zurückzugewinnen.

Wer hat Angst vor der alten Messe?
Niemand.
Und wenn sie kommt?
Dann laufen wir.

Nur wohin – das ist die Frage.

Tagesgebete

Dominica V „per annum“ [zit. nach Missale Romanum 2002]

Collecta
Famíliam tuam, quǽsumus, Dómine,
contínua pietáte custódi,
ut, quæ in sola spe grátiæ cæléstis innítitur,
tua semper protectióne muniátur.
Per Dóminum.

Fr. John T. Zuhlsdorf schreibt dazu:

This Collect was in the pre-Conciliar 1962MR, the so-called “Tridentine” Missal, for the 5th Sunday after Epiphany. Let us see the Google… er um… ICEL version we will hear on Sunday in our parish churches and then immediately our slavishly literal WDTPRS version.

ICEL (1973 translation of the 1970MR):
Father,
watch over your family
and keep us safe in your care,
for all our hope is in you.

LITERAL TRANSLATION:
Guard your family, we beseech you, O Lord, with continual mercy,
so that that (family) which is propping itself up upon the sole hope of heavenly grace
may always be defended by your protection.

5. Sonntag im Jahreskreis [zit. nach Schott]

Oration
Gott, unser Vater,
wir sind dein Eigentum
und setzen unsere Hoffnung
allein auf deine Gnade.
Bleibe uns nahe in jeder Not und Gefahr
und schütze uns.
Darum bitten wir durch Jesus Christus.

Dominica in Septuagesima [zit. nach Missale Romanum ca. 1950]

Oratio.
Preces pópuli tui, quǽsumus,
Dómine, cleménter exáudi:
ut, qui juste pro peccátis nostris
afflígimur, pro tui nóminis glória
misericórditer liberémur. Per
Dóminum nostrum.

Problemanalyse

Alfred fragt:

Also, was ist in Kürze deine Problemanalyse?

Und: Worüber bist du erschrocken, was im letzten Jahrhundert geschehen ist?

Und wo bleibt von dir die Analyse über die Probleme des Gottesdienstes vor dem II. Vat.? Sonst hätte man doch die alte Messe nicht zu reformieren versucht, wäre alles in Ordnung gewesen.

ad 1.: Ich habe noch keine vollständige Problemanalyse, schon gar keine kurze. Im Oktober habe ich mit dem Versuch begonnen, die Liturgiereform nicht als eine ominöse Ereigniseinheit zu begreifen, sondern sie in (damals vier) verschiedene Aspekte zu gliedern. Ich musste lernen, dass diese Unterscheidungen nicht ausreichen. Derzeit sieht mein liturgiereformhistorisches Forschungsprogramm (wenn ich das mal so nennen darf) so aus.

ad 2.: Ich bin erschrocken über die zahllosen Details, die mir bis jetzt begegnet sind. Über die Rücksichtslosigkeit, mit der die Liturgiereformer dem Gegenstand ihrer Bemühungen gegenübertraten. Über die Wissenschaftsgläubigkeit, mit der sie das Missale Romanum auf den Seziertisch legten, in kleinste Einzelteile zerschnitten und das Puzzle nach ihrem eigenen Plan neu zusammensetzten. Über die Überheblichkeit gegenüber einer weit über 1.000 Jahre währenden liturgischen Tradition. Und vieles mehr.

ad 3.: Kommt Zeit, kommt Analyse. Erst einmal werde ich versuchen, mein Programm abzuarbeiten. Ich möchte zuerst verstehen, was überhaupt geschehen ist, wie es geschah und in welcher Reihenfolge die einzelnen Schritte unternommen wurden. Das Zweite Vaticanum stand ja keinesfalls am Anfang der Reformen, sondern war allenfalls ein Meilenstein in einem bereits andauernden Prozess. Wahrscheinlich wird es nötig sein, zu den Anfängen der liturgischen Bewegung im 19. Jahrhundert zurückzugehen. Ein traditionalistisch motivierter Aufsatz, auf den ich neulich schon einmal verwiesen hatte, spannt den Bogen noch weiter in die Vergangenheit. Und auch Georg wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die liturgische Krise im Westen kein Phänomen erst des XX. Jahrhunderts ist, sondern weit zurückreicht.

Deshalb tue ich mich schwer mit kurzen und schnellen Analysen. Und noch viel schwerer mit ebensolchen Lösungsvorschlägen. Keinen Zweifel habe ich allerdings, dass in der Tat endlich die Ächtung der bis 1970 gültigen Form von Liturgie aufhören muss. Wenn das geschehen ist, sind keineswegs alle Probleme gelöst. Aber erst dann ist überhaupt der Weg frei, ernsthaft an einer Lösung zu arbeiten.

Wie ein Krimi

So liest sich nach meinem ersten Eindruck ein Aufsatz [PDF] von Lauren Pristas („The Orations of the Vatican II Missal: Policies for Revision“), den ich in den Kommentaren des Shrine of the Holy Whapping gefunden habe.

Interessant: Auch dieser Aufsatz hat keine Antwort auf die Frage, warum um alles in der Welt das Missale von 1969/1970 die Oration (Collect) des ersten Sonntags im Advent durch eine, überdies textlich veränderte, Postcommunio der Adventszeit ersetzte. Selbst nach Bugninis Revisionsprinzipien lässt sich keine Begründung dafür finden, und das Quellenmaterial ist bemerkenswert dürftig für einen Vorgang, der gerade vierzig Jahre zurückliegt.

Die nämliche Oration ist selbstverständlich nur pars pro toto zu betrachten. Ich werde mal weiterlesen. Harter Stoff.

Tiraden

Fingo wirft Wertfragen auf:

Nicht nur ich, viele Leute, die ich persönlich oder über das Internet kennenlernte, haben durch den Neuen Ritus zum Glauben gefunden. Durch den gültig gefeierten Neuen Ritus. Ich bitte darum, das bei allen Haßtiraden auf die „Häresie der Formlosigkeit“ etc. pp. mal bitte zu beachten. Denn diese Art der Diskussion, die auch auf gewissen Blogs läuft, führt mich mehr vom Glauben weg, als es mich hinbringt.

Hasstiraden? Ich hoffe, dies hier ist keines dieser gewissen Blogs.

Kirchenumbau 2007

Fast ein Thema für Kirchenschwinden scheint mir, wie die Liebfrauenkirche meiner Heimatstadt seit Jahresanfang umgebaut wird. Es ist eine neoromanische Kirche mit Seitenschiff und Chorraum auf der hinteren Empore für das Gebet der dortigen Ordensschwestern. Geweiht wurde sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Georg Kardinal Kopp.

Im Zuge der Liturgiereform wurde die Kirche optisch ausgenüchtert. Statt des Hochaltars kam in die Apsis ein relativ schmuckloser steinerner Tischaltar, der sich leicht umschreiten ließ, zu dem hinauf aber nach wie vor einige Stufen führten.

Nun wird die Zelebrationsrichtung ein weiteres Mal geändert. Der neue Altar kommt in die Mitte des Kirchenschiffs in die Nähe des bisherigen Seiteneingangs, die Bänke werden mehr oder weniger kreisförmig oder halbkreisförmig um ihn herum angeordnet. Was mit der Apsis geschehen soll, weiß ich nicht.

Der Chorraum auf der Empore wird aufgegeben, dorthin kommt die Orgel, die bis dato auf der Empore über dem Seitenschiff stand. Die Schwestern werden ihr Chorgebet unten im Kirchenschiff halten, das dann kein Schiff im strengen Sinn mehr sein wird, sondern eher eine Arena.

Das Chorgebet soll dann – und das allerdings ist wirklich erfreulich – für die Ortsgemeinde geöffnet werden. Vielleicht fangen die Schwestern ja auch mal zu singen an.

Wenn der Umbau abgeschlossen ist und ich wieder an Ort und Stelle bin, werde ich die Kirche ansehen und anschließend berichten.

Quel coincidence!

Gestern war mein Probeheft der Zeitschrift Vatican („Schönheit und Drama der Weltkirche“) in der Post. Kann, wie mir von Scipio berichtet und durch eigene Erfahrung bestätigt, hier kostenlos bestellt werden.

Darin in der Reihe disputa ein Beitrag von Martin Mosebach („De liturgia recuperanda“), in dem er „erklärt, worum es wirklich geht“. So der Vorspann, der nicht zuviel verspricht.

Heute kam dann, ebenfalls auf Scipionische Empfehlung, Jonathan Robinsons Werk „The Mass and Modernity“.Kann also jetzt weniger schreiben, muss erst lesen.

Und schließlich in der Welt von morgen: Manifest zur Wiederzulassung der überlieferten lateinischen Messe samt Erklärstück von Paul Badde und Interview mit – na, wem wohl? – Martin Mosebach. Alles kommentiert und eingeordnet wieder bei Scipio.